Incubatio

Cyberpunk-Roman
(2016) 

„Ich mache es kurz – das Buch ist packend, gedankenvoll, rasant und witzig zugleich: ganz großes Kino!“ – Rezensent

Band Eins von Terranis

4,5 Sterne Bewertung 4,2 von 5

2082: Überfüllte Megacitys, allmächtige Konzerne, Cyberprothesen, genetische Optimierungen und virtuelle Realitäten.

In dieser Zeit gewaltigen technischen Fortschritts aber auch extremer sozialer Ungleichheit, bekämpft Major Devon Reeves einen Aufstand in Johannesburg und die immer wiederkehrenden Dämonen seiner Vergangenheit. Als er in London ein Attentat auf den Weltrat verhindert, wird er gemeinsam mit dem exzentrischen Detective Walker immer tiefer in den Sog einer globalen Verschwörung gezogen, bis die Grenzen zwischen Freund und Feind allmählich verschwimmen.

In Lower Chicago sucht die junge Hackerin Nyx unterdessen nach der geheimen Forschungseinrichtung, aus der sie als Kind geflohen ist. Mit Hilfe eines experimentellen Gehirnimplantats macht sie in der digitalen Welt Jagd auf die Verantwortlichen. Ihre Suche bleibt jedoch nicht lange unbemerkt …

Terranis – Der gesamte Zyklus

Christian Paul Autor Cyberpunk Roman Terranis 1 Buchcover Incubatio 200x309
Christian Paul Autor Cyberpunk Roman Terranis 2 Buchcover Expansum 200x309
Christian Paul Autor Cyberpunk Roman Terranis 3 Buchcover Mutatio 200x309
Christian Paul Autor Cyberpunk Roman Terranis 4 Buchcover Metamorphosis 200x309
Christian Paul Autor Cyberpunk Roman Terranis 5 Buchcover Homo Novus 200x309

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Kapitel 1 - 3 (Gesamter Text)

1 – Jenseits des Lebens

Kurz vor Johannesburg – Südafrika

Major Devon Reeves hasste Afrika. Nicht wegen des Ödlands, zu dem es verkommen war oder gar wegen seiner Menschen. Er hasste es weder für seinen Sand, der in jede noch so kleine Ritze kroch und ganze Städte unter sich begrub, noch für seine gleißende Hitze, die den gesamten Kontinent ausdörrte wie Feuerregen.
Er hasste Afrika für seinen größten Fehler.
Die Hitze schien die aufwändig um sein Gedächtnis errichtete Barriere allmählich zu schmelzen. Der Prozess hatte in dem Augenblick eingesetzt, als seine Stiefel den sandigen Boden des Kontinents berührt hatten. Jetzt, hunderte Meter über dem Sand, lösten sich große Bruchstücke aus verdrängten Erinnerungen an eine Zeit, als er noch kein Soldat unter dem Banner des Ratsheeres gewesen war, sondern bezahlter Söldner des privaten Sicherheitskonzerns Blackhammer.
Seit einem Monat war er wieder in der Gluthölle Afrika stationiert. Nur widerwillig war er auf diesen trostlosen Kontinent zurückgekehrt, in dem selbst der letzte Tropfen Hoffnung in der Hitze verdampft zu sein schien.
Wellen aus heißem Sand zogen unaufhaltsam über die endlosen Weiten und begruben alles auf ihrem Weg, nichts und niemand war vor ihnen sicher. Kolonnen verzweifelter Menschen versuchten, dem alles durchdringenden Sand und der Dürre zu entrinnen. Sie suchten nach Wasser oder Zuflucht in einer der großen Städte. Devon sah sie unter sich, dunkle Punkte inmitten einer goldenen Hölle. Viele von ihnen würden auf ihrem Weg umkommen, sie würden verdursten oder einfach vor Erschöpfung tot umfallen.
Der Anblick war derselbe wie vor dreizehn Jahren. Nichts hatte sich verändert außer der Uniform, in der er steckte. Hochauflösende Erinnerungen aus seiner Vergangenheit begannen seinen Blick zu überlagern, Bilder aus seinem Inneren verschmolzen mit der Realität. Jede noch so verschwommene Kontur dieser Gedächtnisbilder wurde durch das sengende Licht auf schmerzliche Weise scharf gezeichnet. Details, die er unter vielen Schichten aus Vergessen begraben geglaubt hatte, drangen wie Schweiß aus den Poren seines Gewissens.
Wie damals sah er die verzerrten Gesichter der Unschuldigen, die nicht der Wüste zum Opfer gefallen waren, sondern Gier, Feigheit und blindem Gehorsam. Mit den Erinnerungen kehrte auch die alte Schuld zurück. Er musste seine gesamte Willenskraft aufbieten, um die Barriere über diesem Teil seiner Vergangenheit neu zu errichten.
Er deaktivierte die Direktverbindung mit den Außenkameras des Kampfgleiters. Die Wüste verschwand vor seinen Augen und einen Sekundenbruchteil später befand er sich wieder in der engen, klimatisierten Kabine ihres Transporters.
Einen Augenblick lang hielt er inne und lauschte dem leisen Surren der Triebwerke. Er kühlte seinen Blick an der bläulichen Innenausstattung des Gleiters. Die toten Gesichter verblassten vor seinen Augen als hätte es sie niemals gegeben. Sie gehörten der Vergangenheit an und dort sollten sie auch bleiben. Jetzt hatte er das Kommando über eine gefährliche Rettungsaktion. Er durfte sich nicht ablenken lassen, musste weitermachen und die Mission erfüllen. Das alleine zählte. Niemand konnte die Vergangenheit verändern. Also verdrängte er die Erinnerungen wie üblich und konzentrierte sich auf das Kommende.
Die verfügbaren Informationen waren spärlich, das Zeitfenster äußerst knapp bemessen. Devon wusste nicht genau, was ihn und sein Team erwarten würde und diese Tatsache bereitete ihm Kopfzerbrechen. Es gab keinen Platz für Ablenkungen.
»Ankunft in zehn Minuten.«
Die Stimme des Piloten riss den Major endgültig aus seinem düsteren Grübeln. Er sah von seinen Stiefeln auf. Er blickte in das breite Gesicht von Corporal Morales, der ihm gegenüber saß und ihn neugierig beobachtete. Obwohl Devon groß und durch intensives Training kräftig gebaut war, wirkte er neben dem riesigen Mexikaner zwergenhaft.
Noch vor seiner Geburt hatte man Morales genetisch optimiert, damit er eine solche Körperstatur entwickeln konnte. Er war das Produkt der Wünsche seiner Eltern und einer Umgebung, in der körperliche Stärke von Vorteil war.
Das bullige Gesicht des Corporals lächelte. »Alles in Ordnung Major?«, fragte er, als ob er die Gedanken von Devon gelesen hätte. »Sie haben wieder diesen Blick.«
»Nur alte Erinnerungen.«
Er wollte die anderen seine Sorgen nicht spüren lassen und begann deshalb mit der finalen Überprüfung seiner Ausrüstung.
»Letzter Ausrüstungscheck.«
Ein präziser Gedanke aktivierte das neurale Interface seiner Implantate. Er spürte das feine Kribbeln im Kopf, als sich die einzelnen Module einschalteten, ein intensiver Datenaustausch mit seinen künstlichen Augen und dem ebenfalls künstlichen Gehör setzte ein. Das Blickfeld von Devon erweiterte und schärfte sich innerhalb eines Lidschlags so weit, dass er die Augen nicht länger bewegen musste, um Details am Rande seines Sichtfelds zu erkennen. Sein Neuroimplantat platzierte farbige Symbole und verschiedene Anzeigen in sein erweitertes Sichtfeld. Seine Vitalwerte und die seiner Kameraden leuchteten als Diagramme und Zahlenwerte auf. Es folgten der Zustand seiner Implantate und der Munitionsvorrat seines Wolve G2 Sturmgewehrs sowie seiner Wolve P1 Pistole. Obwohl diese High-Tech Prothesen schon seit Jahren Teil von Devon waren, fühlten sie sich immer noch fremd an.
Als alle Systeme voll einsatzbereit waren, tasteten seine Finger noch prüfend die einzelnen Ausrüstungstaschen ab. Anschließend blickte er auf und beobachtete, wie seine drei Kameraden denselben Standardablauf durchmachten.
Sergeant Lev Sayar, der israelische Scharfschütze, überprüfte eben sein beinahe mannshohes Gewehr. Da er unmittelbar neben Morales saß, wirkte er hagerer als er war. Doch was dem Mann an körperlicher Kraft fehlte, machte er mit tödlicher Präzision wieder wett. Wie üblich kaute er auf einem Zahnstocher herum. Als er den Blick von Devon auf sich spürte, sah er ihn aus zwei eisgrauen, leblos wirkenden Augenimplantaten an.
»Einsatzbereit, Major.«
Morales hielt nur seinen rechten Daumen hoch, was Devon mit einem Nicken zur Kenntnis nahm, ehe er sich zur Seite wandte. Ein kühler Blick empfing ihn, als er Anila Sethi ansah.
»Check abgeschlossen.«, sagte sie selbstsicher und lehnte sich zurück.
Die indischen Soldatin diente noch nicht lange unter seinem Kommando. Dennoch war sie eine seiner besten Soldaten. Devon betrachtete die Frau eine Weile von der Seite. Im matten Schein der Kabinenbeleuchtung hatte ihre hellbraune Haut einen bronzenen Farbton angenommen. Das schöne, symmetrische Gesicht mit den großen, dunklen Augen und den vollen Lippen wollte einfach nicht zum üblichen Bild einer Soldatin passen. Sie hätte Model oder ein Framestar werden können, doch sie war hier und kämpfte an ihrer Seite. Manchmal glaubte Devon, sie schämte sich für ihre Schönheit und wollte sie hinter ihrem stets strengen und abweisenden Blick verbergen. Sie war ein Rätsel, das er noch nicht entschlüsselt hatte.
Er wandte sich wieder ab.
»Ihr wisst, was uns erwartet.«, begann Devon und aktivierte einen dreidimensionalen Plan von Johannesburg, der als leuchtendes Hologramm zwischen ihnen erschien.
»Das Ariabuilding im Zentrum von Johannesburg ist unser Ziel.«, sagte er und fokussierte die Projektion auf ein einzelnes Bauwerk.
»Wir landen zusammen mit dem Transporter auf dem Dach und holen Ratsvorsitzende Sarah Colley gemeinsam mit den Politikern der Afrikanischen Union aus dem Gebäude. Danach verschwinden wir sofort. Möglichst kein Feindkontakt.«
Devon sah aus den Augenwinkeln, wie sich das Gesicht von Morales zu einer Grimasse verzog.
»Wir sollten jetzt da unten bei unseren Truppen sein und nicht irgendwelchen Politikern die Ärsche retten.«
»Wir haben unsere Befehle.«, sagte Devon und sein Blick alleine genügte, um den Corporal verstummen zu lassen.
Sie alle ahnten, dass Johannesburg bereits an die Aufständischen verloren war. Da der Kontakt abgerissen war, konnte niemand sagen, wie es wirklich um die eigenen Truppen stand. Aber alles sprach dafür, dass sie die Stadt verloren.
Im Sichtfeld von Devon war ein Countdown eingeblendet. Noch sechs Minuten bis zum Ziel. Der Flug wurde allmählich holpriger. Die Geräusche der Triebwerke drangen jetzt lautstark ins Innere des Gleiters vor.
»Wir nähern uns dem Sandsturm.«, bemerkte der Pilot.
Devon hörte die Stimme durch das Commmodul seiner Implantate so deutlich, als stünde der Mann unmittelbar neben ihm.
»Und vergesst nicht,«, begann er erneut, »wir gehen da blind rein. Ich erwarte volle Konzentration. Bleibt zusammen, keine Heldentaten. Ich will heute niemanden verlieren.«
Mehr gab es nicht zu sagen, jeder kannte die Missionsparameter. Devon war kein Mann der großen Worte oder langen Ansprachen. Alle unter seinem Kommando wussten, dass sie sich auf ihn und seine Befehle verlassen konnten. Sie vertrauten ihm und er vertraute ihnen, nur das zählte. Jeder, der unter ihm diente, wusste, dass er alles für seine Soldaten gab, doch im Gegenzug erwartete er Disziplin, hartes Training und Willenskraft. Wer damit nicht klar kam, musste sich einen anderen Trupp suchen.
Das Surren der Triebwerke intensivierte sich zunehmend. Obwohl der Gleiter extra für Sandstürme umgebaut worden war, war das Fliegen unter solchen Umständen äußerst gefährlich. Mangelnde Sicht und der Sand erschwerten trotz modernster Technik das Manövrieren. Außerdem litten die Aggregate unter den feinen Sandkörnern. Sie mussten den Auftrag also möglichst schnell zu Ende bringen.
Erneut legte sich Schweigen über das Team. Devon sah die gesenkten Häupter seiner Kameraden und konnte die allgemeine Anspannung beinahe greifen. Auch ihn beschlich bei dieser Mission ein unangenehmes Gefühl. Wenn alles gut ging, würden sie die Rettungsaktion blitzschnell durchführen und wieder verschwinden. Hatten sie hingegen weniger Glück, landeten Sie inmitten eines Hornissennests.
»Fünf Minuten bis zum …«, meldete der Pilot und unterbrach sich mitten im Satz. Dann fügte er überrascht hinzu. »Was ist …«
Eine Detonation erschütterte den Gleiter, ehe er den letzten Satz vollenden konnte. Devon wurde gegen seinen Sitz gepresst, als das Fluggerät einen Satz nach vorne machte.
»Was war das?«, rief Sayar, der seinen Zahnstocher verloren hatte.
Die Antwort folgte in Form eines waghalsigen Ausweichmanövers, das den vier Soldaten die Luft aus den Lungen presste.
»Zwei unbekannte Angreifer. Haben den Transporter verloren.«
Die Stimme des Piloten überschlug sich im Kopf von Devon. Der Transporter war verloren? Wie konnte das sein?
Die Beleuchtung im Inneren des Gleiters schaltete von einem neutralen Weiß auf ein unheilvolles Rot. Ehe Devon nachhaken konnte, vollführte der Pilot bereits ein weiteres, brutales Ausweichmanöver, das die Maschinen zum Kreischen brachte. Als die enormen Kräfte wieder von ihnen abgelassen hatten, klinkte sich Devon mithilfe des Neuroimplantats in die Außenkameras des Gleiters ein.
Zuerst sah er nur eine goldgelbe Sandschicht, da sie sich längst inmitten des Sandsturms befanden. Er wendete einige Filter an, um das Bild zu schärfen, und erkannte dann unter ihnen die niedrigen Bauten der Slums, die sich gleich Schachteln eng aneinanderreihten. Mehr als Konturen konnte er jedoch kaum erkennen. Sie waren auf dem Weg ins Zentrum, wo die Gebäude ständig höher wuchsen.
Es dauerte ein paar Sekunden bis Devon zwei schlanke, schwarze Gleiter inmitten des Sturms ausmachte, die mit enormem Tempo hinter ihnen herjagten. Der Pilot erwiderte unterdessen das Feuer aus den Heckgeschützen. Das Rattern der Gewehrsalven erfüllte den gesamten Innenraum des Fluggeräts.
»Sind es die Rebellen?«, fragte Morales, während er sein Gesicht im Kampf gegen die extremen Fliehkräfte zu einer angestrengten Grimasse verzog.
»Unmöglich.«, sagte Sethi. »Die können doch niemals an …«
Eine Salve traf den Gleiter und schnitt ihr den Satz ab.
Dumpfes Klirren war zu hören, als die Kugeln in die gepanzerte Außenhülle einschlugen. Doch noch hielt die Panzerung den Angriffen stand.
»Helme!«, befahl Devon und dachte an ein vorprogrammiertes Codewort. Sofort klappte der Helm aus dem Nackenbereich des Kampfanzugs und stülpte sich über seinen Kopf. Die optischen und akustischen Sensoren des Helms verbanden sich mit seinen High-Tech-Sinnesorganen und ermöglichten Devon so Hören und Sehen.
Kaum waren alle seinem Beispiel gefolgt, erbebte der Gleiter ein weiteres Mal. Devon und sein Team wurden hart gegen die Gurte gepresst, als das Fluggerät seitlich absackte.
»Triebwerk zwei getroffen.«, meldete der Pilot. »Festhalten!«
Das folgende Manöver ließ die überanstrengten Triebwerke aufkreischen. Devon hatte das Gefühl, jemand würde seine Organe neu arrangieren. Er biss die Zähne zusammen und spannte die Muskeln an. Es folgte ein lauter Knall von außerhalb des Gleiters.
»Einer weniger!«, verkündete der Pilot euphorisch.
Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, erschütterte die nächste Explosion den Gleiter. Ein direkter Treffer.
Devon verfolgte mit erschreckender Klarheit, wie die Detonation ein breites Loch in die Außenwand riss und den mächtigen Morales einfach zerfetzte. Von einem Augenblick auf den anderen existierte der kräftige Soldat nicht mehr. Devon benötigte eine Sekunde, bevor die Tatsache bis zu seinem Verstand vorgedrungen war und er wieder einigermaßen klar denken konnte.
Der Sitz des Scharfschützen war durch den Angriff beschädigt worden und hielt ihn nicht mehr richtig in seinem Griff. Verzweifelt klammerte sich Sayar mit seinen Händen fest.
»Nicht loslassen, Sergeant!«, rief Devon.
Er wollte sich gerade aus seinem eigenen Sitz befreien, um dem Scharfschützen zu helfen, als auch die letzten Halterungen rissen. Sergeant Sayar wurde mit seinem Sitz nach draußen gesaugt, gefolgt von einem schrillen Schreckensschrei. Im nächsten Augenblick hatte das Goldgelb des Sturms ihn verschluckt.
Devon spürte, wie sich der Sitz fester um ihn schlang. Noch immer starrte er auf das klaffende Loch in der Seitenwand des Gleiters, durch das Morales und Sayar verschwunden waren. Sand wirbelte in das Innere. Die Warnleuchten tauchten alles in rotes Licht.
»Triebwerk vier getroffen!«
Die Stimme des Piloten war panisch. Seine Professionalität war auf das Niveau des Selbsterhaltungstriebs herabgesunken. Er versuchte verzweifelt, den Verfolger abzuhängen, doch der Gleiter war bereits schwer beschädigt.
»Ich kann den Vogel nicht mehr lange oben halten. Ihr müsst sofort raus!«
Devon reagierte auf der Stelle und löste die Gurte an seinem Sitz.
»Lieutenant, Notausstieg!«, befahl er der indischen Soldatin.
Er packte die Haltestange an der Decke mit beiden Händen und kämpfte gegen die Kräfte an, die ihn aus dem Gleiter zu zerren drohten. Sand wirbelte in die Kabine und peitschte gegen die Außenkameras des Helms. Sethi stand inzwischen vor ihm und klammerte sich ebenfalls an die Stange. Von der Decke lösten sich vier Notausstiegsysteme, die wie Gewehre ohne Läufe aussahen.
Devon zuckte zusammen, als panzerbrechende Munition hinter ihm faustgroße Löcher in die Außenhülle stanzte.
»Raus, sofort!«, gellte die Stimme des Piloten.
Unter ihnen öffnete sich der Bauch des Gleiters und es flutete noch mehr Sand in das Innere. Devon konnte vage die Straßen von Johannesburg erkennen. Sie flogen also bereits ziemlich tief.
»Absprung!«, rief er und ließ sich eine Sekunde nach Sethi fallen.
Devon glaubte, sein Körper würde zerrissen, als er sprang. Irgendwo über ihm donnerte der feindliche Gleiter hinweg. Dann hörte er nur noch das Rauschen und Knistern der Urgewalten, die die Außenmikrofone seines Helms übertrugen. Er spürte die Leichtigkeit des Falls und seinen eigenen Herzschlag, der das Adrenalin durch seine Venen trieb. Devon konzentrierte sich auf die Anzeigen vor seinen Augen, die ihm die Distanz zum Boden anzeigten. Der Sturz dauerte nur wenige Sekunden, ehe er das Notlandesystem nach unten richtete und den Abzug betätigte. Rasend schnell kam die Straße näher und er schloss in Erwartung des tödlichen Aufpralls instinktiv seine Augen.

Lower Chicago – USA

Nyx machte es sich auf ihrem schmalen Bett mit den schmutzigen Laken bequem, die Zonebox an ihrer Seite. Ein Kabel führte von der Buchse hinter ihrem rechten Ohr zur Box und verband sie so mit dem Gerät.
Sie atmete noch einmal die abgestandene Luft ihrer Wohnung ein, ehe sie mit einem präzisen Gedanken das zuvor codierte Programm startete und die Box über ihr Neuroimplantat aktivierte. Ein leichtes Ziehen ging durch ihre Nervenenden, als das Gerät ihr Gehirn auf den kommenden Dive vorbereitete.
Wenige Sekunden später verblasste die Welt um Nyx herum. Die Box schälte ihren Verstand aus dem ruhenden Körper und beförderte ihn in einen materielosen Zwischenraum, in dem sie ohne körperliche Empfindungen war. Für einen Moment schien nur der reine Extrakt ihres Geists zu existieren, losgelöst von allen Wahrnehmungen und den physischen Grenzen der Stofflichkeit. Dieses unbeschreibliche Gefühl hielt jedoch nur kurz an, dann leitete die Box den Dive in die Zone ein.
Der Übergang war wie immer von einem heftigen Ansturm frischer Sinneseindrücke begleitet. Aber schon nach ein paar Sekunden waren die unangenehmen Nebenwirkungen verflogen und Nyx öffnete die Augen. Die Umgebung hatte sich komplett verändert.
Der vertraute Anblick ihrer Wohnung war einem menschenleeren Parkplatz gewichen, auf dem unterschiedliche Fahrzeuge aus allen Epochen der Menschheitsgeschichte parkten. Eine Sammlung der schönsten und exklusivsten Exemplare, von denen viele nur noch in den digitalen Framebibliotheken zu finden waren.
Doch nicht nur die Umgebung hatte sich verändert. Als Nyx den Blick ihren eigenen Körper entlang wandern ließ, war auch er nicht mehr derselbe. Ein scharlachrotes Kleid spannte sich über dem wohlproportionierten Körper und betonte dabei vor allem Brüste und Hüften. Die langen Beine endeten in roten High Heels, die Nyx noch ein Stück größer wirken ließen. Im harten Licht der Laternen schimmerte das Kleid, als würde es aus tausend Schuppen bestehen.
Nyx war jetzt Teil der Zone, einer perfekten, digitalen Simulation. Die Box an der Seite ihres realen Körpers gaukelte ihrem Verstand vor, in der realen Welt zu sein, während ihr Körper leblos auf dem Bett verblieb. Als Übersetzer diente das Schalenimplantat, das ihr Gehirn wie eine zusätzliche Haut umspannte.
Stunden zuvor hatte Nyx diesen Körper aus vielen ausgewählt und ihren Bedürfnissen angepasst.
Langsam folgte sie mit ihren Händen den Kurven ihres digitalen Avatars, um ein Gefühl für die fremde Körperlichkeit zu bekommen. Obwohl sie eine erfahrene Zonerin war, stellte diese jähe körperliche Veränderung immer wieder eine Herausforderung für ihre Sinne und Gefühle dar.
Ein lauwarmer Wind strich über den menschenleeren Parkplatz. Nyx war allein. Die Sonne war schon lange untergegangen und an diesem Ort auch noch nie aufgegangen. Eine Reihe von Straßenlaternen im Stil des neunzehnten Jahrhunderts tauchte die Umgebung in harte Schatten.
Nyx griff in die schwarze Handtasche und nahm eine Puderdose heraus, die sie aufklappte. Sie blickte in die leuchtend blauen Augen einer Fremden. Nichts an der Frau, die sie im Spiegelbild sah, war real. Nichts an ihr hatte Ähnlichkeit mit der wahren Nyx.
Dezentes Make-up betonte das makellose Gesicht. Der leuchtend rote Lippenstift machte die prallen Lippen zu einem attraktiven Blickfang. Wallendes schwarzes Haar rahmte das Gesicht ein. Die meisten Männer fanden diesen Typ Frau äußerst attraktiv, weshalb Nyx den Avatar gewählt und mit zufälligen Algorithmen gefüttert hatte, um ein unverwechselbares Erscheinungsbild zu erschaffen. Ihr selbst waren der Körper, das Gesicht und die Stimme vollkommen egal. Sie empfand keinerlei Neid oder Begeisterung während sie sich selbst einem letzten Check unterzog. Dieser Körper war Mittel zum Zweck wie ein Werkzeug oder eine Waffe, nichts weiter als eine temporäre Hülle in den Weiten des Frame.
Eine Weile zwang sie sich, in die fremden Augen zu sehen. Das übliche Gefühl der Panik wollte nach ihr greifen, doch sie war erfahren genug, dagegen anzukämpfen. Ihr Verstand versuchte die Tatsache zu verarbeiten, dass nicht das erwartete Bild im Spiegel erschien, sondern ein fremdes. Drohend schienen die hellblauen Augen den langen Blick von Nyx zu erwidern, bis sich ihr Herzschlag beruhigt hatte.
Als Nyx mit sich zufrieden war, wandte sie sich dem gewaltigen Herrenhaus zu, das das einzige begehbare Gebäude der Zone war. Der Rest war nur hübsches Beiwerk, das sich schließlich in unsichtbaren Mauern verlief, die gleichzeitig als Ränder der Zone dienten.
Nyx kannte diese Zone gut und nutzte sie gelegentlich für sichere Geschäfte. Der Server stand in einem Land, das es mit Gesetzen nicht allzu genau nahm, und war daher perfekt für geheime Treffen geeignet.
Als sich Nyx dem Eingang näherte, öffneten sich die beiden hölzernen Türflügel wie von Geisterhand.

Johannesburg – Südafrika

Devon benötigte einen Moment, ehe sein Verstand akzeptiert hatte, dass er noch am Leben war. Er lag in einer Masse aus Polymerschaum, die ihn wie eine Matratze aufgefangen hatte und sich bereits wieder auflöste. Devon warf das Notlandesystem weg und nahm das Gewehr vom Rücken.
Die Bildwandler seines optischen Implantats versuchten vergeblich, die schemenhafte Umgebung deutlicher zu zeichnen, indem sie die Kontrastwerte laufend anpassten. Doch der dichte Sandsturm verhinderte eine gute Sicht. Die Außenmikrofone übertrugen nur das Brüllen des Sturms und das schneidende Geräusch der aggressiven Sandkörner. Erst als sich die automatischen Filter aktivierten, dämpfte sich die Geräuschkulisse etwas.
Devon hatte sich noch kein Bild von der Situation machen können, als in der Nähe ein Donnerknall den Lärm des Sturms durchbrach und das Ende ihres Gleiters anzeigte.
»Nein.«, entkam es ihm.
Unbarmherzig malten die Implantate den Tod seiner drei Kameraden als blinkende Symbole in sein Sichtfeld. So nahm er kaum wahr, dass Sethi auftauchte.
»Alles in Ordnung, Major?«, fragte sie, das Gewehr im Anschlag.
»Ja.«
»Hier ist die Hölle los.«, stellte sie emotionslos fest.
Devon sah sich um. Die wenigen Meter Sichtfeld bestätigten ihre Einschätzung. Überall rannten vermummte Gestalten herum, stürmten Gebäude oder erschlugen Zivilisten, die keine Fluchtmöglichkeiten mehr hatten.
Devon und Sethi gingen hinter einem abgestellten Wagen mit zerbrochenen Scheiben in Deckung, damit sie nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zogen. Auch wenn sich die Bildwandler in seinen Augenprothesen alle Mühe gaben, die Umgebung erkennbarer darzustellen, war der Sandsturm doch ein großes Hindernis. Devon konnte nur wenige Meter weit sehen, bevor alles hinter einem goldgelben Vorhang verschwand. Schreie durchschnittem immer wieder das gefilterte Tosen des Sturms, doch Devon konnte sie niemandem zuordnen. Es war ein heilloses Durcheinander.
»Was jetzt, Major?«, fragte Sethi.
Devon hörte die Worte der indischen Soldatin wie durch einen Schleier. Morales und Sayar waren tot. Die Besatzung des Transportgleiters war tot. Der Pilot war tot. Nur Sethi und er waren noch übrig. Die Mission war gescheitert und sie befanden sich alleine inmitten eines Kriegsschauplatzes. Ein alter Drang zu fliehen und sich zu verstecken lähmte ihn für einen kurzen Moment.
»Major?«, fragte die Soldatin, als eine Antwort ausblieb.
Devon riss sich vom Bild seiner gefallenen Kameraden los und zwang sich, wieder klar zu denken. Er drängte seine Emotionen mit militärischer Gründlichkeit zurück und wurde wieder zu einem erfahrenen Soldaten und Anführer. Sie waren nach wie vor am Leben und das sollte auch so bleiben.
»Versuchen Sie, die Zentrale zu erreichen.«, befahl Devon und zielte auf eine Gruppe Aufständischer, die auf einen fliehenden Zivilisten einprügelten.
Einen Moment war er geneigt, sie alle zu erschießen, doch dann nahm er den Finger vom Abzug.
»Kein Kontakt, Major.«, sagte Sethi.
Damit hatte Devon bereits gerechnet.
»Störsender?«
»Mehrere Störquellen. Schwer zu orten.«
»Behalten Sie die Umgebung im Auge, ich brauche eine Minute.«
Sethi befolgte den Befehl wie immer ohne ihn zu hinterfragen und ohne sich zu beschweren. Nur wenn sie eine Mission durch einen Befehl in Gefahr glaubte, verschaffte sie sich üblicherweise Gehör.
Devon wusste, dass die Mission gescheitert war, aber eventuell konnten sie ihre Kameraden bei der Verteidigung des Ariabuildings unterstützen und die Zentrale von dort aus kontaktieren. Er studierte den Stadtplan, den seine Implantate ihm in das Sichtfeld projizierten. Sie waren unweit des Zielgebäudes heruntergekommen, nur ein paar Straßen entfernt.
Devon zeichnete einen Weg auf die Karte und markierte anschließend ein Gebäude in der unmittelbaren Nähe des Ariabuildings. Er übermittelte dem Neuroimplantat von Sethi den Plan mit der eingezeichneten Route.
»Wir werden diesen Weg nehmen und möglichst unauffällig zum Zielgebäude vorrücken. Vom gekennzeichneten Gebäude aus beobachten wir die Situation und klären die weitere Vorgehensweise.«
»Ja, Major.«

Der Sandsturm entpuppte sich als Verbündeter. Im Schutz der schlechten Sicht konnten sie größeren Ansammlungen von Aufständischen ausweichen, die plündernd und brandschatzend durch das Zentrum der Stadt zogen.
Als sie das markierte Gebäude erreicht hatten, schalteten sie mit militärischer Präzision einen Trupp von fünf schwer bewaffneten Rebellen aus. Gemeinsam brachten sie die Toten in ein kleines Café mit zersplitterten Scheiben. Der Sturm wehte Sand hinein und bedeckte alles mit einer feinen Goldschicht.
Nachdem sie alle Toten versteckt hatten, wandte sich Devon an Sethi. »Wir müssen davon ausgehen, dass unsere Truppen vollständig aufgerieben worden sind. Wir stehen alleine da.«
»Ich stimme Ihnen zu. Es gibt keine Anzeichen von Gegenwehr.«
Devon spürte eisige Finger über seinen Rücken huschen, als er die kühle Analyse der indischen Soldatin hörte.
»Ihre Einschätzung, Lieutenant!«, befahl Devon.
»Auch wenn sich die Missionsparameter geändert haben, unser Auftrag ist nach wie vor derselbe.«
»Auch wenn die Chancen gleich Null sind?«, fragte Devon, um ihre Reaktion zu beurteilen. Eine Situation wie diese konnte auch die Moral von Elitesoldaten brechen und er musste sich auf seine Kameradin verlassen können, ehe er seine Befehle gab.
Sie antwortete mit überraschend ruhiger Stimme. »Meiner Einschätzung nach werden die Rebellen der Vorsitzenden vorerst nichts anhaben, da sie zu wichtig ist. Es ist unsere Pflicht, alles in unserer Macht Stehende zu unternehmen, um sie zu befreien oder zumindest die Zentrale zu kontaktieren. Für derartige Situationen wurden wir ausgebildet.«
Trotz des Helms fühlte Devon ihren Blick auf sich ruhen. Er fragte sich, was im Kopf dieser Frau vor sich ging. War sie nur äußerst beherrscht oder wirklich so eiskalt?
»Major?«, fragte sie, während sich in seinem Kopf eine Idee formte.
»Lieutenant, welche Kleidergröße haben Sie?«, fragte er.
»Wie bitte?« Das erste Mal schwang Überraschung in ihrer Stimme mit.
Devon zerrte an einem Toten. »Ich habe da eine Idee.«

Ausgerüstet mit Waffen und Kleidern toter Rebellen steuerten Sethi und Devon auf das Ariabuilding zu, über dem immer noch der Sandsturm brüllend tobte.
Vor dem modernen Gebäude hatte sich eine weite Gartenanlage befunden, die durch die Kämpfe komplett zerstört worden war. Jetzt parkten dort kreuz und quer umgebaute Militärfahrzeuge. Ausgebrannte Panzer und Mechs zeugten vom Ende der Ratstruppen. Rund um das Gebäude warteten Rebellen auf neue Befehle. Der Sandsturm schien für sie kaum mehr als eine Wetterkapriole zu sein.
Das Zentrum der Stadt und zugleich Sitz der wenigen Reichen und Schönen war gefallen. Das Ratsheer war geschlagen. In Johannesburg regierten jetzt die Rebellen.
Nach dieser Nacht würde nichts mehr sein wie vorher und niemand konnte daran etwas ändern. Unzählige Leben waren verloren. Nur zwei verkleidete Soldaten bewegten sich langsam auf den Eingang des Ariabuildings zu, in der Hoffnung eine aussichtslose Mission zu Ende zu bringen.
Devon spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte und zwang sich zur Ruhe. Das intensive Training und die vielen Kampfeinsätze hatten ihn im Umgang mit schwierigen Situationen geschult. Die Angst sickerte in kleinen Dosen in sein Bewusstsein, gerade genug, um seine Sinne zu schärfen. Ungehindert passierten Devon und Sethi namenlose Gesichter, hinter Masken und Schutzbrillen geschützt. Mit ihren Verkleidungen waren sie jetzt selbst Rebellen, unauffällig unter ihresgleichen. Hier gab es nirgends ID-Scanner, Detektoren oder Sensoren. Die Menschen waren nur ausgestattet mit Verzweiflung und Kampfesmut. Frauen und Männer, die nichts mehr zu verlieren hatten. Und dennoch waren sie extrem gut bewaffnet. Zu gut für Devons Geschmack.
Unauffällig aber zielstrebig näherten sie sich dem Zielgebäude, bis sie endlich den Eingangsbereich ausmachen konnten. Zu ihrer Erleichterung gingen immer wieder Aufständische ein und aus, Kontrollen schien es keine zu geben.
Devon hob den Kopf und spähte zur Spitze des Gebäudes, die im Goldgelb des Sturms nicht auszumachen war. Für einen Moment glaubte er, etwas Dunkles in der wabernden Masse zu erkennen, einen Gleiter vielleicht.
Ohne Probleme erreichten Sie die Treppen zum Ariabuilding. Rebellen waren gerade dabei, Leichen von getöteten Ratssoldaten wegzubringen. Sie schleiften die Toten wie Müllsäcke hinter sich her und warfen sie dann auf einen ständig wachsenden Haufen. Der Anblick erfüllte Devon mit Zorn. Er musste den Impuls unterdrücken, die Waffe zu ziehen und jeden einzelnen zu erschießen, der sich in der Nähe aufhielt. Doch es war zu spät, er konnte nichts mehr für seine gefallenen Kameraden tun. Der kalt berechnende Verstand des Majors überdeckte den menschlichen Kern seines Bewusstseins und ließ ihn weitergehen. Trotzdem fragte er sich, ob Sethi ähnliche Gefühle verspürte. Er schüttelte den Gedanken ab. Vermutlich überlegte sie nur, wie sie ihre Mission trotz der gegebenen Situation erfolgreich abschließen konnten.
Endlich betraten sie das Ariabuilding. Der Eingangsbereich war verwüstet, die Wände durchlöchert und in Blut getränkt. Devon und Sethi mussten ausweichen, als zwei Männer einen Leichnam nach draußen trugen. Unter den Rebellen schien gute Laune zu herrschen, immerhin hatten sie die Schlacht gewonnen, ihre Ziele erreicht. Für sie war es ein großer Sieg in einem umkämpften, zerrütteten Land, das allmählich von Sand, Ausbeutung und Korruption verschluckt wurde.
Devon deutete zur Aufzugsanlage. Als Techoffizierin konnte es für Sethi kein Problem sein, einen Lift zu kapern. Sie gelangten ohne Schwierigkeiten zu den Fahrstühlen, von denen es sechs gab, und warteten darauf, dass einer herunterkam. Plötzlich tauchte ein Aufständischer neben ihnen auf und redete in seiner Heimatsprache auf sie ein. Sofort aktivierte sich das Übersetzungsmodul in Devons Neuroimplantat und machte seine Worte verständlich.
»Das war vielleicht ein Kampf. Wart ihr bei dem Sturm dabei?«
Der dunkelhäutige Mann sah sie erwartungsvoll an. Ein vom Restadrenalin der Schlacht gezeichnetes Grinsen hing ihm im Gesicht. Devon wandte sich ihm kurz zu und nickte.
»Habt ihr Crow schon gesehen?«, fragte der Rebell. »Er soll sich angeblich im Gebäude aufhalten.«
Devon schüttelte den Kopf.
»Hey, zu welcher Gruppe gehört ihr?«
Devon beobachtete mit steigender Nervosität den Countdown der Stockwerksanzeige, als der Fahrstuhl langsam herunter kam. Als er und Sethi nach einer Weile immer noch nicht antworteten, erlosch das Grinsen des Rebellen. Der Aufzug war noch vier Stockwerke entfernt, als sich sein Gesichtsausdruck in Misstrauen verwandelte.

Zone: Das Pain

Ein bulliger Mann im schwarzen Anzug erwartete Nyx im Eingangsbereich des Herrenhauses.
»Willkommen im Pain, Madame.«, begrüßte er sie höflich.
»Ich wünsche einen wunderschönen Abend.«, sagte sie und zauberte ein verführerisches Lächeln auf ihre virtuellen Lippen.
Der Türsteher warf einen Blick auf das gläserne Datapad in seiner Hand, auf dem sich ein farbiger Informationsfluss bewegte. Geduldig wartete Nyx die Überprüfung ab.
»Sie sind sauber, viel Vergnügen im Pain.«
»Vielen Dank.«, sagte Nyx und betrat den riesigen Hauptsaal des alten Herrenhauses.
Der rückwärtige Teil bestand aus einer großen, halbkreisförmigen Bühne, auf der sich mehrere menschliche Leiber im ekstatischen Takt der Lust bewegten. Davor saßen unzählige Gäste und verfolgten das Schauspiel.
Aus den Augenwinkeln sah Nyx, wie sich zwei Männer auf der Bühne brutal an einer Frau vergingen. Zu zweit drangen sie mit aller Härte in sie ein, als wäre sie nur ein Stück Fleisch, das sie bearbeiteten. Ihre Schreie waren eine grelle Melange aus Schmerz und Lust. Nyx überflog den bunten Reigen aus Zuschauern, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Von fein gekleideten Avataren über halb nackte Barbaren bis zu engelsgleichen Erscheinungen war alles vertreten. Niemand störte sich am Stil des anderen. In einer Zone war alles erlaubt, was den Regeln des Hosts entsprach, der den Auftritt online gestellt hatte. Und dieser hier war besonders auf Authentizität bedacht, weswegen nur menschliche Avatare erlaubt waren.
Nyx verfolgte leidenschaftslos, wie Blut auf der Bühne floss. Während sich die schwere Hintergrundmusik mit den schmerzgeschwängerten Lustschreien zu einer eigenen Symphonie verband, sorgten einige Gäste untereinander ganz offen für ihre sexuelle Erleichterung.
Schmerz, Lust, Leid und Befriedigung gingen im Pain Hand in Hand. Alle Empfindungen waren auf normale Werte eingestellt. Für die Menschen hinter den virtuellen Avataren war es ein reales Empfinden wie in der wirklichen Welt, nur ohne die Einschränkungen ihrer eigenen Körper.
Als Nyx keine besonderen Auffälligkeiten entdeckte, setzte sie sich an die Bar. Im Hintergrund feierten die Gäste die Zurschaustellung von Gewalt und Sex an. Der Geruch von verschwitzten Leibern und Körperflüssigkeiten vermengte sich mit den Aromen unterschiedlicher Spirituosen. Die dunkle Einrichtung und das gedämpfte Licht gaben dem Pain zusätzlich eine bedrohliche Atmosphäre, obwohl niemand wirklich in Gefahr war.
»Was darf es denn sein?«, fragte der Barmann, dessen Avatar nach dem passenden Klischee geschaffen worden war.
Im Pain waren sogar einfache Rollen wie die des Barmanns durch Menschen besetzt, die sonst oftmals von KI’s übernommen wurden, künstlichen Programmen mit programmierter Intelligenz.
»Den Drink des Hauses.«, sagte Nyx und blickte auf ihre Uhr. In fünf Minuten sollte ihre Kontaktperson eintreffen.
Nyx nahm den Drink dankend entgegen und nippte gedankenverloren am Glas. Wie immer war der Geschmack scharf, richtiggehend schmerzhaft. Die Zeit verstrich langsam, während Gäste kamen und gingen. Ihre Kontaktperson war nicht unter ihnen und Nyx wurde mit jeder Minute nervöser. Sie leerte das fast schwarze Getränk und lenkte sich mit der blutigen Vorstellung auf der Bühne ab, die einen neuen Höhepunkt erreicht hatte. Während ein nackter Mann mit Ketten gefesselt und geknebelt auf dem Rücken lag, leckte eine üppig ausgestattete Frau seinen Penis, als ob sie ein lebensspendendes Elixier aus ihm saugen wollte. Eine zweite Frau schnitt unterdessen mit einem Messer feine Muster in die Haut des Gequälten. Der Schmerz ließ ihn zusammenzucken.
»Hey, schöne Frau, nehmen wir uns ein Zimmer?«
Nyx wandte sich von der Bühnenshow ab und erblickte eine dunkelhäutige Schönheit, deren Lippen zu einem erwartungsvollen Lächeln geformt waren.
»Tut mir leid, ich erwarte jemanden.«, sagte Nyx.
Wenn sie enttäuscht war, ließ sie es sich nicht anmerken.
»Schade, wenn du es dir anders überlegst, mein Name ist Narai.«, sagte sie. »Ich bin noch eine Weile hier.«
»Alles klar.«, sagte Nyx und drehte das leere Glas zwischen ihren Fingern.
Die Frau verschwand mit sparsamen Bewegungen.
Wieder blickte Nyx auf die goldene Armbanduhr auf ihrem Handgelenk. Die Kontaktperson sollte jeden Moment auftauchen. Die Sekunden verstrichen quälend langsam, während sie an ihren rot bemalten Fingernägeln kaute. Als sie die unangenehme Angewohnheit bemerkte, nahm sie ruckartig die Hand von den Lippen und ergriff wieder das filigrane Glas.
Immer wieder sah sie in Richtung Eingang. Sie wusste zwar nicht, wie der Mann aussah, den sie hier treffen sollte, aber er würde sie finden.
Drei Minuten nach der vereinbarten Zeit verwandelte sich ihre Nervosität in wütende Verunsicherung. Sie überlegte bereits zu verschwinden, zwang sich dann aber zu etwas mehr Geduld.
Schließlich trat ein weiterer Gast ein. Nyx musterte den Neuankömmling aufmerksam. Der unscheinbare Mann war in schlichter Bekleidung erschienen. Er trug Jeans, ein weißes Hemd und darüber eine braune Jacke. Sie erkannte sofort, dass es sein erster Besuch im Pain war, denn er sondierte die Lage mit sichtlicher Nervosität.
Schon bald spürte sie seinen forschenden Blick auf sich und hielt ihnen mit einem sanften Lächeln stand. Nachdem der Türsteher seine Überprüfung beendet hatte, begab sich der Mann ohne Umwege zu Nyx und setzte sich auf den Hocker neben ihr.
»Der Code ist furchtbar schlecht geschrieben.«, sagte er und verbarg sein Gesicht vor ihren Augen.
»Aber er ist sehr effektiv.«, antwortete Nyx zufrieden.
Als der Barmann den Neuankömmling nach einem Drink fragte, zuckte er zusammen.
»Zweimal Pain bitte.«, sagte Nyx an seiner Stelle und nahm ihm damit die Entscheidung ab.
»Gerne.«, antwortete der Barmann und mixte die Drinks.
Nyx konzentrierte sich wieder auf den Mann, der noch immer mit seiner Anspannung kämpfte. Als er Schmerzensschreie hinter sich hörte, wandte er sich blitzschnell um und starrte ungläubig zu dem Schauspiel auf der Bühne.
»Ist wohl nichts für Sie, wie?«, fragte Nyx und rührte mit dem Schirmchen in ihrem Glas.
»Gott, nein.«, sagte der Kontaktmann, ohne die Augen von der Bühne zu nehmen.
»Loyd!«, sagte sie und riss den Mann von dem Anblick los.
»Entschuldigen Sie.«
»Das Pain führt keinerlei Logs oder sonstige Aufzeichnungen.«, versprach Nyx. »Die Server arbeiten mit einer 1028 Bit KSX Verschlüsselung und befinden sich mehr oder weniger im rechtsfreien Raum. Absolute Anonymität garantiert.«
»Sehr beruhigend.«, spottete Loyd und musterte Nyx ungeniert. »Sie sind also Aileen.«
Ihren Namen dehnte er absichtlich. Nyx nickte.
»Ich nehme an, das ist weder Ihr realer Name noch ihr reales Aussehen.«
»Sie nehmen richtig an, Lyod.«, sagte Nyx und lächelte wissend. »Und Sie haben sich wohl für den unauffälligsten Avatar entschieden, den Sie finden konnten.«
»Ja. Ich dachte …«, begann Loyd, wurde aber gleich von Nyx unterbrochen.
»Und fallen damit hier am deutlichsten auf.«
Mit einem Schlag wirkte der Mann noch aufgekratzter als zuvor.
»Hier sind Sie sicher, entspannen Sie sich.«
»Ich soll mich entspannen?«, fragte Loyd und grinste schief. »Sie haben mein Leben auf Eis gelegt und mich an diesen … Ort gezwungen. Was blieb mir denn anderes übrig, als zu kommen?«
»Es war der einzige Weg, Sie hierher zu bekommen.«, erwiderte Nyx mit marmorner Miene.
Im Blick von Loyd lag einen Augenblick lang Feindseligkeit, doch dann beugte er sich seufzend über sein Glas.
»Was wollen Sie?«, fragte er.
»Das wissen Sie ganz genau!«, sagte Nyx ungerührt und fixierte ihn mit ihrem Blick.
Loyd strich über den Dreitagesbart seines Avatars, als würde es ihm beim Nachdenken helfen. Nyx erkannte eine reale Angewohnheit sofort, wenn sie sie sah. Man konnte zwar seinen Körper zurücklassen, nicht aber seine Marotten.
»Muss ich Sie daran erinnern, was passiert, wenn Sie mir diese Informationen verweigern?«, fragte Nyx und ihr Ton war hart. »Dann wird Ihr Leben nicht nur auf Eis liegen, sondern in Scherben.«
Loyd schluckte schwer und machte ein finsteres Gesicht. Doch Nyx fügte ihrer Drohung noch ein paar weitere Details hinzu.
»Wenn ich mit Ihnen fertig bin, werden Kristen und die Mädchen sich wünschen, Sie nie gekannt zu haben. Ich werde Ihnen jeden Credit wegnehmen und ihr Leben komplett crashen. Am Ende wird sich niemand mehr an einen Loyd Carr erinnern wollen.«
Loyd hob abwehrend die Hände.
»Nein, nein, warten Sie!«
»Schon besser.«, sagte Nyx. »Und jetzt reden Sie endlich!«
Der Mann strich sich seufzend über das Gesicht. Nyx entging nicht, dass seine Hände zitterten.
»Scheiße.«, entkam es ihm. Dann nahm er einen Schluck vom Drink des Hauses. Sein Gesicht verzerrte sich, als ob er Batteriesäure getrunken hätte, was dem Geschmack auch recht nahe kam. Dann sah er Nyx mit einem veränderten Ausdruck in den Augen an.
»Sie wissen nicht, mit wem Sie es zu tun haben.«, begann Loyd und seine Stimme hatte etwas Unheilvolles. »Diese Leute sind gefährlich und wir reden hier nicht von einer beliebigen Verbrecherbande oder der Mafia. Wer auch immer die sind, die haben sowohl die Mittel als auch die Macht, jeden verschwinden zu lassen. Allein, dass ich hier sitze und darüber nachdenke, mit Ihnen über Hort 33 zu sprechen, bringt mich bereits in große Gefahr.«
»Lassen Sie diese Ausflüchte, ich bin nicht hier, um mir Gruselgeschichten anzuhören.«, sagte sie. »Was wissen Sie über Hort 33? Ich will jedes noch so kleine Detail!«
»Na gut, wie Sie wollen.«, sagte Loyd und machte einen unglücklichen Eindruck. »Aber Sie wissen bereits, dass ich dort nur die Anlage gereinigt habe.«
»Reden Sie endlich!«, fauchte ihn Nyx mit heller Glut in den Augen an.
»Schon gut, schon gut.«, sagte Loyd und machte eine beschwichtigende Geste. »Hort 33 war ein Komplex, der nach außen hin als einfacher Firmensitz getarnt war. Doch im Inneren war er viel mehr als das. Es war eine riesige Anlage, in der Kinder gehalten wurden.«
»Was wissen Sie über diese Kinder?«, fragte Nyx.
»So gut wie gar nichts.«, erklärte Loyd. »Wir trafen nur sehr selten auf sie und wenn doch, dann nur für einen Augenblick. Während wir unsere Arbeit machten, waren sie stets woanders. Auf jeden Fall waren sie jung. Nur einmal sind eine Kollegin und ich auf ein Mädchen getroffen, das sich in einem Lüftungsschacht versteckt hatte.«
Eine alte Erinnerung löste sich und schoss Nyx durch den Kopf, doch sie reagierte nicht darauf.
»Sie machte einen kranken Eindruck.«, fuhr Loyd fort. »Ihr Gesicht war fast grau und eingefallen. Um ihren Kopf trug sie einen dicken Verband, Haare schien sie keine zu haben. Sie war verzweifelt und flehte uns an, ihr zu helfen.«
»Was Sie nicht getan haben.«, antwortete Nyx vorwurfsvoll.
»Christy wollte, aber ich erinnerte sie daran, dass uns das nichts anging.«, wehrte Loyd ab. »Wir hätten ohnehin nichts für sie tun können. Wir gehörten nur zum Reinigungspersonal.«
»Was ist aus den Kindern geworden?«, wollte Nyx wissen und ihr Groll gegen den Mann wuchs rasch.
»Ich habe keine Ahnung.«, gestand Loyd. »Man hat uns ja nichts gesagt. Es muss aber irgend einen Vorfall gegeben haben, denn vor einigen Jahren machten Sie Hort 33 unerwartet dicht.«
Wieder legte sich eine Erinnerung in Nyx frei. Doch ehe sie sich gänzlich öffnen konnte, schüttelte Nyx sie wieder ab.
»Von einem Tag auf den anderen wurde der Hort geschlossen.«, fuhr Loyd fort. »Wir bekamen eine großzügige Abfindung und hörten nie wieder etwas von unseren Arbeitgebern.«
»Wo haben sie die Kinder hingebracht?«, fragte Nyx.
Loyd sah ihr in die Augen und runzelte die Stirn.
»Das weiß ich doch nicht.«, sagte er. »Ich habe doch bereits gesagt, dass wir nichts mehr von unseren Arbeitgebern gehört haben. Wir waren nur eine kleine Gruppe von Reinigungskräften.«
»Wie war der Name Ihres Arbeitgebers?«
»Moore Electrics.«
»Hatten Sie sonst zu irgendwelchen Leuten im Hort Kontakt?«
Loyd schüttelte den Kopf.
»Das hat alles unser Boss geregelt. Der hat sich um die Verträge und die Beschaffung von Jobs gekümmert. Wir haben nur die Arbeit gemacht.«
»Irgendwelche Namen?«, fragte Nyx.
Loyd seufzte und machte ein müdes Gesicht.
»Nein. Man hat uns vor Jobantritt nahe gelegt, zur Vermeidung rechtlicher Konsequenzen die Klappe zu halten, mit niemandem zu sprechen und uns in nichts einzumischen. Wir mussten eine Verschwiegenheitserklärung unterschreiben. Aber da die Bezahlung gut war, hielten wir ohnehin gerne die Klappe.«
Nyx wurde immer wütender. Sie hatte viel riskiert für dieses Treffen und nun stellte sich heraus, dass Loyd kaum Informationen besaß.
»Wissen Sie eigentlich irgend etwas?«, fuhr Nyx den Mann an.
»Nur, dass diese Leute gefährlich sind.«, entgegnete Loyd.
»Und wie kommen Sie zu dieser Annahme?«
Loyd schloss die Augen für einen Moment. Als er sie wieder öffnete, wirkte sein Blick bleischwer.
»Als Christy und ich auf das Mädchen getroffen sind, habe ich das sofort gemeldet.«
Nyx biss die Zähne so fest aufeinander, dass es schmerzte, als sie das hörte. Am liebsten hätte sie dem Mann auf der Stelle die digitale Nase gebrochen, aber sie hielt sich zurück.
»Und?«
»Man brachte uns in ein Büro, bedankte sich höflich und gab uns dann den Wink, den Vorfall besser schnell zu vergessen.«
»Sie haben Ihnen gedroht.«
»Mehr oder weniger.«, sagte Loyd »Sie kamen mit der Verschwiegenheitserklärung und rechtlichen Schritten. Das ganze Blabla.«
»Das war alles?«
Der Gesichtsausdruck von Loyd veränderte sich jäh. Trotz des Avatars konnte er die starken Emotionen nicht verbergen, die sich plötzlich in seinen Zügen widerspiegelten.
»Nein.«, sagte er kopfschüttelnd. »Christy ließ nicht locker. Sie war eine gute Seele, was ihr am Ende zum Verhängnis wurde.«
»Was ist geschehen?«
»Sie wollte mich davon überzeugen, dass wir etwas unternehmen oder etwas sagen müssten.«, erzählte Loyd. »Das Mädchen ließ sie nicht mehr los. Ich sagte ihr, sie solle es vergessen, schließlich ging es uns nichts an.«
»Feigling.«, entkam es Nyx.
»Dann wäre es mir so ergangen wie Christy!«, antwortete Loyd im selben Ton. Einen Moment lang bohrten sich ihre Blicke ineinander, bevor Loyd die Schultern senkte.
»Sie muss zur Polizei gegangen sein.«, mutmaßte er. »Ich weiß nicht genau, was wirklich geschehen ist. Aber plötzlich gab es keine Christy mehr.«
»Wie meinen Sie das?«
»Sie ist einfach verschwunden.«
»Verschwunden?«, fragte Nyx ungläubig. »Ist sie tot?«
»Nein, verschwunden.«, gab Loyd zurück. »Als ob es sie nie gegeben hätte. Eines Tages bekam ich einfach eine neue Partnerin zugewiesen. Als ich nach Christy fragte, teilte man mir mit, dass man keine Christy kenne. Ich hielt es zuerst für einen Scherz, doch niemand lachte. Alle taten so, als hätte es nie eine Christy gegeben.«
»Das kann doch nicht sein.«, sagte Nyx.
»Dachte ich mir auch. Aber wie heute üblich waren wir ein Haufen Leiharbeiter, die für diesen Job zusammengewürfelt wurden. Vorher kannten wir uns gegenseitig nicht. Meistens hatten wir ohnehin nur Kontakt zum Boss und jenen Kollegen, mit denen wir direkt zusammen arbeiteten. Christy und ich waren eines dieser Teams und so kamen wir uns über die Monate näher.« Als ihm klar wurde, was er gerade gesagt hatte, korrigierte er sich. »Nicht was Sie vielleicht denken. Wir wurden einfach nur gute Freunde.«
Loyd machte eine kurze Pause und wirkte danach sehr betroffen.
»Aber dann gab es sie plötzlich nicht mehr.«, seufzte er. »Ich versuchte sie über ihr Phone zu erreichen, doch die Phone-ID existierte nicht. Also versuchte ich es bei ihr zu Hause, doch die Wohnung stand angeblich seit Monaten zum Verkauf. Als ich die Nachbarn nach ihr fragte, schüttelten sie alle nur den Kopf und sagten, dass sie nichts von einer Christy wüssten. Aber ich fühlte die allgegenwärtige Angst.«
Selbst durch das digitale Abbild von Loyd konnte sie die Maske der Furcht deutlich erkennen. Er schien die Wahrheit zu sagen. Außerdem zweifelte Nyx nicht daran, dass diese Leute dazu fähig waren.
»Ich glaubte zu dem Zeitpunkt, ich würde verrückt werden, aber ich gab nicht auf und suchte weiter.«, fuhr Loyd fort. »Doch sie schien für die Welt nicht länger zu existieren. Sogar ihre Personal-ID gab es nicht mehr.«
In Nyx baute sich plötzlich ein bedrohliches Gefühl auf. Ihre Augen wanderten an Loyd vorbei und suchten unauffällig die Umgebung ab. Ihm schien diese Tatsache zu entgehen, denn er sprach einfach weiter.
»Ein paar Tage später fand ich mich in einem Raum wieder, wo mir ein Mann freundlich erklärte, worauf ich mich einstellen müsste, falls ich nicht endlich Ruhe gäbe. Dann zeigte er mir, was er alles über mich und meine Familie wusste.«
Loyd wandte sich kopfschüttelnd ab, ehe er wieder aufsah.
»Wer auch immer diese Leute sind, sie wussten alles über mich.«, sagte er. »Selbst Dinge, die sie eigentlich nicht wissen konnten. Mein Leben war für sie wie ein Buch, aus dem sie jedes noch so kleine Detail ablesen konnten. Es war beängstigend. In diesem Moment verstand ich, dass die Sache viel zu groß für mich war und ich gab die Suche auf.«
Doch Nyx hörte nicht länger zu, denn sie spürte, wie sich eine Sicherheitsschaltung in ihrem Neuroimplantat meldete. Jemand versuchte ihre Box zu hacken.

2 – Grenzgänger

Aria-Building – Johannesburg

Devon wusste, dass der Aufständische sie jeden Augenblick verraten würde und ließ das Messer unbemerkt in seine Hand gleiten. Eine Sekunde später stieß er es mit einer raschen Bewegung in die ungeschützte Seite des Mannes. Nur ein kurzes Stöhnen zeugte von seinem Schmerz, dann presste sich eine Hand auf seinen Mund. Devon und Sethi nahmen den Rebellen in ihre Mitte, als seine Beine schwach wurden. Nachdem sich die Türen geöffnet hatten, betraten sie den Fahrstuhl und bedienten das berührungssensitive Display. Sofort schlossen sich die Türen wieder und der Aufzug setzte sich in Bewegung.
»Stoppen Sie den Lift zwischen zwei Stockwerken!«, befahl Devon und packte den sterbenden Mann, um ihn auf den Boden zu setzen. Erst jetzt zog er das Messer aus der Wunde.
Devon glaubte in den Augen des Rebellen den Schrei zu erkennen, den seine Lippen nicht mehr formen hatten können: »Du hast mich getötet.« Devon kannte diesen Gesichtsausdruck nur zu gut.
Als er die Klinge wieder verstaut hatte, hielt der Fahrstuhl. Sethi hatte das Techmodul an ihrem linken Unterarm mit der Konsole des Aufzugs verbunden und arbeitete konzentriert an den Systemen.
»Wie sieht es aus?«, fragte Devon, nachdem er an ihre Seite getreten war.
»Ich habe die Kabine jetzt so programmiert, dass sie in allen Etagen als defekt angezeigt wird.«, erklärte sie. »Nur mit einem speziellen Code kann die Kabinentür geöffnet werden.«
»Perfekt.«
Er nahm die Maske und das Kopftuch von seinem Kopf. Sand rieselte auf den glänzenden Boden. Sethi tat es ihm gleich und atmete tief durch.
»Also kann niemand sehen, in welchem Stockwerk wir uns gerade befinden?«, fragte Devon und überprüfte das Magazin des gestohlenen Turov-MN330-Sturmgewehrs.
»Nein, außer es sitzt gerade jetzt jemand in der Zentrale und überwacht zufällig genau dieses System, was ich doch schwer bezweifle.«
»Gut gemacht, Lieutenant.«, lobte Devon. »Haben Sie von hier aus Zugriff auf die restlichen Systeme im Gebäude? Kameras, Mikrofone, Sensoren?«
Sethi schüttelte den Kopf.
»Nein, dafür reicht die Software des Techmoduls nicht aus und ich bin keine Hackerin.«
»Dann müssen wir improvisieren.«, sagte Devon und kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Versuchen Sie es mit dem subdermalen Sender der Vorsitzenden, jedes Ratsmitglied hat einen für Notfälle bekommen. Wenn er noch aktiv ist, können wir vielleicht auf ihr Neuroimplantat zugreifen.«
»Gute Idee.«, sagte Sethi.
Während sich Devon den Sand aus den Haaren strich, beobachtete er die indische Soldatin. Die leuchtende Hologrammsteuerung ihres Techmoduls spiegelte sich farbig in ihrem Gesicht. Die dunklen Augen glühten wie ein Kaleidoskop in verschiedenen Farben auf.
»Ich habe Colley.«, verkündete sie.
»Wo ist sie?«
»Einen Moment, der Notfallcode wird gerade übermittelt.«
Symbole, Zahlen und andere Daten schwebten als Hologramme über ihrem Arm. Durch die Berührungen von Sethi veränderten sie sich und bildeten ein buntes Mosaik, das Devon in der kurzen Zeit nicht überblicken konnte.
»Notfallcode akzeptiert.«, sagte sie. »Ich verbinde mich jetzt mit ihrem Neuroimplantat.«
Für ein paar Sekunden schwieg Sethi, ehe ihre Stimme beinahe feierlich zurückkehrte. »Verbindung steht.«
Sie wandte Devon den Kopf zu und er erkannte ein kurzes Lächeln auf ihren Lippen. Gleich darauf galt ihre Aufmerksamkeit erneut dem Techmodul.
»Ihre Vitalwerte sind in Ordnung, sie steht aber unter enormem Stress.«
»Was ihr angesichts der Situation kaum zu verdenken ist.«, sagte Devon.
»Soll ich sie kontaktieren?«
»Nein, lieber nicht, das wäre zu riskant.«
Über den Commlink, der ihn mit Sethi verband, erhielt er eine Einblendung des Gebäudeplans mit einem leuchtenden Punkt im dreizehnten Stockwerk.
»Sie wird in einem Großraumbüro im Dreizehnten festgehalten.«, präzisierte Sethi.
»Überprüfen Sie unsere Optionen.«, befahl Devon. »Gibt es am Dach noch Gleiter?«
»Ja, laut unseren Aufzeichnungen müsste immer ein Notfallgleiter bereit stehen.«
Sethi schaute wieder von ihrem Modul auf und blickte Devon für einen Moment in die Augen.
»Sie wollen doch nicht etwa …?«, fragte sie, ohne den Satz zu beenden.
»Haben Sie einen besseren Plan?«
»In diesem Sandsturm werden wir nicht weit kommen.«
»Hoffentlich weit genug.«
»Sind Sie denn geübt im Umgang mit Gleitern?«
»Nur im Rahmen des regelmäßigen Offizierstrainings.«
»Ich verstehe.«
Devon sah der indischen Soldatin eine Weile in die großen, dunklen Augen. Sie erwiderte den Blick mit versteinerter Miene und ließ sich wie üblich nichts anmerken. Was hinter ihrer Stirn vor sich ging, blieb ihm verborgen. Dann wandte er sich ab und zog eine Pistole unter der Rebellenuniform hervor.
»Schalldämpfer anbringen.«, befahl er und kontrollierte die Wolve, die als eine der absolut zuverlässigsten Handfeuerwaffen der Welt galt. Der Sand konnte ihr kaum etwas anhaben. Trotz der Anzeige vor seinen Augen überprüfte er das Magazin von Hand. Es war eine alte Angewohnheit, die er ungeachtet der modernen Übertragungstechnik immer noch nicht abgelegt hatte. Er verstaute die Waffe so unter der Rebellenverkleidung, dass er sie mit einer raschen Bewegung ziehen und abfeuern konnte.
»Blendgranaten bereit halten.«, befahl er und verbarg auch sie so, dass sie mit einem Griff erreichbar waren.
Sethi tat es ihm gleich. Sie schulterten die Rebellenwaffen und traten an die Aufzugstür.
»Wir werden zuerst die Lage auskundschaften und erst im äußersten Notfall handeln. Verstanden?«
»Natürlich, Major.«, sagte Sethi beinahe empört.
»Bringen Sie den Aufzug im Zwölften zum Stehen.«
Sethi machte sich mit einem Kopfnicken an die Arbeit. Devon spürte, wie sich die Kabine in Bewegung setzte. Er warf einen letzten Blick auf den dunkelhäutigen Rebellen. Regungslos lag er in seinem eigenen Blut, die Augen weit geöffnet und dennoch leblos. Der anklagende Blick war fest in sein Gesicht graviert.
Als sich die Lifttüren öffneten, traten Devon und Sethi rasch heraus und stellten fest, dass sie alleine waren. Hinter ihnen verschlossen sich die Türen wieder. Über dem Aufzug leuchtete der Schriftzug »Defekt«.
Das Treppenhaus war erfüllt von panischen Schreien und dem Lärm blinder Zerstörungswut. Devon wusste, dass sie nichts dagegen unternehmen konnten und zwang sich, die Geräusche zu ignorieren. Sie nahmen die Treppe und kamen im dreizehnten Stockwerk heraus, das sich rasch als reine Büroetage heraus stellte.
Direkt an den Fahrstühlen trafen sie auf zwei bewaffnete Rebellen, die lässig an der Wand lehnten und sich entspannt unterhielten. Devon und Sethi erwiderten ihren angedeuteten Gruß. Wie erhofft ließ man sie ohne Weiteres passieren. Gleich darauf stießen sie auf die ersten Anzeichen von Kämpfen. Einschusslöcher in den Wänden und Blut auf dem Boden formten sich zu einem monochromen Gemälde der Gewalt.
Devon und Sethi folgten einem Gang, der zu den Büros führte, die das Stockwerk prägten. Die einzelnen Räume waren durch halbtransparente Glaswände getrennt, die einen milchigen Sichtschutz boten und nur Umrisse erkennen ließen. Einige der Scheiben waren im Kugelhagel zersplittert. Devon konnte in die zerstörten Büros sehen, in denen sich offensichtlich Verteidiger verschanzt hatten. Vereinzelt trafen sie auf Rebellen, die in den Räumen nach Brauchbarem suchten oder es sich einfach zwischen den Scherben bequem gemacht hatten.
Blut war der einzige Beweis, dass hier überall Menschen ums Leben gekommen waren. Wahrscheinlich war es der letzte verzweifelte Versuch der Ratssicherheit gewesen, die Angreifer abzuwehren. Unter den Opfern waren auch zwei kniehohe Sicherheitsroboter mit automatischen Schnellfeueranlagen.
Sethi und Devon setzten ihren Weg fort, bis sie zwei Gestalten ausmachten. Devon nahm sofort wahr, dass es sich um keine normalen Rebellen handelte. Einer von ihnen war ein Riese, an den sich sein Blick zuerst heftete. Er bemerkte die schweren Militärimplantate, die der Hüne trug. Dunkel wuchsen die künstlich geschaffenen Körperteile aus seinen Schultern und Hüften: schwarze Nanomuskeln statt menschlichem Fleisch, Platten aus verdichtetem Kunststoff statt Haut, Metallstreben statt Knochen. Derart eindrucksvolle Implantate galten als militärische Waffen und waren weltweit verboten. Selbst die Soldaten des Ratsheeres mussten sich mit Prothesen begnügen, die dem menschlichen Original weitgehend entsprachen. Diese kybernetischen Gliedmaßen hingegen erfüllten nur einen Zweck: das Töten.
Devon versuchte sich die Kräfte und Möglichkeiten auszumalen, die der Kämpfer durch die künstlichen Verbesserungen besaß. Vermutlich waren auch Organe ausgetauscht worden, um einen noch effektiveren Soldaten zu erschaffen. Das Gesicht des Hünen war bullig und der Kopf kahlgeschoren. Er machte einen brutalen Eindruck. Devon wusste, dass er in einem direkten Duell nicht die geringste Chance gegen ihn hätte.
Während dieser Überlegungen hätte Devon beinahe den zweiten Mann übersehen, der um einiges kleiner war und etwa seine eigene Größe und Statur hatte. Er hatte wildes, schwarzes Haar, das ihm auf die Schultern reichte und in einzelnen Strähnen ins Gesicht hing. Auch er passte nicht ins Schema der Rebellen. Er trug einen leichteren, schwarzen Kampfanzug im Gegensatz zu dem schweren Körperpanzer, der sich wie eine Rüstung über den Riesen spannte. Eine dunkle Maske schützte das Gesicht des Fremden bis zu den Augen. Devon konnte nicht erkennen, ob es sich um ein Implantat handelte oder ob sie abnehmbar war. Auch sonst konnte er keine Cyberprothesen ausmachen, doch die konnten unter dem Anzug verborgen sein. Trotz des Größenunterschieds schien er keine Angst vor dem Hünen zu haben, der sich vor ihm wie ein Gebirge aufgebaut hatte.
In den vollkommen schwarzen Augen des Fremden schien ein dunkles Feuer zu lodern. Seine Haltung bewies Stolz und Stärke. Devon bemerkte aber auch die militärische Anspannung, die von ihm ausging, jede Sekunde bereit zuzuschlagen. Devon fragte sich, ob sie sein allgemeines Verhalten darstellte oder speziell dem Riesen galt.
Während sie sich dem ungleichen Paar immer weiter näherten, entschied Devon, unauffällig zu bleiben und die beiden langsam zu passieren. Sethi hielt wortlos Schritt.
Seit Beginn des Einsatzes war sein künstliches Gehör auf maximale Leistung eingestellt. Automatische Filter verhinderten, dass unwichtiger Hintergrundlärm ihn wahnsinnig machte, erlaubten es aber gleichzeitig, wichtige Details lauter und deutlicher wahrzunehmen. Als sie sich weit genug genähert hatten, konnte er daher auch die Worte der beiden verstehen, die akzentfreies Englisch sprachen.
»… wissen, was von Ihnen erwartet wird.«, brummte der Riese und klang ungeduldig.
»Es gibt keinen Grund zur Besorgnis.«, antwortete der andere. »Das Ratsheer ist gefallen. Die Stadt ist ganz in unserer Hand, ich werde mich um alles Weitere kümmern.«
»Das hoffe ich.«, grunzte der Hüne. »Meine Auftraggeber haben sehr viel in Ihre Rebellion investiert. Jetzt wollen sie auch Resultate sehen.«
Der Langhaarige und der Riese starrten sich wortlos an, eine drohende Spannung lag in der Luft.
»Und jetzt zeigen Sie mir, wo Sie die Aufnahmen machen wollen!«, befahl der Hüne.
»Vertrauen Sie mir etwa nicht?«, fragte der Langhaarige spöttisch.
Der Riese baute sich vor seinem Kontrahenten auf, der mit keiner Wimper zuckte. Devon nahm allerdings die minimale Bewegung seines rechten Arms wahr, der jeden Moment bereit war, zur Waffe zu greifen.
»Nein, ich vertraue Ihnen nicht!« Die Stimme des Riesen bebte förmlich.
»Das ist Pech.«, sagte der andere.
Als Devon und Sethi die beiden fast erreicht hatten, blickte sie der Hüne mit finsterem Blick an.»Was wollt ihr hier, verschwindet!«
Devon hob beschwichtigend seine Arme und machte zusammen mit Sethi einen möglichst weiten Bogen um die beiden Männer.
»Vergessen Sie besser nicht, wer Sie soweit gebracht hat!«, dröhnte die Stimme des Hünen durch den Gang, als sie an ihnen vorbeigegangen waren.
»Wie Sie meinen.«, sagte der Kleinere. »Folgen Sie mir.«
Das Gespräch verstummte. Devon hörte nur noch die Schritte der beiden, die sich entfernten.
Was ging hier vor sich? War einer von ihnen der Anführer dieser Rebellion? Und wer waren die Auftraggeber, von denen der Riese gesprochen hatte? Hier war etwas Größeres im Gang, als er ursprünglich vermutet hatte. Devon schob seine Gedanken zur Seite, als sie ein Großraumbüro erreichten, das von vier Aufständischen bewacht wurde.
Er konnte einen Blick hinein werfen und atmete auf, als er eine Gruppe Zivilisten bemerkte, die ängstlich auf dem Boden kauerte.
Er stoppte Sethi mit einer kaum merkbaren Geste und spähte vom Gang aus in den Raum. Bald erkannte er die Vorsitzende des Weltrates zwischen den anderen Zivilisten. Die vier Rebellen machten unterdessen einen wenig aufmerksamen Eindruck. Zwei von ihnen unterhielten sich, einer lehnte lässig an der Wand und rauchte eine Zigarette, während der Letzte mit seiner Waffe hantierte.
»Sie ist da drinnen.«, flüsterte Devon. »Blendgranate. Eine Sekunde. Ich links, Sie rechts.«
»Verstanden, Major.«
Einen präzisen Gedanken später klappten die Helme über ihre Köpfe. Lautlos postierten sie sich an zwei unterschiedlichen Eingängen des Großraumbüros. Mit den Helmen konnten sie sich endlich wieder vernünftig verständlich machen. Devon nahm eine Blendgranate, stellte eine Sekunde ein und aktivierte den Countdown.
»Jetzt.«, befahl er und ließ den Sprengkörper durch die Tür rollen.
Eine Sekunde später tauchten die beiden Granaten den Raum in grelles Licht. Die Systeme ihrer Helme drosselten die Lichtstärke sofort, sodass sie bereits in das Büro eindrangen, als die Lichtblitze losgingen. Devon hörte die panischen Schreie der Anwesenden und sah deutlich, wie sich seine beiden Ziele die Hände vor die Augen rissen. Mit vier gezielten Schüssen erledigte er die beiden Rebellen, ohne auf die anderen zu achten, um die sich Sethi kümmerte. Die gesamte Aktion dauerte nur wenige Sekunden.
Noch immer hallten die Hilferufe der Zivilisten durch den Raum, die vor Angst enger zusammengerückt waren. Es war ein merkwürdiger Anblick, die gut gekleideten Frauen und Männer am Boden kauern zu sehen, aneinandergedrängt wie verängstigte Kinder.
»Hier spricht Major Devon Reeves vom Ratsheer, bitte bleiben Sie ruhig!«, sagte Devon.
Er musste den Satz noch zweimal wiederholen, um die Leute zu beruhigen. Erst als sie wieder sehen konnten und ihre vier Bewacher in ihrem eigenen Blut liegen sahen, entspannten sie sich etwas. Sethi postierte sich inzwischen an der Tür und hielt Ausschau nach potentiellen Gefahren.
»Sind Sie hier, um uns zu retten?«, fragte jemand. »Holen Sie uns hier raus?«
»Helfen Sie uns bitte!«, flehte eine verletzte Frau.
Hoffnung flackerte in den verängstigten Gesichtern auf und ihre Stimmen überschlugen sich regelrecht.
»Wir können nicht alle mitnehmen.«, sagte Sethi nur für Devon hörbar über das Kommunikationsmodul.
»Ich weiß.«, gab er zurück, während ihn die Geiseln mit weiteren Fragen bedrängten.
»Wo bleibt das Heer?«
»Warum hilft man uns nicht?«
Devon ignorierte die Fragen und dachte nach.
»Was tun wir?«, fragte Sethi.
Devon betrachtete die Geiseln, es waren etwa dreißig.
»Im Gleiter haben maximal sechs Leute Platz.«, sagte Sethi, als ob sie seine Gedanken erraten hätte. »Aber mit jedem von ihnen steigt das Risiko.«
Devon starrte in ängstlich flehende Gesichter. Die meisten von ihnen hatten das erste Mal in ihrem Leben in den Lauf einer Waffe geblickt. Wahrscheinlich hatten sie sogar miterlebt, wie Menschen gestorben waren.
Unendlich langsam verstrichen die Sekunden.
»Bringen Sie uns hier raus, Major?«, fragte plötzlich die Ratsvorsitzende. Sie saß mit den anderen zusammen am Boden.
»Wir sollten uns beeilen, Major.«, drängte auch die indische Soldatin.
Devon spürte, wie sich seine Muskeln kurz verkrampften, als er eine Entscheidung traf.
»Vorsitzende Colley, kommen Sie bitte mit uns!«, sagte er und streckte ihr seine Hand entgegen.
Zögernd ergriff Colley die Hand und ließ sich auf die Beine helfen.
»Und was ist mit uns?«, fragte eine der Geiseln.»Sie holen uns doch hier raus, oder?«, wollte eine andere wissen.
»Hilfe ist unterwegs, Sie müssen durchhalten.«, log Devon und spürte gleich, wie wenig überzeugend seine Worte klangen. Er bemerkte sofort, wie die Hoffnung aus den Gesichtern der Geiseln schwand.
»Sie lassen uns zurück?«, fragte ein Mann empört.
Eine Frau begann zu schluchzen.»Oh Gott, lassen Sie uns nicht hier.«
»Es tut mir leid.«, sagte Devon.
»Das können Sie doch nicht machen, Major.«, protestierte die Vorsitzende.
»Vorsitzende Colley, es ist unser Befehl, Sie in Sicherheit zu bringen, kommen Sie.«, mischte sich Sethi ein und ergriff die Frau am Arm.
»Aber was wird aus den anderen?«, fragte sie und sträubte sich gegen die grobe Behandlung.
Einer der Anzugträger war aufgesprungen und stand nun unmittelbar vor Devon.
»Sie nehmen uns alle mit!«, befahl der dunkelhäutige Mann. »Wir sind Mitglieder der Afrikanischen Union. Es ist Ihre Pflicht, uns zu beschützen.«
»Das ist leider unmöglich.«, sagte Devon und wandte sich ab.
Da packte der Mann ihn an der Schulter. Devon reagierte mit der Schnelligkeit jahrelangen Trainings, ergriff den Arm des Mannes, verdrehte ihn und stieß den Angreifer von sich. Im selben Moment hatte er bereits seine Pistole gezogen und auf ihn gerichtet. Für einen kurzen Augenblick befürchtete er, schießen zu müssen, doch niemand ging auf ihn los. Sethi war mit Colley in der Zwischenzeit vorgegangen.
»Hilfe ist unterwegs, bleiben Sie bitte ruhig!«, befahl Devon, wandte sich ab und ließ eine panische Gruppe Zivilisten zurück.
Er rannte den Gang entlang, verfolgt vom Klagen der Zurückgebliebenen. Er ahnte, dass seine Entscheidung ihr Todesurteil sein würde. Die Aufzugtüren standen bereits offen und er musste nur noch einsteigen. Vorerst waren sie in Sicherheit.
Devon ging ruhelos hin und her, während der Aufzug schnell nach oben glitt.
»Wie konnten Sie das nur tun?«, fragte die Vorsitzende.
»Wir hatten keine andere Wahl.«, sagte Sethi mit der ihr eigenen Emotionslosigkeit.
Devon versuchte sich unterdessen von den verängstigten Blicken der Zivilisten zu lösen, die ihn noch immer anzustarren schienen.
»Keine andere Wahl?«, fragte Colley spöttisch. »Wir hätten diese Leute doch einfach mitnehmen können.«
Devon ballte die Hände zu Fäusten und schloss die Augen für einen Moment.
»Major, alles in Ordnung?«, fragte Sethi, der seine Unruhe nicht entgangen war.
»Es ist nichts, Lieutenant.«
»Wo bleibt überhaupt die Unterstützung?«, fragte die Vorsitzende spitz. »Was ist mit unseren Soldaten? Müssten die Rebellen nicht längst zurückgeschlagen sein? Das ist doch alles ein grässlicher Alptraum.«
Devon erstarrte jäh. Mit einer aggressiven Bewegung, die Colley sichtlich erschreckte, wandte er sich an sie.
»Unsere Soldaten sind alle tot!«, begann er gereizt. »Es gibt niemanden in der Stadt, der noch kämpfen könnte. Wir beide sind die Letzten und wir hatten auch mehr Glück als Verstand. Und jetzt halten Sie gefälligst den Mund und tun nur noch, was wir Ihnen sagen, dann können Sie vielleicht noch einmal Alpträume in ihrem Leben haben.«
»Verstanden?«, brüllte er.
Die klugen Augen im jung gebliebenen Gesicht der Ratsvorsitzenden starrten Devon ungläubig an. Ihre Lippen waren geöffnet, brachten aber kein Wort hervor. Dann senkte sie ihren Blick.
»Verstanden.«
Devon zog die Rebellenuniform aus und riss ein paar Stücke aus dem Stoff.
»Lieutenant, Sie auch.«
Sethi verstand und legte ihrerseits die Kleider der getöteten Aufständischen ab. Devon reichte sie der Vorsitzenden zusammen mit den herausgerissenen Stofffetzen seiner Verkleidung.
»Was soll ich damit?«, fragte die Politikerin und betrachtete die schmutzige Wäsche mit deutlicher Abscheu.
Devon deutete mit der Hand auf den dunkelgrauen Hosenanzug, den die Frau trug.
»Draußen herrscht ein Sandsturm, Sie werden diese Kleider zum Schutz brauchen.«, sagte er nun wieder ruhiger. »Und wickeln Sie sich das hier um den Kopf, damit sie gerade noch etwas sehen.«
Die Ratsvorsitzende war vernünftig und machte sich sofort ans Werk. Sie hatte Schwierigkeiten mit ihren Stöckelschuhen, aber am Ende sah sie wie eine Rebellin mit zu großen Kleidern aus.
»Gut.«, sagte Devon und nickte ihr zu, ehe er sich Sethi zuwandte. »Sorgen Sie dafür, dass kein Aufzug nach oben fährt! Ich werde den anderen Zugang verbarrikadieren, so gut es geht. Danach machen Sie den Gleiter startklar.«
»Ja, Major.«
»Wir haben nicht viel Zeit!«

Zone: Das Pain

Nyx spürte die drohende Gefahr und nahm vier Männer wahr, die zugleich das Pain betraten. Sie hatten generische Gesichter und baugleiche Körper, die in schwarzen Anzügen steckten.
»Wir müssen sofort raus!«, drängte Nyx, ehe Loyd weitersprechen konnte.
»Was …?«, fragte er verwirrt.
»Schnell!«
In diesem Moment bäumte sich Loyd vor ihren Augen auf. Seine Kehle war zu einem Schrei geöffnet, der aber nicht zu hören war, während sich der Körper seines Avatars einfach in Luft auflöste.
»Nein!«, entkam es Nyx.
Man hatte sie gefunden. Ihr blieb keine Zeit. Die vier Männer zogen Pistolen und richteten sie auf Nyx. Geistesgegenwärtig warf sie sich über die Theke, während die Kugeln hinter ihr einschlugen.
Die Geräusche der Gäste verstummten von einem Moment auf den anderen, nur die Hintergrundmusik lief weiter, während die Bar im Kugelhagel zerfiel. Glas splitterte und regnete auf sie herab. Als sich Nyx zur Seite wandte, war auch der Barmann verschwunden. Nyx fluchte innerlich, sie war in eine Falle getappt. War Loyd die ganze Zeit über beobachtet worden, oder hatte man ihn als Köder eingesetzt? Sie verstand nicht, wie das möglich gewesen war. Sie hatte alles genau überprüft und jede nur mögliche Vorsichtsmaßnahme getroffen.
Nyx verdrängte die Fragen vorerst und konzentrierte sich auf ihr Neuroimplantat. Ein geistiger Befehl startete einen besonderen Prozess. Ein unbeschreibliches Gefühl teilte ihr Denken, ihren Verstand, ihr Bewusstsein in zwei Teile. Ein kalter, gefühlloser Teil trennte sich von der echten Nyx und lebte im digitalen Fluss des Frames als eigenständige, maschinenhafte Entität weiter. Für sie war es, als ob sie aus zwei unabhängigen Wesenheiten bestünde, die auf unterschiedlichen Ebenen funktionierten und doch war sie noch immer eins. Das Maschinenbewusstsein agierte außerhalb der Zone, in der ihr Geist aktuell gefangen war. Es war wie ein Komplize, der im Hintergrund auf ihren Befehl hin agieren konnte.
Ihr Maschinenbewusstsein aktivierte ein Backdoorprogramm, das sie schon vor Monaten als Sicherheit auf dem Server der Zone hinterlassen hatte, und konnte so rasch die Firewalls umgehen. All das geschah innerhalb weniger Augenblicke, während sich die vier Männer mit tödlicher Entschlossenheit näherten.
Nyx wusste, dass sie jetzt in der Zone isoliert war. Sie konnte die virtuelle Umgebung nur durch die festgelegten Ein- und Ausgänge verlassen, die tief in die Map der Zone integriert waren. Eine Sicherheitsschaltung ermöglichte es der Box normalerweise, ein Signal an die Zone zu schicken und den Übergang in die reale Welt ohne Ausgang einzuleiten, doch diese war deaktiviert worden. Irgendwie hatten sich diese Leute Zugriff zu den Funktionen des Pain verschafft. Nyx konnte nur hoffen, dass es nicht schon zu spät war und der Hacker noch keinen Rootzugriff hatte, andernfalls war sie verloren.
Nyx spürte, wie sich die vier Männer näherten. Gleichzeitig drang ihr Maschinenbewusstsein immer tiefer in den Server der Zone ein. Sie war nun Teil des Datenstroms, bewegte sich durch das Netzwerk wie ein Lebewesen aus reiner Energie und gleichzeitig existierte sie als menschliches Wesen in der Zone.
Nyx erkannte schnell, dass der Hacker die Sicherheitsschaltung des virtuellen Todes deaktiviert hatte. Wenn man sie jetzt tötete, brachte sie das zwar in der realen Welt nicht unbedingt um, der Deathshock konnte aber schwere neurale Schäden verursachen. Sie musste überleben und den Ausgang erreichen, wenn ihr Gehirn nicht gebraten werden sollte.
Nyx sah sich rasch um. Es gab nur einen Weg. Geduckt lief sie die Theke entlang, während die Männer die Bar weiter in ihre Einzelteile zerschossen. Sie wartete, bis die Angreifer den Tresen fast erreicht hatten und stürmte dann los, dem Gang entgegen, der zu den einzelnen Vergnügungsräumen des Pain führte. Es dauerte eine Sekunde, bis sich ihre Verfolger auf die neue Situation eingestellt hatten und das Feuer abermals eröffneten.
Nyx zuckte zusammen, als überall um sie herum die Kugeln in die Wände und die Einrichtung einschlugen. Jetzt verfluchte sie ihre Entscheidung für diesen Avatar. Durch ihren Sprint riss das enge Kleid, die Schuhe hatte sie bereits zurückgelassen. Sie hechtete in den Gang und somit kurzzeitig in Sicherheit. Sofort rappelte sie sich wieder auf und stürmte weiter.
Sie sah Türen vorbeiziehen. Jeder Raum eröffnete eine andere digitale Umgebung, in der die Gäste des Pain ihren schmerzhaften, sexuellen Neigungen nachgehen konnten. Nyx brauchte Zeit und lief weiter, ihre bewaffneten Verfolger immer knapp auf Abstand haltend. Unterdessen arbeitete ihr Maschinenbewusstsein fieberhaft daran, den Server des Pain zu übernehmen. Sie spürte die Anwesenheit des zweiten Hackers, der exakt dasselbe vorhatte.
Gleichzeitig versuchte ein anderer Hacker, die Box in ihrer Wohnung zu knacken. Wenn ihm das gelang, konnte er nicht nur ihr Signal zurückverfolgen und sie so in der realen Welt finden, sondern auch die Notfallschaltung einleiten. Diese war nur für Ausnahmesituationen gedacht, um Zoner, die aus irgendeinem Grund in der Zone gefangen waren, heraus zu holen. Um einen cerebralen Schock zu vermeiden, leitete die Box dann ein künstliches Koma ein, um den Geist ohne Schäden aus der virtuellen Welt zu befreien. In diesem Fall wäre Nyx für einige Zeit vollkommen schutzlos. Man würde die Verbindung zurückverfolgen, sie mitnehmen und was dann mit ihr geschehen würde, wollte sie sich gar nicht erst vorstellen. Also blieb ihr keine andere Wahl, sie musste den Ausgang erreichen.
Nyx rannte so schnell sie ihr hübscher, aber wenig athletischer Avatar durch den Gang trug, bis zu einer Treppe, die in den Keller des riesigen Herrenhauses führte. Die Angreifer waren unmittelbar hinter ihr und schossen weiter.
Nyx hatte beinahe die Treppe erreicht, als eine Kugel sie an der linken Schulter traf. Sie schrie auf und wäre beinahe gestürzt. Sie konnte sich gerade noch an der Wand abfangen und die Treppe hinunter stolpern. Blut schoss aus der Wunde und beschmutzte ihr zerrissenes Kleid. Schmerzen brandeten durch ihre Schulter.
Nyx spürte die Saat der Verzweiflung in sich keimen. Sie war in einer nahezu ausweglosen Situation und musste radikale Schritte einleiten, wenn sie überleben wollte. Mit einem Gewaltakt teilte sie ihr Maschinenbewusstsein in zwei weitere, unabhängige Fragmente. Der Vorgang kostete sie eine Menge Konzentration, aber ihr blieb keine andere Wahl.
Sie existierte nun auf vier verschiedenen Bewusstseinsebenen gleichzeitig. Ein Teil ihres Maschinenbewusstseins klinkte sich in die Box ein, um sich gegen den Angreifer zu verteidigen. Sie baute neue Firewalls auf, legte falsche Spuren im Frame und schlug zurück, so gut es ging. Das würde ihr weitere Zeit verschaffen.
Ein weiteres Bewusstseinsfragment versuchte, den feindlichen Hacker im Server des Pain aufzuhalten, während das größte Fragment nach der absoluten Kontrolle der Zone strebte. Unterdessen rannte ihr menschlicher Verstand im Körper eines Avatars um ihr reales Leben. Allerdings war dieser Körper als Blickfang gedacht und nicht auf größere Kraftanstrengungen ausgelegt. Die schwache Muskulatur und der Körperbau schränkten sie bei jeder Bewegung ein.
Nyx erreichte den düsteren, grauen Keller. An diesen Ort verirrten sich nur die wirklich Hartgesottenen, denen die normalen Schmerzen nicht genug waren. Auch hier unten gab es einen Showbereich, der aber verwaist war, da man alle Gäste mit der Sicherheitsschaltung in die reale Welt zurückgeschickt hatte. Das Pain glich nun einem Geisterhaus.
Hinter ihr ertönten Schüsse und Nyx zuckte instinktiv zusammen. Als die Kugeln sie nur knapp verfehlten, warf sie sich panisch gegen eine der Türen.

Aria-Building – Johannesburg

Als sich die Aufzugtüren öffneten, wehte der kleinen Truppe um Devon sofort der beißende Sand entgegen. Vorsitzende Colley riss erschrocken die Hände vor die Augen, als die feinen Sandkörner gegen ihren Körper prasselten.
»Sie bleiben bei Lieutenant Sethi!«, befahl er der Frau und stürmte hinaus in das goldgelbe Leuchten, das über dem Landeplatz hing.
Devon fand ein paar Kunststoffkisten mit unbekanntem Inhalt und verbarrikadierte damit den zweiten Zugang zum Flugdeck neben den Aufzügen, obwohl ihm klar war, dass die Barrikade nicht lange halten würde. Als er die Metalltreppe zum Flugfeld überwunden hatte, erkannte er Sethi und Colley neben einem militärischen Gleiter.
»Was ist los?«, fragte Devon.
»Wir haben ein Problem.«, antwortete Sethi und zeigte auf einen zweiten Gleiter, der etwas abseits stand. »Der Notfallgleiter ist zerstört.«
»Verdammt. Können wir etwas tun?«
»Ich fürchte nicht.«, sagte Sethi. »Jemand hat die Triebwerke gezielt mit Sprengstoff beschädigt.«
»Und was ist mit dem Kampfgleiter?«
Sethi schüttelte den Kopf. »ID-gesichert.«
Devon fluchte innerlich.
»Ich versuche von hier aus Kontakt zur Zentrale zu bekommen.«, sagte er. »Vielleicht sind die Störsignale hier nicht so stark.«
Devon versuchte sein Glück, doch die Anzeige vor seinen Augen machte die Hoffnung zunichte. Die Störquellen blockierten weiterhin alle Signale.
»Keine Chance.«, sagte er kopfschüttelnd.
Devon wandte sich schließlich dem militärischen Gleiter zu, der Ähnlichkeit mit jenen hatte, von denen sie bei ihrer Ankunft angegriffen worden waren. Er ahnte, wem dieses Fluggerät gehörte und der Gedanke gefiel ihm nicht.
»Können Sie die Zugangscodes des Gleiters knacken?«, fragte Devon.
»Dafür wurde ich nicht ausgebildet.«, gab Sethi zu. »Aber ich werde es versuchen.«
»Beeilen Sie sich!«, sagte Devon und nahm das Gewehr von der Schulter. »Unsere Flucht wird nicht lange unentdeckt bleiben.«
Die Minuten verstrichen unendlich langsam, während Devon auf den verbarrikadierten Zugang zielte. Noch war alles ruhig, niemand schien ihr Entkommen bemerkt zu haben. Doch das konnte sich schlagartig ändern und dann würde es hier von Rebellen nur so wimmeln.
»Wie sieht es aus, Lieutenant?«, fragte Devon nach ein paar Minuten.
»Ich arbeite daran, Major, aber das ist nicht mein Fachgebiet.«
»Sethi, ich weiß, dass Sie das schaffen können. Machen Sie weiter.«
Devon konzentrierte sich wieder auf die Barrikade, die er aufgebaut hatte und für einen Moment glaubte er Bewegung hinter den Kisten zu erkennen. Er wischte sich über die Linsen der Helmkameras. Kurz wollte er die Bewegung als optische Täuschung durch den Sandsturm abtun, als es noch einmal geschah. Die Kisten vibrierten alle gleichzeitig, als ob von drinnen jemand gegen die Tür schlagen würde.
»Lieutenant, wir bekommen Besuch.«, sagte Devon und feuerte ein paar gezielte Salven ab.
Die Kugeln durchschlugen die blockierte Tür in Kopfhöhe. Die Bewegungen hörten auf. Wer auch immer versucht hatte, durchzubrechen, war jetzt tot. Noch bevor Devon darüber nachdenken konnte, ob ihnen die anderen Zivilisten gefolgt sein konnten, gab die Barrikade nach. Die Tür flog auf und die Kisten sprangen wie Spielbälle auseinander. Devon hielt den Atem an, als er Zeuge dieses Kraftakts wurde.
Für den Bruchteil einer Sekunde erkannte er die Umrisse des Hünen und schoss sofort. Doch bevor er sich auf den Mann einschießen konnte, hatte dieser einen weiten Satz ins Freie gemacht. Seine Sprungkraft war enorm und überraschte Devon im ersten Moment. Zeit genug für den Angreifer.
Devon realisierte noch rechtzeitig, dass sich ein Geschoss näherte und rettete sich mit einem Satz nach hinten, ehe seine Deckung explodierte. Die Kisten platzten auf und ihr Inhalt verteilte sich über das Landefeld. Kaum war Devon wieder auf den Beinen, sah er den Riesen vor sich. Beide Arme waren zusammengeklappt und statt mehrgliedriger Hände ragten jetzt Waffenläufe aus seinen Unterarmen.
Devon konnte noch eine unpräzise Salve abfeuern, ehe einer der Waffenarme ein weiteres Explosivgeschoss in seine Richtung jagte. Ein beherzter Hechtsprung rettete Devon. Er drückte sich hinter die Belüftungsanlage, welche aus dem Dach des Gebäudes wuchs, und hörte wie der zweite Waffenarm zu singen begann. Gleich darauf ertönte hinter ihm das Klingeln von Projektilen, die sich in Metall bohrten. Als das Feuer für einen Augenblick aufhörte, hastete Devon aus seiner Deckung und wollte sein Ziel unter Feuer nehmen, doch da war niemand mehr.
Devon erkannte seinen Fehler und machte den Riesen erst im letzten Moment ein Stück weiter aus. Als die Läufe seines Gegners aufblitzten, war Devon bereits wieder im Sprung. Ein Geschosshagel ging auf den Rand des Dachs nieder und verfehlte Devon nur knapp. Die Detonation einer weiteren Granate warf ihn aus seiner Bahn. Er schlug hart auf, was Schmerzen durch seinen rechten Arm peitschte. Devon rollte rasch zur Seite und schoss seinerseits auf den Angreifer. Endlich traf er den massigen Körper, verursachte damit aber keinen nennenswerten Schaden. Der Hüne zuckte nur kurz und richtete seine Waffen erneut auf Devon.
Für einen Moment glaubte er, sein Ende wäre gekommen, doch dann detonierte eine EMP-Granate im Genick des Hünen. Die Ausläufer des elektromagnetischen Impulses reichten, um Devon kurzzeitig zu blenden. Die Verbindung zu den Helmkameras fiel aus. Auch die Implantate in seinem Kopf wurden durch den Impuls in Mitleidenschaft gezogen. Symbole und Anzeigen vor seinen Augen flackerten. Dasselbe galt jedoch auch für den Angreifer, der sich für ein paar Sekunden nicht mehr auf seine kybernetischen Gliedmaßen verlassen konnte und wie eine ausgeschaltete Maschine dastand.
Der Zustand würde nicht lange anhalten, das wusste Devon. Die modernen Systeme waren allesamt gut gegen solche Angriffe geschützt, hatten Notschaltungen und Reserven integriert. Devon nutzte den Moment, um den manuellen Öffnungsmechanismus seines Helms zu betätigen und sich halb blind in Sicherheit zu bringen.
Während sein Neuroimplantat alle Systeme neu startete, sah Devon verschwommen, dass sich Sethi dem Angreifer vom erhöhten Flugfeld aus genähert hatte und auf den Hünen feuerte. Sie zielte auf eine verwundbare Stelle zwischen zwei Platten am linken Waffenarm des Mannes. Funken schossen hervor und das Krachen von Kunststoff war zu hören. Doch ehe sie ihr Magazin geleert hatte, war der Hüne wieder auf den Beinen. Viel zu schnell für Devons Geschmack. Mit einer unerwartet raschen Bewegung sprang der Angreifer auf das Flugfeld.
Sethi wollte gerade zurückweichen, da traf sie ein brutaler Schlag gegen die Brust. Die Wucht trug sie einige Meter über das Flugfeld, bevor sie unsanft aufschlug. Die Turov schlitterte über den Rand des Flugfelds. Der Riese steuerte weiter auf die indische Soldatin zu, die sich von dem schweren Treffer zu erholen versuchte.
Die Systeme von Devon waren mittlerweile wieder voll einsatzfähig und der Helm klappte über seinen Kopf. Mit seiner Pistole in der Hand schoss er aus vollem Lauf auf den Angreifer, in der Hoffnung ihn von Sethi abzulenken.
»Stehen Sie auf, Lieutenant!«, rief er.
Devon zielte auf die Beine und hoffte so Schaden anrichten zu können. Der Riese wandte sich zu Devon um. Funken schlugen aus dem Gelenk des beschädigten linken Arms, während seine Rechte inzwischen wieder zu einer Hand geworden war.
Devon hatte das Magazin geleert und ging in den Nahkampf über. Der erste Schlag des Hünen verfehlte Devon um wenige Zentimeter, sodass er einen raschen Konter anbringen konnte. Dabei bemerkte er, dass sein Gegner den linken Arm nicht mehr effektiv einsetzen konnte und nutzte diese Schwäche aus. Flink wich er den wütenden Hieben der rechten Faust aus und schlug zurück. Seine Fäuste krachten zweimal gegen den behelmten Kopf des Hünen. Doch seine Kräfte reichten nicht aus, um seinem Gegner ausreichend Schaden zuzufügen. Er brachte ein paar weitere Schläge ins Ziel, ehe er selbst getroffen wurde. Der wuchtige Hieb presste Devon die Luft aus den Lungen und katapultierte ihn zwei Meter nach hinten.
Ehe er sich von dem Treffer erholen konnte, war der Riese bereits wieder herangekommen. Er deckte Devon mit einer mächtigen Schlagfolge ein, der er wenig entgegenzusetzen hatte. Schon nach den ersten Treffern war ihm klar geworden, dass er die Hiebe des Riesen nicht blocken konnte. Dessen kybernetischen Körperteile waren in Kraft und Leistung den organischen von Devon weit überlegen. Verzweifelt versuchte er auszuweichen, doch immer wieder drangen einzelne Schläge durch seine Deckung und ließen seinen Körper trotz des modernen Kampfanzugs erbeben.
»Sethi!«, presste er zwischen den Lippen hervor, als ein Treffer ihn neuerlich quer über das Flugfeld beförderte.
Die Soldatin kam gerade rechtzeitig. Mit einem beherzten Tritt trieb sie den Hünen weit genug von Devon weg, dass sich dieser wieder aufrichten konnte. Gemeinsam attackierten sie den Riesen und beharkten ihn mit Tritten und Schlägen. Doch er steckte die Treffer ein wie eine Maschine und wartete auf seinen Moment. Als er eine Chance witterte, brach er durch ihre Angriffsfolge und versetzte Devon einen wüsten Hieb gegen die Seite.
Der Schmerz raubte ihm beinahe die Sinne. Die Anzeige symbolisierte ihm zwei gebrochene Rippen.
In der Zwischenzeit hatte der Hüne einen Schlag von Sethi abgefangen und ihren linken Unterarm gepackt. Verzweifelt versuchte sie sich aus seinem mechanischen Griff zu befreien, der ihren Unterarm unbarmherzig zusammendrückte. Sethi schrie auf und hieb auf den schwer gepanzerten Kämpfer ein, den das aber nicht beeindruckte. Er hob seinen beschädigten Arm und hämmerte den Waffenstumpf solange gegen ihr behelmtes Gesicht, bis ihre Bewegungen erstarben. Nachdem sich Devon gefangen hatte, sah er gerade noch, wie ihr Kopfschutz langsam nachgab und immer weiter eingedrückt wurde.
»Lieutenant!«, schrie er entsetzt und stürzte sich auf den Angreifer, der Sethi wie eine Puppe in einer Hand hielt. Devon riss den Hünen mit der Wucht des Aufpralls um. Sethi polterte leblos auf das Flugfeld. Jetzt war Devon über dem Angreifer, das Kampfmesser in der rechten Hand. Doch der Riese konnte einen Arm zum Schutz vor den Kopf bringen. Devon stach mehrfach auf die ungeschützten Nanostränge der künstlichen Muskeln ein, ehe er mit einem kräftigen Hieb zur Seite geschleudert wurde.
Trotz der Schmerzen in der Seite rollte sich Devon in einer fließenden Bewegung ab und stand sofort wieder auf den Beinen. Sein Kampfanzug injizierte ihm Stimulanzien, die seine Sinne schärften und die Schmerzen unterdrückten. Er wunderte sich, dass er noch auf den Beinen war.
Der Riese kam jetzt wie eine Lawine angestürmt und drohte ihn einfach hinwegzufegen. Doch Devon wich den mächtigen Hieben mit einigen raschen Manövern aus. Gleichzeitig bekam er die Granate zu fassen, die er zusammen mit der EMP-Granate noch an seinem Kampfanzug trug. In einer fließenden Bewegung gelangte er hinter den Angreifer, machte die Granate scharf und heftete sie an dessen linke Schulter. Diese Aktion brachte ihm jedoch einen schweren Treffer ein. Die kybernetische Faust traf seinen Kopf wie ein Presslufthammer und zersplitterte sein Sichtfeld in tausend Stücke.
Devon glaubte, sein Kopf würde ihm von den Schultern gerissen, bevor er über das Landefeld hinweg getragen wurde und hart auf den Boden des Dachs prallte. Vor seinen Augen tanzten farbige Gebilde, die Welt wurde übergangslos schwarz. Er wollte das Bewusstsein verlieren, sich ihrer erlösenden Umarmung hingeben, doch etwas trieb ihn weiter an. Wogen aus Adrenalin und synthetischen Stimulanzien brandeten gegen seine Benommenheit.
Die Druckwelle der Granate fegte zwei Meter über ihn hinweg. Mit Mühe zwang Devon seine rechte Hand zum manuellen Auslöser des Helms, der jedoch nur halb in den Nackenbereich zurück klappte. Der Schlag hatte ihn schwer beschädigt.
Irgendwie schaffte es Devon auf alle Viere und spuckte Blut auf den dunklen Beton des Dachs. Mit schmerzendem Nacken wandte er sich zur Seite, als er eine Bewegung am Rand seines Blickfelds wahrnahm.
Der Anblick raubte ihm die letzte Hoffnung. Er sah, wie der Hüne scheinbar ungerührt vom Landefeld heruntersprang. Devon konnte nicht glauben, dass die riesige Gestalt noch immer auf den Beinen stand. Die Granate hatte ihm den linken Arm komplett zerfetzt. Kabelstränge, graue Metallteile und Kunststoff hingen aus der Schulter. Blut und andere Flüssigkeiten tropften aus der offenen Wunde. Auch der Helm war dem Hünen regelrecht vom Kopf gerissen worden. Die Haut im Gesicht des Mannes war aufgeplatzt und verbrannt, ein Ohr hing in Fetzen.
Ohne den Helm hatte Devon Mühe, inmitten des Sandsturms die Augen offen zu halten. Doch er konnte den Blick nicht von dem Riesen lösen, der nun behäbig auf ihn zu stapfte. Devon wusste, dass er den kybernetischen Kräften dieses Mannes nichts mehr entgegenzusetzen hatte. Trotz der Stimulanzien waren seine eigenen Körperkräfte so gut wie verbraucht, sein Körper wurde von Schmerzen gepeinigt.
Ohne die Filter seines Helms hatte sich das Tosen des Sturms deutlich intensiviert. Dennoch konnte er die schweren Schritte des verletzten Angreifers hören, die sich ihm mit tödlicher Gewissheit näherten. Devon ging mühsam auf die Knie, zog die letzte Granate von seinem Anzug und aktivierte sie. Als er sie warf, zuckte ein stechender Schmerz durch seine rechte Schulter, sodass der Wurf schwächer ausfiel als kalkuliert. Die EMP-Granate flog wie ein schlecht geworfener Baseball auf den Hünen zu. Der fischte die Granate aus der Luft und zerquetschte sie zwischen den kräftigen Fingern seines rechten Arms. Ein bösartiges Grinsen schälte sich aus seinem angesengten Gesicht.
Devon hatte seine letzte Chance verspielt. Mit blitzenden Symbolen vor den Augen, musste er mitansehen, wie sich ihm der Tod in Gestalt des Riesen näherte. Mit wortlosem Zorn näherte sich die massige Gestalt und mit jedem Schritt schlug das Herz in Devons Brust ein wenig schneller. Er hatte keine Angst zu sterben, aber Aufgeben war keine Option, nie gewesen. Seine linke Hand ergriff das Messer und presste es nahe an den Körper. Die nächsten Sekunden würden entscheiden, ob er lebte oder starb und mit ihm Sethi und Vorsitzende Colley, die sich irgendwo auf dem Flugfeld versteckte.
Mit halb geschlossenen Augen sah Devon, wie sich ein Gebirge über ihm auftürmte. Er kanalisierte seine allerletzten Kräfte, ignorierte die schrecklichen Schmerzen, spannte seine Muskeln an und schnellte in die Höhe. Dieses letzte Aufbäumen hatte der Hüne nicht erwartet und reagierte eine Sekunde zu spät. Sein Hieb verfehlte Devon.
Lautlos schnitt das Messer durch die Luft. Devon stieß die Klinge tief in den Hals seines Gegners, ehe er es einmal mit aller Kraft herumdrehte und damit die Wunde weit öffnete.
Mit einem furchtbaren Gebrüll wischte der Hüne ihn weg und Devon stürzte der Länge nach auf das Dach des Ariabuildings. Mit schmerzverzerrtem Gesicht rollte er sich auf den Rücken und erwartete, den Hünen noch einmal abwehren zu müssen. Als seine Augen jedoch die dunkle Gestalt inmitten des allgegenwärtigen Sandes erkannte, atmete er auf. Der Hüne machte ein paar letzte Schritte, bevor er vornüber sackte und mit einem dumpfen Ton aufschlug.
Devon blieb für einen Moment liegen und schloss die Augen. Durch seinen gesamten Körper brandeten Schmerzen, die ihm ohne die Schmerzmittel und Kampfstimulanzien längst den Verstand geraubt hätten. Alles drängte ihn, liegen zu bleiben, doch wieder einmal siegte seine Hartnäckigkeit. Trotz aller körperlichen Widerstände kam er auf die Beine und stieg humpelnd die metallische Treppe zum Landefeld hinauf.
Colley kniete jetzt an Sethis Seite und sah auf, als sie Devon inmitten des Sturms ausmachte.
»Lebt sie?«, rief er über das Landefeld hinweg.
»Ich weiß es nicht.«, brüllte die Vorsitzende zurück, um das Getöse zu übertönen.
Das Neuroimplantat von Devon war schwer beschädigt. Die Anzeigen vor seinen Augen flackerten nur noch und waren vollkommen unleserlich. Das verhinderte auch, dass er Sethis Vitalwerte ablesen konnte. Er ließ sich neben ihr nieder. Ihr Helm war komplett demoliert. Devon versuchte ihn zu öffnen, doch der Mechanismus funktionierte nicht mehr.
»Verdammt!«, fluchte er. »Bleiben Sie am Leben, Lieutenant.«
Sein ganzes Team war gefallen, er durfte sie nicht auch noch verlieren.
»Was machen wir jetzt?«, fragte die Vorsitzende verängstigt.
»Verschwinden.«, sagte Devon und kehrte zu dem Hünen zurück. Er durchsuchte den Leichnam und fand einen Signalgeber für den Gleiter auf dem Landefeld.
»Nehmen Sie das.«, sagte er zu Colley und hob Sethis leblosen Körper auf.
Schmerzen jagten durch seine Arme und seinen Rücken. Er biss die Zähne zusammen und stapfte auf den dunklen Gleiter zu. Colley hatte ihn mittlerweile mit dem Signalgeber geöffnet. Devon gab Sethi in die Obhut der Vorsitzenden und nahm auf dem Pilotensitz Platz, als bewaffnete Rebellen auf das Dach strömten.
»Sie kommen!«, rief Colley mit blankem Entsetzenund deutete auf die maskierten Männer, die sich unter der Führung des Langhaarigen näherten.
Devon verschaffte sich einen groben Überblick über Funktionsweise und Steuerung dieses Gleiters. Er kannte das Modell nicht, aber es unterschied sich nicht grundlegend von jenen, die er schon geflogen hatte. Er hatte nicht lange Zeit sich umzusehen, denn die Rebellen eröffneten bereits das Feuer. Kugeln prallten an der Außenpanzerung des Fluggeräts ab, doch die würde nicht ewig standhalten. Die ersten Männer stürmten wenig später das Landefeld. Eine Detonation ließ den Gleiter erbeben.
Colley kauerte mit Sethi im Arm hinter Devon und schluchzte verängstigt. Gleich darauf leitete Devon den Start ein. Die Triebwerke sprangen an und ließen den Gleiter vibrieren. Immer mehr Kugeln trafen die Außenpanzerung und brachten Warnanzeigen auf den Bildschirmen zum Leuchten. Über die Außenkameras verfolgte Devon, wie die Rebellen versuchten, sie am Starten zu hindern. Ihr Anführer gab hastig Zeichen. Zwei Männer schleppten eine schwere Luftabwehrrakete herbei, doch dann hob der Gleiter mit dröhnenden Triebwerken vom Landefeld ab.
Devon beschleunigte so schnell er konnte und steuerte das Fluggerät senkrecht in die Höhe. Immer mehr Warnanzeigen leuchteten auf, während seine Hände die Steuerung umklammerten. Die Triebwerke jaulten, als sie sich durch den Sandsturm nach oben kämpften, immer und immer höher. Die Zelle des Gleiters knackte. Es klang, als würde ein Steinregen auf die gepanzerte Außenhaut niedergehen.
Die Zeit schien sich ins Unendliche zu dehnen, als sich das Bild schlagartig änderte. Devon erblickte die Sonne.

Zone: Pain

Nyx fand sich in einem kargen Raum zwischen grauen Mauern wieder. Die Wände waren mit verkrustetem Blut bedeckt. Der kalte Geruch von Beton und Tod lag in der Luft. In der Mitte des Raums war ein rostiges Metallgestell aufgebaut, auf das man einen Menschen schnallen konnte. Überall hingen Ketten und Haken von der Decke. Zwischen den Blutflecken an der Wand wartete ein blutiges Sortiment an Folterwerkzeugen auf seinen Einsatz. In diesem Raum waren schon unzählige Zoner einen virtuellen Tod gestorben, der größte Kick für die Masochisten und sehr nahe an der Realität. Doch Nyx wusste, dass sie bei einem Tod ihres Avatars keiner Sicherheitsschaltung vertrauen konnte, die ihr Gehirn vor Schäden bewahrte.
Nyx war hier sicher, bis der Hacker die Sicherung der Rauminstanz geknackt haben würde. Sie hatte ein wenig Zeit gewonnen, doch lange würde sie sich hier nicht verstecken können. Sie rannte zur Wand und nahm sich ein langes, scharfes Messer, auf dem noch verkrustetes Blut klebte, ehe sie in die Nähe der Tür zurückkehrte. Unterdessen arbeitete sich der stärkste Teil ihres Maschinenbewusstseins mit mathematischer Genauigkeit im Server voran. Tiefer und tiefer tauchte sie in die Funktionen der Zone ein und lieferte sich gleichzeitig ein Duell mit dem fremden Hacker. Der Kampf verhinderte, dass einer von ihnen die Kontrolle vollständig an sich reißen konnte. Also konzentrierte sich Nyx nur auf einen kleinen Teil des komplexen Systems.
In diesem Moment öffnete sich die Tür. Die vier Männer drangen in den Raum ein und postierten sich so, dass Nyx keine Chance hatte zu entkommen. Ohne Schuhe und mit zerrissenem Kleid stand sie inmitten des Halbkreises, den die Angreifer geformt hatten. Das Blut rann warm ihren linken Arm herunter und tropfte auf den dreckigen Betonboden. Das Messer in ihrer rechten Hand zitterte. Alle Läufe waren auf sie gerichtet.
»Lassen Sie das Messer fallen, Sie haben keine Chance.«, sagte einer von ihnen.
Nyx spürte gleich einem fernen Echo ihrer eigenen Stimme, wie ihr Maschinenbewusstsein bestimmte Parameter im Pain veränderte und dann griff sie an. Sie sprang auf den Anzugträger zu, der ihr am nächsten stand und rammte ihm das Messer in die Brust. Sein Schrei klang langgezogen und abgehackt, da war Nyx bereits beim zweiten Angreifer. Sie schlitzte dem Mann den Hals auf, ehe sich dieser wehren konnte. Mit tiefer Befriedigung verfolgte sie, wie sich sein Hals öffnete und das Blut in Zeitlupe aus der Wunde strömte.
Alle Bewegungen der Männer hatten sich enorm verlangsamt. Nyx hatte die Zeit-Parameter der Zone verändert. Nur sie war davon ausgenommen. Die Läufe der Waffen wollten den schnellen Manövern von Nyx folgen, doch sie waren wie gehemmt. Die Körper ihrer Gegner bewegten sich wie unter Wasser.
Nyx war inzwischen beim dritten Angreifer angelangt und rammte ihm das Messer mehrmals in die Seite. Die verzerrten Schreie und das Gurgeln der Männer vermischten sich zu einem einzigen, urzeitlichen Grölen. Der letzte Gegner hatte es trotz der Verlangsamung geschafft, die Waffe herumzureißen, und feuerte einige Kugeln ab. Nyx beobachte, wie die Projektile den Lauf verließen und sich in Schrittgeschwindigkeit durch den Raum bewegten. Sie ging hinter dem Mann in Deckung, den sie gerade mit dem Messer bearbeitet hatte. Die Geschosse bohrten sich mit einem dumpfen Plopp in seinen Körper.
Nyx rollte zur Seite, während der Lauf des letzten Angreifers ihr schleichend folgte. Sie beschrieb einen Halbkreis und kam dann neben ihm zum Stehen. Nyx sah sein verständnisloses Gesicht und wie er verzweifelt versuchte, eine Abwehrhaltung einzunehmen.
Man hatte ihr also echte Menschen auf den Hals gehetzt, für die dieselben Regeln galten wie für Nyx. Wenn sie hier starben, konnte es gefährlich für ihre Gehirne werden. Damit hatten diese Bastarde bestimmt nicht gerechnet.
»In der Zone bin ich eine Göttin!«, rief Nyx und stieß ihm das Messer von unten in den Kiefer.
Die rostige Klinge bohrte sich tief in den Kopf des Mannes. Zwischen den Zähnen konnte Nyx das Metall der Schneide erkennen, während sie den sich ausbreiteten Blutstropfen auswich.
Jetzt erst schlug ihr erstes Opfer am Boden auf. Plötzlich wurde die Szenerie wieder schneller und auch die restlichen drei stürzten fast zeitgleich zu Boden.
»Shit!«, entkam es Nyx, nachdem ihr der fremde Hacker die Kontrolle über die Zeit in der Zone entrissen hatte.
Gleichzeitig verstärkte der zweite Hacker seine Bemühungen, ihre Box zu knacken. Nyx war gezwungen diesen Teil ihres Maschinenbewusstseins zu verstärken, indem sie Ressourcen der anderen beiden abtrat. Sie musste sofort den Ausgang erreichen, wenn sie diesen Kampf nicht verlieren wollte. Nyx nahm zwei der Waffen an sich, die offensichtlich über unbegrenzte Munition verfügten und verließ den Folterraum.
Sie hetzte den Gang entlang und die Stufen hinauf. Als sie in den Hauptsaal zurückkehrte, empfing sie ein weiteres Todeskommando aus vier gesichtslosen Klonavataren. Sofort drückte sie sich gegen die Wand, um nicht getroffen zu werden.
Unterdessen jagte ihr geteiltes Maschinenbewusstsein durch den Server der Zone, verfolgt von dem fremden Hacker, der sie zu isolieren versuchte. Doch sie bot ihm eine Verfolgungsjagd und verhinderte dadurch, dass er sich den Rootzugriff auf die Zone sicherte. Es war ein Katz-und-Maus-Spiel, das ihr mehr Zeit verschaffen sollte.
Erneut entschied sie sich wahllos für einen Raum und trat ein. Sofort stellten sich ihr alle Haare auf, als sie sich in der Eiseskälte eines Kühlraums wiederfand. Die gesamte Einrichtung, darunter ein Bett, mehrere Stühle, eine Couch und andere Gegenstände waren allesamt aus Eis gefertigt. Ihr Atem erzeugte feine Dampfwolken, als sie ausatmete.
Wieder hatte ein Teil ihres Maschinenbewusstseins die Kontrolle über eine Regel des Raums gewonnen und deaktivierte sie. Nyx spürte, wie ihr Körper schlagartig jegliches Gewicht verlor. Sie stieß sich noch rechtzeitig vom Boden ab und schwebte an die Decke. Gläser und Flaschen aus Eis hoben langsam von ihren frostigen Abstellplätzen ab und begannen ihren Flug durch den Raum. Nyx hielt sich dicht unter der Decke, die beiden Pistolen auf den Eingangsbereich gerichtet. Gleich darauf stürmten die vier Angreifer herein. Sie wussten nicht, wie ihnen geschah, als sie plötzlich den Halt unter ihren Füßen verloren und rasant quer durch den Raum segelten.
Nyx feuerte die Waffen ab. Ihre Kugeln trafen jedoch nur einen Angreifer, die anderen schossen unter ihr vorüber.
Nyx merkte sofort, dass ihr Körper Schwierigkeiten hatte, den Rückstoß zu kompensieren, vor allem durch die Verletzung der linken Schulter, also ließ sie die zweite Pistole los und umklammerte die andere mit beiden Händen. Die Schüsse hatten sie ein wenig von ihrer letzten Position abgetrieben. Nyx nutzte die anhaltende Verwirrung der Angreifer, um einen weiteren von ihnen zu erledigen. Doch dann hatten sich die zwei Verbliebenen auf die Situation eingestellt und erwiderten das Feuer. Kugeln jagten durch den Raum und rissen eisige Bruchstücke aus der Umgebung, die wie Glassplitter umher flogen. Nyx stieß sich mit den nackten Füßen an der Wand ab und entkam so ein paar gut gezielten Schüssen. Ein spitzes Eisfragment schnitt ihr schmerzend über die Wange.
Sie konnte einen weiteren Mann erledigen, der sich selbst in eine obere Ecke des Raums manövriert hatte. In diesem Moment hatte sich der letzte Angreifer von der Wand abgestoßen und steuerte feuernd auf Nyx zu. Sie machte einen Überschlag, um den Kugeln auszuweichen, und schoss zurück, wobei sie beinahe den Boden erreicht hatte. Um Haaresbreite verfehlte er sie und schwebte jetzt ein ganzes Stück weit über ihr, als ihr Maschinenbewusstsein die Schwerkraft reaktivierte. Eine unsichtbare Hand schien nach dem Anzugträger zu greifen und ihn herabzuziehen. Er klatschte der Länge nach auf den vereisten Boden und verlor dabei die Waffe.
Nyx konnte die letzten Zentimeter ihres Sturzes gerade noch abfangen und näherte sich rasch dem Angreifer. Eissplitter und Blutstropfen ergossen sich wie Regen über den beiden, während die leblosen Körper der anderen auf den Boden knallten. Der Mann hustete Blut auf das bläuliche Eis und sah zu Nyx auf, die den Lauf auf seine Stirn gerichtet hatte. Sie schenkte ihm einen letzten, angewiderten Blick und drückte ab.
Der Schuss war noch nicht verhallt, als sie den Raum bereits wieder verlassen hatte.

Halb erfroren kehrte Nyx in den Hauptsaal des alten Herrenhauses zurück. Sie fühlte ihre Zehen kaum noch. Die Panik griff nach ihr, als sie spürte, wie ihr Maschinenbewusstsein die Schlacht allmählich an allen Fronten verlor. Ihr blieb nur noch wenig Zeit. Hatte der Hacker erst einmal die volle Kontrolle, würde er die gesamte Zone gegen sie verwenden.
Nyx hatte den Saal bereits halb durchquert, als vor ihr ein Mann aus dem Nichts erschien. Nyx erschrak und wäre beinahe gestürzt, als sie ihren Lauf jäh stoppte. Sie wollte umdrehen und erkannte mit Schrecken, dass überall im Hauptsaal Anzugträger auftauchten. Sie wusste, dass es sich bei diesen neuen Angreifern um künstliche Charaktere handelte, Programme innerhalb der Zone. Jetzt, da ihr Maschinenbewusstsein es nicht mehr verhinderte, konnte der Hacker die Programme einschleusen, um sie endgültig zu erledigen.
Nyx schaltete schnell und lief auf die Treppe zu, die ins nächste Stockwerk führte, als sich die Blicke aller Anzugträger gleichzeitig auf sie richteten. Sie hastete die hölzernen Stufen hinauf, die unter ihren Schritten knarzten, als die Killerprogramme das Feuer auf sie eröffneten. Um sie herum knallte es. Holz und Stein splitterten, als die Kugeln einschlugen. Geduckt versuchte sie das obere Stockwerk zu erreichen.
Sie schrie auf, als sich eine Kugel in ihre Seite bohrte. Die letzten beiden Stufen stürzte sie hinauf und landete stöhnend auf dem gemaserten Fußboden. Sie zwang den schmerzenden Körper, sich aufzurichten, und stolperte weiter.
Hinter ihr erklangen stakkatoartig die Schritte der bewaffneten Programme. Ihr Verstand suchte verzweifelt nach einem Ausweg, doch sie konnte nur auf dem Parkplatz vor dem Herrenhaus entkommen und der Hacker würde bald die Kontrolle über die gesamte Zone haben.
Ihr Maschinenbewusstsein gab die Funktionen der Zone und damit den Kampf gegen den Hacker auf. Ihre digitalen Gedanken rasten einem neuen Ziel entgegen, während Nyx selbst versuchte, das breite Fenster zu erreichen.
Plötzlich spürte Nyx, wie die Schmerzen ihrer Wunden außerordentlich anstiegen. Gleichzeitig schwoll auch ihre restliche Körperwahrnehmung zu einer unangenehmen Last heran. Sie wusste, was das bedeutete: Der Hacker kontrollierte den Grad der Empfindungen in der Zone. Bald würde sie selbst eine einfache Berührung beinahe in den Wahnsinn treiben.
Es gab keine Tricks mehr, keine physikalischen Gesetze, die sie beugen konnte, der Hacker erlangte nach und nach die Kontrolle.
»Gib auf, ich habe jeden Moment Rootzugriff und dann gehörst du mir.«, hallte eine allgegenwärtige Stimme durch die Zone, als würde Gott persönlich zu ihr sprechen.
Nyx wusste, wie recht die Stimme hatte, antwortete aber nicht. Die Schmerzen wurden mit jeder Sekunde unerträglicher. Das große, mit dunklen Vorhängen verhüllte Fenster kam rasch näher. Mühsam hob sie die Waffe und feuerte eine Salve ab. Glas splitterte, während sich die Verfolger von hinten näherten. Sie schoss, ohne zu zielen, hinter sich, das Fenster weiter im Blick.
Im letzten Moment drang ihr Maschinenbewusstsein in die Map ein, das physikalisch Grundgerüst der Zone, und manipulierte sie. Ein Stück des Bodens verschwand, als hätte er niemals existiert, und baute sich unvermittelt als Wand zwischen Nyx und den feindlichen Programmen auf. Kugeln, die ihr gegolten hatten, trafen auf das unvermittelt erschienene Hindernis. Genug Zeit für Nyx. Sie sprang, ohne zu zögern, aus dem Fenster, einen Schrei auf den Lippen.
Sie wollte sich abrollen und spannte den Körper in Erwartung des Aufschlags an, doch der metertiefe Fall war zu viel für sie. Ihre Empfindungen waren mittlerweile dermaßen geschärft, dass sie jeden Knochen einzeln brechen spürte. Sie hatte das Gefühl in tausend Stücke zu zerbrechen und schrie auf. Das gesteigerte Schmerzempfinden raubte ihr beinahe den Verstand. Nur der Gedanke, dass es nicht real war, ließ sie auf allen Vieren weiter auf den Ausgang der Zone zu kriechen.
In einem letzten verzweifelten Versuch, ihren Avatar zu retten, veränderte ihr Maschinenbewusstsein die Zone. Sie erschuf eine Wand aus Asphalt hinter sich, die sie bis zum Ausgang vor den feindlichen Programmen schützen sollte. Doch Nyx spürte, wie ihr Körper starb. Roter Nebel engte ihre Sicht ein, während das Blut unheilvoll in ihren Ohren rauschte.
Ihr Maschinenbewusstsein stand kurz vor dem Zusammenbruch. Die mehrfache Trennung hatte ihre geistigen Ressourcen aufgebraucht und ihr Geist drohte zu kollabieren. Das Neuroimplantat fühlte sich an wie ein heißes Stück Eisen, das ihr jemand durch die Augen hindurch in den Kopf getrieben hatte. Dennoch gab sie nicht auf.
Nyx schleppte ihren sterbenden Avatar weiter, der immer wieder zusammenbrach. Draußen schossen die gesichtslosen Männer auf die Barriere aus Asphalt, die langsam zu bröckeln begann. Nur noch wenige Meter trennten sie von ihrem Ziel, doch die Strecke erschien ihr wie eine endlose schwarze Wüste voller Glasscherben.
Hinter ihr bröckelte die Barriere. Panik erfüllte Nyx, als die Kälte des Todes nach ihr griff und sich wie lähmendes Gift in ihrem Körper ausbreitete. Und dann erreichte sie den Ausgang mit den Fingerspitzen.

3 – reboot

Lower Chicago – USA

Die Realität traf Nyx mit der Wucht eines Verkehrsunfalls. Von blankem Entsetzen erfüllt stürzte sie zurück in die reale Welt. Mit einem langen Atemzug saugte sie sich die abgestandene Luft ihrer Wohnung in die Lungen. Ihr Herz hämmerte im rasenden Takt der Datenleitungen und drohte auszusetzen.
Sie hatte den Ausgang des Pain erreicht und war von der Box zurück in die reale Welt geschleudert worden, aber ihr Verstand kämpfte noch mit den Nachwirkungen des misslungenen Dives. Nur knapp war sie dem Tod entronnen, dessen Kälte sich fest an sie klammerte und sie nicht einfach freigeben wollte.
Ihr gesamter Körper bebte beim verweifelten Versuch, das Gefühl des Sterbens abzuschütteln. Während ihre Sinne verrückt spielten, bewegte sich die Welt um Nyx herum. Die fleckigen, grauen Wände schienen zu atmen, sich aufzubäumen, bevor sie eine Sekunde später wieder in sich zusammensanken. Farben explodierten vor ihren Augen.
Irgendwo in einem weit entfernten Teil ihres Verstands erkannte sie ihre Wohnung wieder, doch ihr Bewusstsein hatte große Mühe, die Rückkehr zu verarbeiten. Immer noch verzerrte sich ihre Wahrnehmung und als sie dem endgültigen Kollaps nahe war, übergab sich Nyx auf dem Bett.
Angestrengt versuchte ihr überbeanspruchtes Gehirn alle Fragmente ihres Bewusstseins wieder zusammenzusetzen und der Welt ihre ursprüngliche Bedeutung zurückzugeben. Doch Nyx war wie im Wahn, die Ereignisse im Pain hafteten noch an ihr, als hätte sie die Zone nie verlassen.
Fiebrig riss sie sich das Kabel vom Kopf und stieß die Box vom Bett, als sei sie Teufelswerk. Der Aufprall klang wie Donner. Ihre Wohnung schien zu schreien, zu ächzen. In jedem Schatten glaubte sie die bewaffneten Männer wiederzuerkennen. Ihr Kopf war eine Kuppel pulsierenden Schmerzes, dem Bersten nahe. Das Gefühl einer unmittelbar drohenden Gefahr zwang Nyx, ihr Bett zu verlassen. Doch ihr Körper hing wie etwas Fremdes an ihr, über das sie nur rudimentäre Kontrolle hatte.
Sie stürzte und landete auf einem Haufen Schmutzwäsche, der ihren Sturz auffing. Doch die Angst trieb sie weiter. Auf allen vieren kroch sie zwischen dem Müll der letzten Tage über den dreckigen Fußboden. Die Gliedmaßen von Nyx schleppten sie wie programmiert in das Bad, während die Fragmente ihres Bewusstseins ihren verzweifelten Kampf um die Rückkehr in die reale Welt verloren.
Eine letzte Welle aus Verwirrung und Schmerz jagte durch ihren Körper und ihren Geist, als sie auf den schmutzigen Fliesen zusammenbrach.

Kapstadt – Südafrika

Devon erwachte in der weichen Umarmung eines Krankenhausbetts. Ein trüber Filter hatte sich über seine Sinne geschoben und es dauerte ein paar Minuten, bis die Benommenheit von ihm abgefallen war. Ein unangenehmes Prickeln zuckte durch seine Nervenenden, als sich das Bild seiner optischen Implantate einstellte. Er identifizierte das Gefühl als Neukalibrierung seiner Systeme und ließ es über sich ergehen.
Als er den Kopf schließlich zur Seite drehte, sah er einen Mann in einem Stuhl neben seinem Bett sitzen, die Hände im Schoß. An der Uniform und den Rangabzeichen erkannte Devon, dass es sich um einen First General der Ratsarmee handelte.
»Guten Morgen, Major Reeves.«, sagte die eindrucksvolle, dunkelhäutige Gestalt.
Devon wollte sich aufrichten, um zu salutieren, doch die Schmerzen hinderten ihn daran.
»Entspannen Sie sich, Major.«, beruhigte ihn der General. »Sie haben einiges durchgemacht.«
Devon sah sich um und erkannte, dass er bis auf den General alleine war. Man hatte ihn in ein Einzelzimmer gelegt. Das Krankenzimmer zeichnete das saftige Grün einer sommerlichen Wiese an die Bildschirmwände, sodass es schien, als wären sie im Freien. Musik flüsterte ihm aus verborgenen Lautsprechern beruhigend zu.
»Ich bin First General Renan Silva Cardoso und es ist mir eine Ehre, Sie kennen zu lernen.«
Devon versuchte den Rest der Benommenheit weg zu blinzeln, doch scheinbar waren es die Nebenwirkungen der Behandlung oder der Schmerzmittel, die man ihm verabreicht hatte.
»Es ist mir auch eine Ehre, General.«, gab Devon pflichtbewusst zurück.
Erst jetzt spürte er, dass etwas anders war. Seine Finger tasteten zögernd zu seiner Stirn und erfühlten einen Verband.
»Die Ärzte mussten Ihr Neuroimplantat austauschen, es wurde im Kampf beschädigt.«, erklärte der General gelassen, während er den Major aufmerksam beobachtete.
Devon ergriff das Touchpanel, das vor seinen Augen hing und fuhr damit das Rückenteil des Bettes langsam so weit nach oben, dass er in eine halb sitzende, halb liegende Position kam. Trotz der Schmerzmittel spürte er die langsame Bewegung als Stechen in seinem gesamten Körper. Umgehend passte sich das pneumatische Krankenbett seinen Körperkonturen an und nahm ihm so einen Teil der Schmerzen.
»Was ist mit Lieutenant Sethi?«, fragte Devon hastig, als ihm seine schwer verletzte Kameradin einfiel, die er zuletzt leblos in den Armen der Vorsitzenden gesehen hatte.
Cardoso strich sich über seinen gepflegten Bart.
»Es hat sie ziemlich erwischt.«, erklärte er. »Schweres Hirntrauma, innere Verletzungen, Brüche. Außerdem musste der linke Unterarm samt Hand ersetzt werden. Aber sie kommt wieder auf die Beine. Machen Sie sich keine Sorgen, Major. Sie ist in besten Händen.«
Devon schloss die Augen und dankte seufzend dem Universum, wenigstens hatte er eine Kameradin zurückbringen können. Der General wartete geduldig, bis Devon die Augen wieder öffnete.
»Ich bin froh, das zu hören.«, sagte Devon. »Und wie geht es der Vorsitzenden?«
»Mal abgesehen von dem schweren Schock ist sie größtenteils unverletzt.«, sagte Cardoso. »Sie sind ein Held, wissen Sie das?«
Sie sind ein Held. Das Echo der Worte hallte leer in seinem Bewusstsein wider. Obwohl Stimulanzien und Schmerzmittel einen Schleier über sein Denken und seine Empfindungen gelegt hatten, kehrten die Erinnerungen an die Mission in Johannesburg mit brutaler Härte zurück. Tod, Zerstörung und Verlust waren das Einzige, was er mit dem Einsatz verband.
Cardoso fuhr sich nachdenklich über seinen kahl rasierten Kopf.
»Es tut mir leid, Major, aber ich habe genehmigt, die Einsatzdaten Ihrer Implantate zu extrahieren, um sofort Informationen über den Verlauf der Mission zu erhalten.«
»Selbstverständlich.«, sagte Devon, der bereits damit gerechnet hatte. Während der Einsätze wurden stets alle Daten der optischen und akustischen Implantate zur späteren Auswertung gespeichert.
»Es tut mir leid wegen Ihrer Männer.«, sagte Cardoso mit ernster Miene. Devon nickte nur.
Der General räusperte sich. Seine große, uniformierte Gestalt wirkte seltsam deplatziert inmitten der projizierten, grünen Landschaft.
»Major, ich weiß nicht, ob irgend jemand geschafft hätte, was Sie an diesem Tag vollbracht haben. Die wenigsten hätten es angesichts der Aussichtslosigkeit Ihrer Situation überhaupt versucht.«
»Ich konnte das nur mit Hilfe von Lieutenant Sethi.«, sagte Devon. »Sie hat sich ohne zu zögern für die Mission ausgesprochen, obwohl sie sich unserer geringen Chancen durchaus bewusst war.«
Cardoso lächelte, als hätte er eine alte Erinnerung wieder erkannt.
»Ja, das ist Lieutenant Sethi.«, sagte er halb zu sich selbst. »Der Ehrgeiz dieser Frau wird mich eines Tages meinen Job kosten. Sie würde für den Erfolg einer Mission alles tun.«
Der letzte Satz klang in den Ohren von Devon etwas abfällig, aber vielleicht irrte er sich auch. Momentan konnte er seinen Sinnen nicht völlig trauen.
»Sie ist eine Bereicherung für meine Einheit. Seit sie zu mir versetzt wurde, konnte ich mich stets auf sie verlassen.«, sagte Devon und dachte an das abweisende Gesicht der attraktiven indischen Soldatin.
»Da bin ich mir sicher.«, sagte Cardoso. »Immerhin ist Ihre Einheit die erste, in der es bisher keine Probleme gab. Aber genug von den Eigenheiten dieser Frau.«
Devon verspürte den Drang, aufzustehen und nach Sethi zu sehen. Er wollte sich mit seinen eigenen Augen vergewissern, dass es ihr gut ging. Viel zu frisch waren die Erinnerungen an den Tod seines restlichen Teams. Doch weder sein noch ihr Zustand erlaubten ein solches Treffen, also musste er sich mit dem Wort des Generals zufriedengeben.
»Ich habe gesehen, wie Sie gegen diesen getechten Kämpfer angetreten sind.«, begann Cardoso mit großem Respekt in seiner Stimme. »Trotz Ihrer körperlichen Unterlegenheit konnten Sie ihn ausschalten. Sie haben bewiesen, dass sie zu den Besten im Heer gehören.«
Devon hatte immer ein seltsames Gefühl, wenn ihm jemand ein Kompliment machte, auch wenn es ernst gemeint und harmlos war. In diesem Fall war das nicht anders. Aber vor allem klammerte Cardoso den Einsatz von Sethi aus, ohne den er in Johannesburg zusammen mit all den anderen gefallen wäre.
»Danke, General.«
»Sie haben Vorsitzende Colley aus einer ausweglosen Situation gerettet, das wird die Frau Ihnen niemals vergessen.«, sagte der General und hob die Augenbrauen. »Und einen Gefallen bei so einer mächtigen Person gut zu haben, ist bestimmt kein Schaden.«
Devon nickte nur. Das alles interessierte ihn im Grunde wenig, vielmehr nagte die Ungewissheit an ihm.
»Was ist da wirklich geschehen?«, verschaffte er seiner Neugierde Luft. »Wie konnte uns die Situation in Johannesburg derart entgleiten?«
Cardoso machte ein sorgenvolles Gesicht, das ihn älter wirken ließ.
»Wir haben die Lage einfach unterschätzt.«, begann er. »Bisher waren die Aufständischen wenig organisiert und nur vereinzelt ein Problem. In den letzten Monaten gingen ihre Aktionen sogar drastisch zurück, was uns glauben ließ, ihre Kräfte seien geschwunden. Also haben wir die Truppen reduziert. Doch offenbar hat ein einzelner Mann, den alle nur Crow nennen, die Rebellen im Geheimen geeint.«
»Crow?«, fragte Devon und dachte an die beiden Männer, auf die Sethi und er im Ariabuilding getroffen waren und von denen jetzt einer tot war.
Cardoso nahm ein transparentes Datapad zur Hand und aktivierte es. Sofort leuchteten die holografischen Elemente auf. Nach ein paar Berührungen manifestierte sich das Abbild einer finsteren Gestalt auf der Wand gegenüber von Devon. Es war eindeutig der zweite Mann, der sich mit dem kybernetischen Kämpfer im Ariabuilding unterhalten hatte. Die Maske, das lange Haar, der dunkle Kampfanzug. Devon erkannte ihn auf der Stelle wieder.
Zwei absolut schwarze Augen starrten auf Devon herab, offensichtlich ebenfalls Implantate.
»Sie haben ihn zusammen mit dem kybernetisch verbesserten Soldaten im Ariabuilding gesehen.«, versuchte Cardoso seine Erinnerungen zu wecken.
Devon nickte.
»Wir haben noch nicht viel, aber dieser Mann scheint hinter dem ganzen Chaos zu stecken.«, erklärte Cardoso. »Er hat uns unvorsichtig werden lassen und unterdessen eine ganze Armee aufgebaut, was ihm angesichts der Zustände in Afrika nicht schwer gefallen sein kann. Die Verzweiflung hat die Menschen direkt in seine Arme getrieben. Die Rebellen nennen sich selbst Followers of the new Order, kurz FNO.«
Devon blickte in zwei seelenlose Augen, die genauso gut zu einer Maschine gehören konnten.
»Unsere Agenten konnten einen von ihnen entführen.«, fuhr Cardoso nach kurzer Pause fort. »Als wir ihn befragten, sprach er von Crow wie von einem Messias. Seine Männer würden sich ohne zu zögern für ihn opfern. Dieser Mann weiß offenbar, wie er die Leute anspricht, was ihn äußerst gefährlich macht.«
»Wissen wir schon, wer er ist?«, fragte Devon.
»Wir wissen noch so gut wie nichts.«, gestand Cardoso. »Unsere Agenten arbeiten aber bereits daran. Zwei Ghostteams wurden vor kurzem nach Johannesburg entsandt, um mehr über ihn herauszufinden.«
»Und der Tech, der uns beinahe getötet hätte?«, wollte Devon wissen.
»Von ihm wissen wir noch weniger.«, antwortete der General. »Kein Bild in den Datenbanken, kein Name, nichts. Der Gefangene wusste auch nichts über ihn.«
Devon konzentrierte sich auf die Erinnerungen an die Mission und rief sich noch einmal das Gespräch der beiden Männer ins Gedächtnis.
»Er hat von seinen Auftraggebern gesprochen.«
»Auch da tappen wir noch im Dunkeln.«, sagte der General. »Aber es muss jemand sein, der über die enormen Mittel verfügt, eine Rebellenarmee mit so einer Ausrüstung auszustatten. Es werden bereits Nachforschungen beim Waffenhersteller Turov angestellt. Jedenfalls war bei diesem Angriff alles bis ins kleinste Detail geplant. Der Sandsturm war sozusagen die Initialzündung für die Aktion, danach wurden alle Verbindungen zum Frame gekappt und modernste Störsender eingesetzt. Unsere Truppen waren chancenlos und gingen im Chaos unter.«
»Wie hoch sind die Verluste?«, fragte Devon.
Cardoso schüttelte den Kopf und wirkte plötzlich um Jahre gealtert. Die robuste Gestalt des Generals hatte innerhalb eines Augenblickes einen Großteil ihrer Kraft eingebüßt.
»Zu hoch.«, presste er hervor. »Vermutlich lebt kein einziger Soldat mehr in der Stadt. Und wenn, wird es nicht lange so bleiben.«
Devon hatte es bereits geahnt, doch die Bestätigung aus dem Mund des Generals machte den Schrecken noch greifbarer. So viele Leben einfach ausgelöscht, so viele Kameraden tot.
»Und die Zivilisten?«, fragte Devon.
Wieder schüttelte Cardoso den Kopf.
»Johannesburg gehört jetzt den Rebellen. Aber sehen Sie selbst.«
Die Wand veränderte sich abermals, das Bild von Crow verschwand und eine Aufzeichnung wurde gezeigt. Zuerst erschien das Abbild einer düsteren Krähe, die in ihrem Landeanflug eingefroren war. Die Zeichnung war abstrahiert und wirkte auf ihre Art bedrohlich. Das schwarze, glanzlose Auge des Tiers erinnerte Devon sofort an die optischen Implantate von Crow. Kaum hatte er den Gedanken zu Ende gedacht, erschien auch schon die maskierte Gestalt des Rebellenführers in voller Größe auf dem Bild. Er hob die Arme zu beiden Seiten wie Flügel.
»Ladies und Gentlemen, willkommen in Neu Johannesburg.«
Die verzerrte Stimme von Crow rollte wie Donner durch das Zimmer und jagte Devon einen Schauder über den Rücken.
»Die Stadt gehört jetzt der FNO und das ist erst der Anfang eines Kreuzzuges, der die ganze Welt erschüttern wird.«
Es war gespenstisch, in diese vollkommen schwarzen und glanzlosen Augen zu starren. Selbst während Crow sprach, war unter der Maske keinerlei Regung zu erkennen. Die schulterlangen Haare hingen ihm wild vom Kopf und ins Gesicht.
»Zu lange hat die Welt mit angesehen, wie eine Minderheit von Menschen den Planeten und ihre Mitmenschen ausbeutet, um ihre elitären Kreise zu erhalten. Zu lange haben wir alle zugelassen, dass sie unsere Geschicke lenken, unseren Verstand manipulieren und unser Handeln kontrollieren. Während sich die Mächtigen dieser Welt an ihrem wachsenden Reichtum laben, leben bereits zwei Drittel der Menschheit in Armut.«
Nur eine steile Falte puren Zorns auf der Stirn von Crow ließ seine Emotionen erahnen.
»Doch auf diesem Kontinent ist die Lage noch viel ernster. Menschen sterben an Hunger, Trockenheit, Krankheit und am Sand, der sich gleich einem Vorboten des Todes über alles legt, was existiert. Die einzige Wahl, die diese Leute haben, ist die Art wie sie zugrunde gehen. Ein ganzer Kontinent liegt im Sterben und die Welt sieht schweigend zu. Diese Gleichgültigkeit und diese Unmenschlichkeit müssen ein Ende haben. Und genau deswegen beginnt unser gemeinsamer Krieg hier.«
Crow machte eine Pause, als müsste er seine Wut zurückkämpfen. Trotz der Maske und der Verzerrung seiner Stimme steckten tiefer Zorn und ein dunkler Hass in seinen Worten.
»Johannesburg gehört jetzt all den leidenden Menschen, die durch den Sand und die Apathie der Welt alles verloren haben. Wir nehmen uns endlich, was uns zusteht. Jeder, der versucht uns diesen Ort zu rauben, sei gewarnt: Wir werden Neu Johannesburg mit unserem Leben verteidigen, denn es ist das Einzige, das uns geblieben ist.«
Crow trat von dem Aufnahmegerät zurück. Hinter ihm waren unzählige gut gekleidete Personen zu erkennen, die gefesselt und geknebelt aufgereiht an einer Wand standen. Seitlich davon hingen düstere Flaggen mit dem Krähensymbol.
Devon hielt den Atem an, als er einige Politiker der Afrikanischen Union erkannte. Es waren jene Zivilisten, die er ihrem Schicksal überlassen hatte. Sie zitterten am ganzen Leib und starrten panisch zu Crow, der sich ihnen gleich einem Todesengel näherte. Sein Auftreten und sein Gang bewiesen, dass er einmal eine militärische Ausbildung genossen hatte.
»Diese Menschen bezeichnen sich als Vertreter des Afrikanischen Volkes.«, sagte er und deutete auf die Geiseln. »Sie sind dieselben parasitären Volksvertreter wie überall auf der Welt. Männer und Frauen, die im Namen der Bevölkerungen lügen und betrügen, während sie sich doch nur um ihre eigenen Anliegen bemühen. Sie verkaufen das Land und seine Einwohner an den Höchstbietenden und scheren sich einen Dreck um sterbende Kinder, die kein sauberes Wasser haben.«
Crow gab ein Zeichen und trat zur Seite. Devon schüttelte den Kopf in Erwartung des Kommenden. Irgendwo im Hintergrund war das Laden von Waffen zu hören, dann hallten die Schüsse durch das Krankenzimmer. Die blutüberströmten Leiber der Politiker falteten sich auf dem Boden zusammen. Die Wand hinter ihnen färbte sich rot. Das dunkle Symbol der Krähe war in Blut getränkt und wirkte so noch unheilvoller als zuvor.
»Das ist erst der Anfang.«, sagte Crow mit eiserner Stimme. »Solange sich auf dieser Welt nichts ändert, solange der Weltrat nicht endlich für Gerechtigkeit und Gleichheit sorgt, werden wir, die FNO, den Krieg in alle Welt tragen. Wir werden all jene unter einem Banner vereinen, die es leid sind, unterdrückt zu werden. Zu lange haben wir erlaubt, ausgebeutet zu werden. Zu lange haben wir alle tatenlos zugesehen. Erhebt euch, ihr, die ihr nichts habt, die ihr verzweifelt und unterjocht seid von einem korrupten System. Es ist an der Zeit zu handeln und für eure Freiheit zu kämpfen.«
Crow zeigte auf die Toten.
»Das ist eine Warnung an den Weltrat und alle sogenannten Führer der modernen Welt. Wir haben genug von euren Lügen und falschen Versprechen. Bleibt weiterhin untätig und euch wird es genauso ergehen. Niemand ist mehr sicher!«
Die Aufzeichnung endete abrupt mit dem Abbild der Krähe.
Devon strich sich über seinen Dreitagebart. Er hatte diese Leute zurückgelassen und jetzt waren sie tot, hingerichtet für das Statement dieses Mannes. Devon spürte wieder ihre anklagenden Blicke auf sich.
»Es tut mir leid, Major.«, sagte der General, der die Gefühle von Devon zu erahnen schien. »Ihnen blieb keine andere Wahl. Es war ein Wunder, dass Sie es da überhaupt raus geschafft haben.«
»Ja.«, sagte Devon knapp und schluckte den kochenden Zorn hinunter, der in seinem Inneren brodelte.
Cardoso beobachtete Devon noch eine Weile, ehe er sich auf die Oberschenkel klopfte und sich dann von seinem Stuhl erhob.
»Na dann will ich Sie nicht länger belästigen, Major. Ich dachte nur, dass Sie von mir über die Vorgänge informiert werden sollten und nicht durch die Medien, die die Sache ohnehin herunterspielen werden.«
»Danke, General.«, sagte Devon.
»Ruhen Sie sich aus, Soldat. Wir haben vorerst alle Informationen, die wir benötigen. Lassen Sie sich Zeit, Held von Johannesburg.«

Lower Chicago – USA

Als Nyx zu sich kam, schwappten die letzten Ausläufer des Schreckens durch ihr Bewusstsein. Die Erinnerungen an den Dive waren immer noch so frisch, als ob sie weiterhin mit einem Fuß im Pain stünde. Sie riss die Augen auf und sah sich hastig um, ehe sie erkannte, dass sie in ihrem eigenen Badezimmer lag. Etwas in ihrem Hinterkopf warnte sie, dass es ein Trick sein könnte, doch sie versuchte das Flüstern zu ignorieren. Obwohl eine unangenehme Taubheit ihren Körper erfüllte, zwang sie sich, aufzustehen. Sie musste sich an der schmutzigen Wand festhalten, um nicht zu stürzen. Trotz ihrer schwachen Beine gelangen ihr die wenigen Schritte bis zum Spiegel. Zwischen eingetrockneten Wassertropfen erkannte sie ihr knochiges, bleiches Gesicht mit den leicht trotzigen Zügen. Sie starrte in die braunen Augen, in die sie ihr ganzes Leben lang geblickt hatte und konnte es zuerst nicht glauben.
»Du bist noch am Leben.«, flüsterte sie.
Sie beobachtete, wie sich die schwarz bemalten, kräftigen Lippen im Spiegel bewegten, hörte ihre eigene Stimme mit ihren eigenen Ohren, spürte die Vibrationen in der Kehle und atmete schließlich erleichtert auf. Sie war wieder in der Realität.
Jetzt erst bemerkte sie, dass ihre Kleidung vollkommen durchnässt war. Sie riss sich augenblicklich das schwarze, ärmellose Top vom Körper und warf es achtlos auf einen Haufen anderer Kleider. Die enganliegende Hose aus dunklem Kunststoff klebte feucht an ihren Hüften und sie benötigte einige Zeit, um sich ihrer zu entledigen.
Als sie endlich nackt war, stieg sie hinter den dreckigen Duschvorhang und aktivierte den Wasseraufbereiter, der hustend und surrend seine Arbeit aufnahm. Das Wasser stotterte aus der verkalkten Brause und folgte den hageren Konturen ihres Körpers. Es strich wärmend über die unzähligen Tätowierungen und spülte Schweiß und die letzten Reste ihrer Angst in den Aufbereitungsbehälter, der das Wasser säuberte und erneut über sie ergoss.
»Du bist noch am Leben.«, wiederholte sie mehrmals wie ein Mantra.
Dabei strich sie über den einzelnen Haarstreifen, der von ihrem Kopfhaar in einen Pferdeschwanz überging. Ihre Finger ertasteten die ausrasierten Muster über ihren Ohren, die unzähligen Ohrringe und die Piercings in ihren Augenbrauen. Alles vertraute Details ihres realen Daseins. Ihre Hände folgten den kleinen Erhebungen ihrer Brüste über die knochigen Seiten hinweg zu den schmalen Hüften. Selbst ihre Beine bis zu den Zehen untersuchte sie genau. Alles war, wie es sein sollte.
Hockend lehnte sie sich an die rissige Wand und ließ den wärmenden Regen der Dusche auf sich herabfallen. Langsam nahm sie sich wieder vollständig wahr. Aber sie fühlte, dass sie sich komplett verausgabt hatte, denn in ihrem Kopf wütete ein Flächenbrand. Jeder Gedanke war wie ein Tropfen Öl, der schmerzende Stichflammen hinter ihren Augen erzeugte. Nur knapp war sie einem neurologischen Schaden entronnen. Kein menschliches Gehirn konnte solche Belastungen auf Dauer ertragen, auch nicht, wenn man ein so besonderes Implantat wie Nyx besaß. Die Neuroschale war in den Standby-Modus übergegangen. Ihr geteiltes Maschinenbewusstsein war erloschen, als hätte es nie existiert. Sie war wieder eins.
Mit einem Handtuch um ihren schmächtigen Körper kehrte Nyx in ihr Schlafzimmer zurück. Der muffige Gestank ihrer Wohnung war der letzte Realitätsbeweis. Sie überwand das Chaos aus Kleiderstücken, elektronischen Teilen und Verpackungsresten und hob die Box vom Boden auf. Sie hatte Schaden genommen, als Nyx sie mit einem Tritt aus dem Bett befördert hatte.
Einen Moment lang betrachtete Nyx den schwarzen High-Tech-Quader, der sie in die tödliche Zone gebracht hatte. Der Hacker war kurz davor gestanden, die Kontrolle über die Box zu erlangen. Noch nie zuvor war Nyx einer solchen Gefahr so knapp entkommen. Hätte sie nicht ihr außergewöhnliches Gehirnimplantat besessen, wäre sie jetzt entweder tot oder ein sabbernder Zombie mit durchgebrannten Sicherungen.
Doch sie hatte es geschafft und war wieder hier, in Sicherheit. Der Hacker hätte ihren Standort ohne direkten Zugriff auf die Box niemals herausfinden können, dafür hatte sie gesorgt. Immerhin hatte sie das Signal durch einen zufälligen Algorithmus über unterschiedliche Verbindungen gejagt, falsche Fährten gelegt und diese noch dazu stark verschlüsselt. Dennoch musste sich Nyx eingestehen, dass der Hacker es beinahe geschafft hätte. Er war kurz davor gestanden, all ihre Sicherheitsmaßnahmen zu überwinden. Die letzte Firewall war knapp vor dem Zusammenbruch gestanden. Der zweite Hacker hatte nicht weniger von seinem Handwerk verstanden. Das Pain wäre ihr trotz aller Vorbereitungen beinahe zum Verhängnis geworden.
Diese Leute hatten genau gewusst, mit wem sie es zu tun hatten und wie Nyx zu schlagen war. Nur mit sehr viel Können und Glück war sie der Falle entronnen. Loyd hingegen dürfte nicht so viel Glück gehabt haben. Er hatte offensichtlich nur den nichtsahnenden Köder gespielt. Jetzt war er entweder tot oder hatte einen schweren Gehirnschaden davongetragen. Nyx kannte den Effekt, wenn jemand gewaltsam aus der Zone gerissen wurde. Man brauchte nur den Stecker zu ziehen, während man sich in dem virtuellen Konstrukt aufhielt und schon konnte es vorbei sein.
Nyx trauerte nicht um Loyd aber um eine weitere, vergeudete Chance, Antworten zu finden. Viele Wochen intensiver Arbeit waren dahin, übrig blieb nur eine weitere kalte Spur.
Zorn kochte in ihr hoch, als sie an ihre eigene Naivität dachte. Wie konnte sie nur erwarten, dass diese Leute eine so offensichtliche Spur hinterließen, wo sie doch sonst ihre Geheimnisse ausgesprochen gut hüteten? Vermutlich hatte Loyd nur aus dem einen Grund weitergelebt, um eines Tages den Köder zu spielen. War er gar nur ein möglicher Happen unter vielen?
Nyx warf die Box achtlos auf das verdreckte Bett. Angewidert packte sie den gesamten Bettbezug samt Decken und Polster und schleuderte den Stoffhaufen mit der Box in eine Ecke des Raums. Sie würde alles zusammen wegwerfen, inklusive der Erinnerungen an die Ereignisse im Pain. Man hatte sie ausgetrickst. Sie, Nyx, eine Göttin des Frames und der Zones. In ihrer ersten Wut ergriff sie, was sie in die Finger bekam und warf es gegen die Wand. Dumpf donnerten Schuhe, Elektronikteile und Verpackungen gegen die Mauer und hinterließen weitere Kerben. Dabei schrie sie sich die Seele aus dem Leib und wütete in ihrem Schlafzimmer, bis sie sich schließlich erschöpft auf das Bett fallen ließ und in der sanften Umarmung der Matratze landete.
Für einen Moment genoss sie das Gefühl ihres eigenen Körpers inklusive der brennenden Kopfschmerzen. Ihre Augen starrten leer zur Decke, während sie ihrem aufgeregten Herzschlag lauschte.
Jedenfalls würde dieser Tag ihr eine Lehre sein. Diese Leute waren selbst nach all den Jahren noch immer auf der Jagd nach ihr. Sie würden nicht eher ruhen, ehe sie sie gefunden hatten. Das konnte Nyx allerdings nicht aufhalten. Sie würde nie aufhören nach Antworten zu suchen. Eines Tages würde sie erfahren, wer hinter diesen Leuten steckte und welche Pläne sie mit den Kindern aus Hort 33 gehabt hatten.
Die Ungewissheit brannte wie ein ständig glimmender Funke in ihrer Brust, der sie nie zur Ruhe kommen ließ. War sie die Einzige von ihnen, die noch am Leben war? Was war mit den anderen geschehen?
Nach einer Weile begann sie zu kichern, vor Erleichterung, überlebt zu haben. Die Anspannung der letzten Stunden drang schließlich als schrilles Lachen aus ihrer Kehle. Es dauerte nicht lange und das Lachen verwandelte sich in ein Schluchzen. Tränen rollten über ihr Gesicht, während sie sich wie ein Fötus auf der Matratze zusammenrollte.

Kapitel 4 - 6 (Gesamter Text)

4 – vergebliches Warten

Portsmouth – England

Der Himmel über Portsmouth hatte das konturlose Grau der schäbigen Straßen angenommen, welche wie ausgetrocknete Flussbetten die Geisterstadt durchzogen. In der Luft hing ein saurer, schmutziger Geruch, der Regen ankündigte.
Devon sah das automatisierte Taxi umdrehen und denselben Weg nehmen, den es ihn gerade gebracht hatte. Eine Weile blickte er dem Fahrzeug hinterher, das stoisch über Schlaglöcher holperte, ehe es hinter ein paar heruntergekommenen Wohngebäuden verschwand.
Devon warf sich die Sporttasche über die Schulter und ging die letzten Schritte bis zum Old Chucks. Vor der Bar machte er Halt und sah hoch zum Schild. Der ehemals leuchtende Schriftzug war verblasst und energielos wie der Rest von Portsmouth. Im trüben Licht des Tages machte die Fassade noch weniger her als nachts, wo die Dunkelheit über den Verfall der Stadt hinwegtäuschte. Verputz und Farben hatte der saure Regen zerfressen, womit die auffälligen Verzierungen irgendwelcher Sprayer das Einzige waren, was dem Old Chucks Farbe verlieh.
Devon zögerte und wandte sich um. Er betrachtete die Gebäude in der Umgebung. Überall bot sich dasselbe Bild der Trostlosigkeit. Er war in eine Stadt zurückgekehrt, die in ihren letzten Zügen lag. Der erbarmungslose Darwinismus der Wirtschaft hatte Portsmouth wie eine Naturkatastrophe heimgesucht. Es gab kaum noch Jobs oder Infrastruktur, also suchten die Menschen ihr Glück lieber in den stetig wachsenden Megacitys. Oft blieben nur die älteren Generationen zurück, während es die Jungen in die Metropolen mit ihren leeren Versprechen von Reichtum und Glanz zog. Tote Fensterhöhlen mit zerbrochenen Scheiben thronten über Gehsteigen, auf denen sich der Müll türmte.
Viele Geschäfte, in denen Devon früher eingekauft hatte, waren inzwischen mit Brettern verrammelt. Auch der alte Laden für Virtual-Reality-Spiele, in dem er in seiner Jugend so manchen Credit verprasst hatte, war längst geschlossen. Nur die Erinnerung an eine Zeit vor den Zones war geblieben. Devon hatte das Gefühl, als wäre er ein ganzes Menschenleben lang nicht mehr hier gewesen, obwohl sein letzter Besuch erst ein paar Jahre zurück lag. Alles kam ihm so fremd vor, so leblos.
Drei ungefähr zehnjährige Jungs spielten mitten auf der Straße Fußball mit einem ausgefransten Ball. Inmitten der Farblosigkeit der Fassaden, der Straßen und des Himmels wirkten sie mit ihrer Lebhaftigkeit seltsam deplatziert. Devon wurde bei dem Anblick nachdenklich, er weckte sehr alte Erinnerungen.
Einer der Jungs kickte den Ball in weitem Bogen davon und so mussten die drei ihm hinterherlaufen, weshalb Devon sie aus den Augen verlor. Ein letztes Mal ließ er die Atmosphäre auf sich wirken, dann wandte er sich ab und betrat das Old Chucks.
Die Stimmung in der kleinen Bar war das Ebenbild der verarmten, ausgehungerten Stadt. Das matte Licht der Deckenbeleuchtung legte sich wie Staub auf die wenigen Gäste, die vereinzelt auf ihren Plätzen saßen, alleine in Begleitung ihrer Drinks. An der Decke hing ein veralteter Bildschirm, auf dem ein Fußballspiel lief. Die Lautsprecher schienen jedoch nicht zu funktionieren oder waren abgeschaltet.
Kaum einer sah auf, als Devon quer durch den Raum direkt auf die Bar zusteuerte. Drei Männer verfolgten das Spiel, sie schienen zum Inventar der Stadt zu gehören und fügten sich in das allgemeine Grau ein. Überbleibsel wie die verrammelten Läden, an denen er vorbeigekommen war.
Als Devon die Bar beinahe erreicht hatte, machte er die Gestalt einer einzelnen Frau aus. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt und unterhielt sich gerade mit einem betrunkenen Gast, der sie in seinem Zustand wenig schmeichelhaft anbaggerte. Devon erkannte sie sofort: die lange, hagere Gestalt, gepaart mit der lässigen Haltung. Die typische Art, mit der sie dastand, leicht schräg, die rechte Hand in die Seite gestemmt. Das unverkennbare Violett ihrer kurzen, in alle Richtungen abstehenden Haare. Lisa Turner schien sich in den letzten Jahren kein bisschen verändert zu haben.
Devon nahm auf einem der Hocker Platz. Sein Blick verharrte weiterhin auf der Frau, während sie den Betrunkenen mit der Lässigkeit langjähriger Erfahrung abservierte.
»Was darf ich Ihnen geben?«, hörte Devon eine vertraute Stimme fragen.
Erst jetzt riss er sich vom Anblick der Bedienung los und wandte sich dem Barmann zu. In dem alten, verbrauchten Gesicht formte sich das Erkennen.
»Devon?«
Aus den Augenwinkeln bemerkte Devon, wie sich Lisa plötzlich versteifte. Langsam, als erwarte sie etwas Bedrohliches, wandte sie den Kopf um und starrte den Neuankömmling schließlich ungläubig an.
»Hallo Chuck.«, sagte Devon, ohne auf sie zu achten. »Schön mal wieder hier zu sein.«
Für einen Moment fiel der Kummer vom Gesicht des Barmanns ab, und ließ ein Lächeln durch. Dann reichte er dem Gast überschwänglich den mechanischen Arm. Devon packte das metallisch klappernde Implantat und schüttelte es. Das Gerät war wahrscheinlich ein billiges Schwarzmarktprodukt, so präzise wie ein Schlagbohrer und genauso ästhetisch. Bei jeder Bewegung surrte und klackte es, als versuchte es zu sprechen. Devon betrachtete den künstlichen Arm und ließ ihn dann los.
»Nicht unbedingt die neueste Ware.«
»Bei dieser Wirtschaftslage.«, sagte Chuck schulterzuckend.
Lisa stand plötzlich neben Devon. Wie eine Raubkatze hatte sie sich herangepirscht. Kaum wandte er ihr sein Gesicht zu, schnellte ihre Hand vor und traf seine linke Wange. Noch bevor Devon eine Reaktion zeigen konnte, hallte auch schon die zweite Ohrfeige durch die Bar. Die Gespräche ringsum verstummten endgültig. Die wenigen Gäste warfen der Szene verstohlene Blicke zu.
»Lisa!«, empörte sich Chuck.
Devon spürte die Schläge als leichtes Prickeln auf seiner Wange und wandte sich wieder Lisa zu. Sie blickte voll altem Zorn auf ihn herab. Ein ferner Schimmer der Enttäuschung lag in ihren braunen Augen.
»Hallo Lisa.«, sagte Devon ruhig und hielt ihrem durchdringenden Blick stand.
»Drei Jahre.«, Ihre Stimme bebte. »Drei Jahre, Devon, und keine einzige Nachricht von dir!«
»Ich weiß.«
Sie schüttelte den Kopf, wobei sich ihre Augenwinkel langsam mit Tränen füllten.
»Was willst du hier nach so langer Zeit?«, fragte sie und versuchte die Kontrolle über ihre Stimme zu behalten. »Suchst du wieder einmal das normale Leben?«
Devon wusste, dass er die Schläge und die Reaktion verdient hatte.
»Ich wollte eine gute Freundin besuchen.«, sagte er und lächelte vorsichtig.
Ihr Lachen sollte verächtlich klingen, doch es wurde ein halbes Schluchzen. »So geht man also mit einer alten Freundin um?«, fragte sie und biss sich auf die Unterlippe. »Ist auch egal. Mach was du willst.«
Sie wollte sich gerade abwenden, da ergriff Devon ihren Arm. Sie zuckte bei der Berührung zusammen, wehrte sich aber nicht.
»Es tut mir leid, Lisa.«, sagte er. »Aber jetzt bin ich hier.«
Devon ließ seine Hand an ihrem Arm heruntergleiten und nahm dann ihre Hand. Ihre Finger waren wie immer kühl. Mit tränenblinden Augen wandte sie sich ihm zu.
»Du hättest nicht zurückkommen sollen.«, presste sie zwischen zitternden Lippen hervor.
»Das meinst du nicht so.«, sagte Devon.
Sie schüttelte entmutigt den Kopf.
»Du tust mir weh damit, weißt du das eigentlich?«
Devon betrachtete die Hand von Lisa, die in seiner lag und sich langsam mit seiner Wärme vollsog.
»Ich weiß. Ich hätte mich melden sollen.«
Mit der einen freien Hand verpasste sie ihm eine weitere Ohrfeige, doch es war ein kraftloser Akt der Enttäuschung. Als Devon neuerlich aufsah, suchte Lisa gerade den Blick von Chuck. Der hatte sich ein wenig zurückgezogen und polierte ein Glas, als ob ihn das unsichtbar machen würde. Seine Antwort an Lisa war ein Nicken.
»Geht, ich übernehme deine Schicht.«, sagte er väterlich. »Ist ohnehin nichts los.«
»Danke, Chuck.«, sagte Lisa. »Hast was gut bei mir.«
Chuck winkte mit einem Surren seines mechanischen Arms ab.
»Ich hole meine Jacke.«, sagte sie und löste sich von Devons Griff. »Und wehe du bist verschwunden, wenn ich zurückkomme.«
Dann marschierte sie mit hastigen Schritt davon, so als hätte sie Angst, Devon würde in einer Minute schon nicht mehr da sein.
»Du machst es ihr schwer.«, sagte Chuck hinter ihm, nachdem sie in der Garderobe verschwunden war.
Devon nickte. »Ich weiß.«
Als Lisa mit ihrer Jacke zurückgekehrt war, verließen sie die Bar.

Kaum hatten sie die Tür zu Lisas Wohnung verschlossen, packte sie Devon und zog ihn zu sich heran. Ihre Lippen pressten sich mit zorniger Sehnsucht auf seine. Devon erwiderte ihren Kuss und drückte seinen Körper fest gegen ihren. In leidenschaftlicher Umarmung bahnten sie sich einen Weg durch die kleine Wohnung ins Schlafzimmer. Er warf sie auf das Bett und riss sich die Kleider vom Oberkörper. Lisa trat die Schuhe in eine Ecke des Raums und tat es ihm gleich, dann folgte ihr Devon ins Bett.
Der Sex war hart und intensiv, wie eine körperliche Entschuldigung für all die Versäumnisse der letzten Jahre. Nachdem ihre Lustschreie verstummt waren, breitete sich Stille aus. Der Geruch ihrer verschwitzten Körper hing schwer in der Luft.
Lisa hatte ihren Kopf auf Devons Brust gebettet und ließ sich vom Auf und Ab seines Atems sanft wiegen, während seine Finger zärtlich über ihren Rücken strichen. Einige Zeit lagen sie nur da und schwiegen in der Stille der Nacht.
»Du bist ein richtiges Arschloch, weißt du das?«, brach Lisa schließlich das Schweigen.
Devon antwortete nicht. Er wusste, dass er sich seit drei Jahren nicht gemeldet hatte, was sollte er also darauf antworten?
»Es ist jedes Mal dasselbe.«, fuhr sie mit einer Mischung aus Frustration und Freude fort, als ob sich ihre Stimme ihrer wahren Gefühle noch nicht bewusst wäre.
Lisa legte einen Arm quer über die Brust von Devon und bettete dann ihren Kopf so darauf, dass sie ihm in die Augen sehen konnte. Devon erwiderte wortlos ihren erwartungsvollen Blick. Einige Zeit bewegten sich ihre Pupillen hin und her, als ob sie nach etwas in seinen künstlichen Augen Ausschau halten würden. Dann seufzte sie.
»Du bist wie ein Geist, Devon.«, sagte sie und es hatte sich die Enttäuschung durchgesetzt. »Du tauchst immer urplötzlich in meinem Leben auf, bringst alles durcheinander, nur um gleich darauf wieder spurlos zu verschwinden. Das ist nicht fair, weißt du das?«
»Es tut mir leid.«, sagte Devon und strich ihr weiter über den nackten Rücken.
»Es tut dir leid?«, echote sie ironisch. »Mehr hast du nicht zu sagen?«
»Was willst du hören, Lisa?«
»Was weiß ich?«, antwortete sie und schloss für einen Moment die Augen. »Nicht das.«
»Du kennst mich. Wir sind schon so lange Freunde.«
Lisa lächelte schwach und schüttelte dann, weiterhin auf ihren Arm gestützt, den Kopf.
»Nein, das tue ich nicht.«
Devon schwieg und runzelte fragend seine Stirn.
»Ich kenne deinen Namen, ich weiß, dass du scharfes Essen liebst und dass du auf alte Filme stehst. Ich weiß auch welchen Job du machst, welche Stellungen du magst und wie du riechst, aber wer du bist, das weiß ich nicht.«
Devon dachte über ihre Worte nach ohne zu antworten. Er wusste beim besten Willen nicht, worauf Lisa hinaus wollte. Es gab auf der Welt wohl niemanden, der ihn so gut kannte wie Lisa.
»Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich dich und Jessica im Keller unserer alten Wohnung entdeckt habe.«
Devon konnte nicht verhindern, dass sein Kopf einen Zusammenschnitt seiner Vergangenheit zeigte. Eine private Vorstellung seiner Jugendzeit. Plötzlich fand er sich zusammen mit seiner Schwester im Keller des Wohngebäudes wieder, frierend unter einer verstaubten Decke, die sie irgend jemandem gestohlen hatten, um die kalten Nächte zu überstehen.
»Ihr wart halb erfroren und verhungert.«
Devon erinnerte sich an den Geruch der ersten warmen Mahlzeit seit Monaten, als er am Tisch der winzigen Wohnung gesessen war, gemeinsam mit der Mutter von Lisa und seiner Schwester Jessica. Sie hatten die Suppe verschlungen wie hungrige Tiere. Unendliche Dankbarkeit hatte er damals empfunden. Niemals würde er den Geschmack dieser Suppe vergessen, niemals das Gesicht der beiden Wohltäter.
»Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ihr das Essen regelrecht verschlungen habt.«, sagte Lisa. »Schon damals hatte ich das Gefühl, dass da kein sechzehnjähriger Junge vor mir sitzt. Obwohl ich jünger als du war, wusste ich irgendwie, dass du anders bist.«
»Anders?«, fragte Devon.
»Ja.«, bestätigte Lisa. »Du warst auf deine stille Art erwachsen.«
»Ich hatte keine große Wahl.«
Devon sah das Bild seiner Schwester, für die er schon in jungen Jahren die Verantwortung übernehmen hatte müssen, nachdem ihre Mutter früh gestorben war. Plötzlich waren sie dagestanden, zwei Illegale, ein sechzehnjähriger Junge und seine zehnjährige Schwester in einer kleinen, dreißig Quadratmeter großen Wohnung inmitten einer unbarmherzigen Stadt, ohne Geld und ohne Zukunft.
»Genau so ist es.«, fuhr Lisa fort. »Du musstest dich um Jessica kümmern und hast euch irgendwie durchgebracht. Schon damals hast du so gut wie nicht gesprochen, nur das Notwendigste. Jessica war anders, sie war ein richtiges Plappermaul.«
Lisa lächelte ob der Erinnerungen an seine Schwester. Devon konnte es nicht, seine Gesichtszüge waren versteinert. Zwei tote, starre Augen sahen ihn aus einer dunklen Vergangenheit heraus an.
»Du hast sie, so gut es ging, vor allem bewahrt, inmitten einer Stadt, die euch nichts geschenkt hat. Aber du hast geschwiegen, als ob du die Sorgen der Welt auf dich genommen hättest.«
Devon schwieg weiter und driftete zwischen der Wärme von Lisa und seinen eigenen Erinnerungen hin und her.
»Weißt du, es war eine schöne Zeit, auch wenn wir nicht viel hatten. Ich war einfach nur froh, Freunde wie dich und Jessica zu haben.«
»Ohne euch hätten wir es wahrscheinlich nicht geschafft.«, sagte Devon und erinnerte sich an das Zimmer, in dem sie zu dritt geschlafen hatten, dicht aneinander gekauert, wenn aufgrund ausstehender Zahlungen wieder einmal die Heizung abgedreht worden war.
»Ja, das ist deine übliche Sicht der Dinge, nicht wahr?«, fragte Lisa.
Einen Moment sah sie ihn enttäuscht an, doch dann lockerten sich ihre Züge wieder und sie drängte sich erneut an seinen nackten Körper. Devon spürte den Druck, den sie mit ihrem Fleisch auf das seine ausübte, als wollte sie vermeiden, dass er aufstand und ging. Fast verzweifelt schien sie die Wärme und Nähe seiner Haut aufzusaugen.
»Ich hatte immer das Gefühl, dich bedrückt so viel, doch du hast nie über etwas gesprochen. Weder mit Jessica noch mit mir. Du warst immer der Starke und hast getan, was getan werden musste, auch wenn es schwer war. Hast einfach immer weitergemacht. Und das hat sich bis heute nicht geändert, oder?«
Devon erwiderte einen Moment ihren Blick, wandte sich aber bald wieder ab.
»Du lässt niemanden an dich heran, Devon.«, sagte Lisa. »Mir scheint, du hast eine Barriere aufgebaut, um das zu schützen, was du tief in dir verschlossen hast.«
Die Gedanken im Kopf von Devon wurden zu einem Wirbel aus Erinnerungen und Emotionen, doch er drängte ihn zurück, sodass er nur noch ein fernes Hintergrundrauschen wahrnahm.
»Ich wollte dir immer so gerne helfen, so wie du uns geholfen hast.«
»Du hast mir geholfen.«, antwortete Devon, kaum, dass sie den Satz beendet hatte. »Du hast dich um Jessica gekümmert, als ich nicht da war.«
Lisa lächelte, doch das Lächeln war voller Schmerz.
»Ich habe es versucht.«, sagte sie schuldbewusst. »Aber es hat nicht gereicht.«
»Es war nicht deine Schuld.«, sagte Devon.
Jetzt war es an Lisa zu schweigen. Wortlos begann sie, mit ihren Fingerspitzen Linien auf seine nackte Brust zu zeichnen.
»Sie hat mir von diesem einen Tag erzählt.«, sagte Lisa plötzlich.
Devon spürte, wie sein Herz einen Schlag lang aussetzte. Er suchte ihren Blick, fand ihn aber nicht. Sie zeichnete fortwährend Muster auf seine Brust, als wäre es gerade das Wichtigste auf der Welt.
»Ich weiß, was du getan hast, um euch zu retten.«
»Jessica hat mir versprochen, es für sich zu behalten.«, sagte Devon bitter. Der Damm, der seine Erinnerungen zurückgehalten hatte, brach allmählich in sich zusammen.
»Sie war noch ein Kind und hatte Angst, Devon.«, entgegnete Lisa und erwiderte seinen verzerrten Blick. »Sie wurde immer wieder von Alpträumen geweckt. Sie musste mit jemandem reden. So machen das Menschen üblicherweise, wenn es ihnen nicht gut geht. Sie reden es sich von der Seele.«
Devon verzichtetet auf eine Antwort. Er spürte, wie sich seine Kiefermuskeln verkrampften, doch dann atmete er tief durch und stopfte einmal mehr die Löcher im Damm seiner Erinnerung.
»Du warst erst sechzehn, Devon. Niemand sollte so etwas tun müssen, schon gar nicht in diesem Alter.«, sagte Lisa beschwörend.
»Es wurde meine Fahrkarte aus jenem Leben.«, antwortete Devon mit harter Stimme.
Sie lächelte schwach. »Ja, das war sie und du hast sie genutzt und uns zurückgelassen.«
Sein hartes Gesicht wandte sich ihr zu, als er das gehört hatte. Lisa hielt seinem Blick stand.
»Ich habe euch all mein Geld geschickt, nichts für mich behalten.«, sagte Devon etwas lauter. »Und ich bin so oft zurückgekommen, wie es ging.«
»Du hättest bleiben können.«, widersprach ihm Lisa. »Wir hätten einen anderen Weg gefunden.«
Devon wandte sich ab und verbarg sein Gesicht vor ihrem Blick. Einige Zeit schwiegen sie und lauschten dem nächtlichen Grölen einer Gruppe Betrunkener, die unter dem Fenster vorbeitorkelte. Devon spürte die Nähe von Lisa und gab sich Mühe, seine entlaufenen Emotionen einzufangen, während sie versuchte, in seinem Gesicht zu lesen.
»Devon, du sollst etwas wissen, auch auf die Gefahr hin, dass es dich nicht interessiert.«, begann sie und Devon hörte nur halb hin. »Seit ich achtzehn bin, liege ich immer wieder ganze Nächte wach und frage mich, was dieser Devon Reeves wohl gerade so treibt, was ihn bewegt und worüber er nachdenkt. Und dann frage ich mich, ob er auch nur einen einzigen Gedanken an mich verschwendet, wenn er sich jahrelang nicht meldet.«
Devon spürte Lisas anklagenden Blick auf sich ruhen.
»Ich habe an dich gedacht.«, sagte er nun wieder sanfter.
»Aber es hat nie gereicht, um dich bei mir zu melden.«, entgegnete sie und sah ihn fast amüsiert an. Doch dann zerlief das künstliche Lächeln auf ihren Lippen und in ihre Augen trat ein leerer Ausdruck.
Ein tiefes Schweigen legte sich über den Raum. Devon gefiel nicht, wohin sich dieses Gespräch entwickelt hatte. Ein innerer Drang wollte ihn zwingen zu fliehen, doch etwas hielt ihn fest.
»Du hast in all den Jahren kein einziges Mal über dich gesprochen. Niemals.«, begann Lisa nach einer Weile. »Nicht einmal in dem Jahr, nachdem du Blackhammer verlassen hattest. Ein ganzes Jahr, in dem ich dachte, du würdest vielleicht endlich hier bleiben, zur Ruhe kommen und irgend etwas sagen.« Um ihre Mundwinkel bildeten sich Falten und sie schüttelte leicht den Kopf. »Aber da war nichts. Du hast alles getan, worum ich dich gebeten habe, als wären es Befehle. Hast irgendwie weitergemacht. Ich glaube, manchmal hast du dich sogar amüsiert. Für mich war es eine schöne Zeit. Das erste Mal seit Jahren dachte ich, es würde alles gut werden.«
Devon spürte die Verbitterung in ihren Worten und es schmerzte ihn, sie so zu sehen. Diese Seite von Lisa hatte er noch nie erlebt. Er kannte sie als lebenslustige Frau, die voller Energie und Tatendrang war, nicht so melancholisch. Sie war seit seiner Jugendzeit ein Ruhepol inmitten eines chaotischen Lebens gewesen, ein Anker des Friedens und der Kraft. Sie war eine gute Freundin, die seinem Leben stets das nötige Maß an Normalität gegeben hatte. Doch etwas war an diesem Tag anders und er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte.
»Aber in Wirklichkeit warst du nie wirklich hier.«, sagte sie. »Und dann bist du wieder verschwunden, einfach so. Als wäre in all den Monaten nichts gewesen. Du hast deine Sachen gepackt, dich verabschiedet, als würdest du nur schnell zum Supermarkt gehen, und bist jahrelang nicht mehr aufgetaucht.«
Devon hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen. Er spürte, wie sich seine Gedanken zu Worten formten, doch nichts erschien ihm richtig. Lisa beobachtete jede Regung in seinem Gesicht, als ob sie dort die Antworten finden würde, die er ihr verweigerte.
»Aber was sollte sich schon geändert haben, nicht wahr?«
Devon hörte den Vorwurf in ihrer Stimme, fühlte sich aber nicht imstande, etwas zu seiner Verteidigung vorzutragen. Nichts das er sagen konnte, hätte es für Lisa leichter gemacht oder etwas geändert. Er wusste, dass er kein besonders guter Freund war, aber dass es sie so mitgenommen hatte, war ihm nie klar gewesen.
Die Pause füllte sich neuerlich mit einer dicken Schicht aus Schweigen. Wieder begann Lisa damit, seine Brust mit ihren Fingerspitzen auszumalen.
»Hast du eigentlich eine Freundin?«, fragte sie unerwartet, den Blick auf ihre eigenen Finger gerichtet.
Devon war für einen Moment überrascht, ließ sich aber nichts anmerken und schüttelte dann leicht den Kopf.
»Nein, bist du in einer Beziehung?«, fragte er.
»Freddie von der Werkstatt und ich treiben es manchmal miteinander, aber sonst ist da nichts.«
Devon nickte und versuchte ein Gesicht zu Freddie aus seinem Gedächtnis zu holen, doch der Bildschirm in seinem Kopf blieb schwarz. Lisa starrte Devon erwartungsvoll an und er fragte sich, was wohl hinter ihrer Stirn vor sich ging.
»Kenne ich ihn?«, fragte er, damit er irgendetwas sagte.
Ihre Augen lösten sich enttäuscht von seinen.
»Ist nicht weiter wichtig.«, sagte sie. »Es ist genauso belanglos wie der Rest meines Lebens.«
In ihrer Stimme lag eine unglückselige Schwere. Devon runzelte die Stirn.
»Was redest du da?«, fragte er mangels einer besseren Entgegnung.
»Die Wahrheit, Devon.«, gab sie zurück.
Selbst der geschmeidige Tanz ihrer Finger auf seiner muskulösen Brust hatte etwas Trauriges an sich, wie der letzte Akt eines dramatischen Todestanzes.
»Das stimmt doch nicht.«, wehrte sich Devon.
»Ach nicht?«, fragte sie und hielt in ihren Bewegungen inne. »Seit vierzig Jahren lebe ich schon in dieser Stadt, die von Jahr zu Jahr mehr den Bach runtergeht. Ich hab keine Familie, nicht einmal Kinder. Ich hab zwei Jobs, mit denen ich gerade so durchkomme. Wenn ich dann einmal Zeit für mich habe, sehe ich mir irgendwelche Sendungen an, nutze den Frame, befriedige mich selbst oder lass Freddie ran. Wenn ich Abwechslung will, betrinke ich mich und singe lautstark oder nehme ein bisschen Glas. Und sollte der seltene Fall eintreten, dass ich einmal richtig übermotiviert bin, gehe ich vielleicht sogar mit einem der Versager aus der Nachbarschaft aus.«
Sie maß Devon mit kritischem Blick, wobei sich eine Falte zwischen ihren Augenbrauen aufbaute. Plötzlich erhob sie sich und setzte sich an den Rand des Betts, wo sie eine Zigarettenpackung aus dem Nachttisch nahm und sich eine anzündete. Devon wusste nicht, was das alles zu bedeuten hatte und zögerte einen Moment. Dann richtete er sich ebenfalls auf und berührte vorsichtig ihre Schulter, als könne er sich daran verbrennen. Ein rötlicher Schein legte sich über ihr Gesicht, als sie an der Zigarette zog. Feine Rauchfäden schwebten im kargen, bläulichen Licht des Mondes, das durch die Spalten in den Rollläden hereinfiel, zur Decke empor.
»Dabei habe ich mir schon früh geschworen, die Stadt so schnell wie möglich zu verlassen, genau wie du, Devon.«
»Das kannst du doch immer noch.«, wagte Devon einen schwachen Versuch, etwas Hilfreiches zu sagen, doch Lisa ignorierte seine Worte.
»Weißt du, was das Schlimmste an meinem Leben ist?«, fragte Lisa, ohne auf eine Antwort zu warten. »Das ständige Warten.«
Sie zog wieder an der Zigarette.
»Das ständige Warten auf jemanden, der nicht kommt. Das Hoffen auf etwas, das nie sein wird. Das Verfolgen von Träumen, die immer genau das bleiben werden: Träume. Und obwohl man es besser wissen müsste, obwohl man so viel Schmerz mit sich herumträgt, dass es einen fast zerreißt, kann man es nicht abschalten. Das ist das Schlimmste, Devon.«
Als Devon das hörte, durchfuhr ihn die Erkenntnis wie ein Blitzschlag. In all den Jahren und trotz seiner modernsten Implantate hatte er es nie gesehen. Seine in vielen Gefechten gehärtete Wachsamkeit hatte ihn in diesem Fall im Stich gelassen. Er verstand nicht, wie ihm das entgangen sein konnte.
»Ich wusste nicht …«, begann er.
»Nein, wusstest du nicht.«, unterbrach ihn Lisa. »Wusstest du nie.«
Ein rasend schneller Zusammenschnitt aus Szenen mit Lisa schwirrte durch seinen Verstand und löste ein altes Puzzle, das irgendwo in seinem Hinterkopf verstaut gewesen war. Devon erkannte erst in diesem Moment, welchen Schaden er all die Jahre über angerichtet hatte und so lösten sich seine Hände von ihren Schultern, als ob seine Berührung es nur noch schlimmer machen würde. Devon hatte plötzlich das Gefühl, sich entschuldigen zu müssen, doch er hielt inne. Keines der Worte, die ihm vorschwebten, konnte nur annähernd das beschreiben, was er sagen wollte.
Nackt wie sie war, stand Lisa auf und trat an das Fenster. Das bläuliche Licht des Mondes drang zwischen den halb geschlossenen Rollläden hindurch und ließ sie wie eine Schwarz-Weiß-Fotografie erscheinen. Über den Himmel schoben sich dunkle Wolken, einem unbekannten Ziel entgegen.
Devon kletterte aus dem Bett und stellte sich schräg hinter sie, gelähmt im Angesicht seiner Erkenntnis. Wenn sie an der Zigarette zog, konnte er ihr Gesicht rötlich erhellt in der Spiegelung der Scheibe erkennen.
»Die Welt ist so kalt geworden, Devon. Es scheint keinen Platz mehr für Wärme zu geben.«, sagte sie und blies Rauchringe in die Luft. Mit ihrer freien Hand umklammerte sie sich selbst und berührte den anderen Oberarm, als würde sie frieren. »Millionen strömen in die Megacitys, leben auf engstem Raum und sind doch so vollkommen alleine, dass sie sich in den Frame und die Zones stürzen, während kleine Städte wie unsere zugrunde gehen. Eltern bauen sich ihre Wunschkinder nach dem Baukastenprinzip zusammen, andere lassen sich Maschinen in den Körper einpflanzen, um besser, stärker und klüger zu sein. Ist in einer solchen Welt überhaupt noch Platz für Nähe und Menschlichkeit?«
Lisa machte eine kurze Pause, in der Devon hören konnte, wie sie an der Zigarette zog.
»Niemand interessiert sich noch für die Belange anderer, während die Welt langsam erfriert.«
Devon schossen unzählige Gedanken durch den Kopf, doch er war wie gelähmt, seine Lippen versiegelt.
»Vielleicht machst du es richtig und kapselst dich ab, lässt nichts an dich ran, gut wie schlecht und machst einfach weiter, immer weiter. Bis es eines Tages vorbei ist. Einfach so.«
»Lisa.«, sagte Devon, kam aber nicht weiter. Es war, als würden die Worte in seiner Kehle feststecken. Er fühlte sich unendlich hilflos.
Lisa lachte bitter auf. »Schweigen, wie immer.«
Sie drückte die Zigarette einfach auf dem Fensterbrett aus. Dann wandte sie sich um und suchte erneut Blickkontakt.
»Und wie lange bleibst du diesmal?«
»Ich habe eine Woche.«, sagte Devon.
Er sah sie an, das jung gebliebene Gesicht, mit den hübschen Augen. Doch jetzt, als das Make-up seinen Glanz verloren hatte, zeigten sich die Spuren, die das Leben hinterlassen hatte. Ihre Augen glänzten matt in ihren tiefen Höhlen, umgeben von unzähligen Fältchen. Auch in die Stirn schien sich eine einzelne Kummerfalte gegraben zu haben. Im bläulichen Licht sah er den Schimmer, der sich über ihre Pupillen legte. Wie die Wolken den Mond verdunkelten, legten sie sich gleichermaßen über ihr Gesicht.
»Bleib, solange du willst.«, sagte Lisa mit veränderter Stimme. Es schien, als wäre jegliche Wärme verloren gegangen.

Das Läuten eines Phones weckte Devon aus dunklen Alpträumen. Er fühlte, wie sich die Wärme von Lisa unter der Decke rührte, als sie das schlanke Gerät auf dem Nachttisch ergriff. Devon drehte sich zur Seite, noch halb im Schlaf, während sie das Gespräch entgegennahm.
»Hallo?«, meldete sie sich verschlafen.
Eine kurze Pause entstand, bis sie sich neben Devon aufrichtete.
»Wer ist da?«, fragte sie ungläubig. »Aber wie …«
Wieder schwieg Lisa für eine Weile und fuhr sich durch das fingerlange, violette Haar. Devon spürte ihre Hand auf seinem Rücken, also öffnete er die Augen.
»Es ist für dich, irgend eine Frau vom Militär.«, sagte Lisa mit müdem Gesichtsausdruck.
»Was?«
Lisa streckte ihm das transparente Phone entgegen.
»Keine Ahnung, es ist auf jeden Fall für dich.«
Devon richtete sich auf und nahm das Phone zur Hand.
»Hallo?«, fragte er vorsichtig, als ob etwas Gefährliches am anderen Ende der Leitung wartete.
»Major Devon Reeves?«, fragte eine ihm unbekannte weibliche Stimme.
Devon verzog das Gesicht verwundert und kratzte sich erst einmal ausgiebig im stoppeligen Gesicht.
»Ja, mit wem spreche ich?«
»Mein Name ist Nao Sugiyama. Ich bin die Adjutantin von First General Cardoso. Es war schwierig, Sie zu erreichen. Sie haben das Kommunikationsmodul ihres Neuroimplantats deaktiviert.«
»Mache ich immer, wenn ich auf Urlaub bin.«, entgegnete Devon und räusperte sich. »Wie haben Sie mich gefunden?«
»Über das GPS-Signal in ihrem Implantat natürlich. Ich konnte ihren Standort ermitteln und die Phone-ID von Miss Turner in Ihrer unmittelbaren Nähe ausforschen.«, erklärte die Stimme stolz.
»Machen Sie das immer so mit Leuten, die im Urlaub sind?«, fragte Devon empört, streifte sich einen Morgenmantel über und verließ das Schlafzimmer Richtung Balkon.
»Ich hätte auch Ihr Kommunikationsmodul per Notschaltung über die Ferne aktivieren können, aber das erschien mir etwas zu drastisch.«
Devon wartete darauf, dass die Frau etwas Sinnvolles von sich gab.
»Was ihren Urlaub betrifft …«, fuhr die Adjutantin fort, als er nicht antwortete.
»Was ist los?«, fragte Devon ungeduldig.
»Sie wurden vom General persönlich zurückbeordert. Sie sollen noch heute in die Zentrale nach London zurückkehren.«
»Mir wurde dieser Urlaub vom General persönlich zugesichert.«, empörte sich Devon.
»Ich weiß, und es tut ihm auch leid, aber es handelt sich dabei um eine dringende Angelegenheit.«
Devon blickte auf die leere Straße hinab. Nur zwei Jugendliche warfen Steine nach verlassenen Geschäften.
»Dürfte ich dann wenigstens den Grund erfahren?«
»Es geht wohl um eine Befragung, mehr weiß ich leider auch nicht.«, gestand die Frau. »Es war nur meine Aufgabe, Sie zu finden und den Befehl zu übermitteln. Über ihr Kommunikationsmodul erhalten Sie die genauen Informationen zu Ort und Zeit. Wenn Sie es bitte aktivieren würden.«
»Verstanden.«, sagte Devon und beendete das Gespräch, ohne sich zu verabschieden.
Es musste wichtig sein, wenn sie ihn auf diese Weise kontaktierten. Und obwohl ihm die Tatsache missfiel, machte er sich Gedanken darüber, worum es bei der Sache wohl gehen konnte. Es konnte nicht wegen Lieutenant Sethi sein, denn sie war bereits auf dem Weg der Besserung und dürfte das Krankenhaus bereits verlassen haben.
Devon stützte sich auf das metallene Geländer des Balkons und starrte in die Ferne. Die kühle Luft des nahenden Winters umarmte ihn.
»Du verschwindest wieder, nicht wahr?«
Devon drehte sich um und sah Lisa im Türrahmen stehen. Auch sie trug ihren Morgenmantel, die Hände vor der Brust verschränkt.
»Du könntest mit mir kommen.«, sagte Devon. »Du wolltest die Stadt doch verlassen.«
Lisa lächelte ein trauriges Lächeln. Ihr Blick wirkte müde vom Leben, als sie Devon in die Augen sah.
»Wie oft ich mir gewünscht habe, diesen einen Satz von dir zu hören.«, sagte sie.
»Und, was sagst du?«, fragte Devon.
Lisa bedachte ihn mit einem längeren Blick, den er nicht deuten konnte.
»Ich wünsche dir alles Gute, Devon.«, sagte sie. »Bitte gib immer gut acht auf dich.«
In diesem Moment wusste Devon, dass er Lisa für immer verloren hatte.

5 – Die zurückgelassen wurden

Über dem Atlantik

Devon fand sich wenige Stunden später in einem kleinen Transportgleiter wieder, begleitet von einem beklemmenden Gefühl drohender Gefahr. Jeden Augenblick erwartete er, dass eine Explosion die Außenwand des Gleiters zerriss, doch nichts dergleichen geschah. Unbehelligt flogen sie über ein Universum aus Wasser.
Das monotone Surren der Triebwerke wirkte auf Devon fast hypnotisch. Er verlor sich im Anblick der ständig wiederkehrenden Textur des Meeres, das am Horizont mit einer dünnen Linie in den klaren Himmel überging. Seine Gedanken nahmen ihn mit zurück nach Johannesburg, von wo aus ihn die Gesichter seiner verstorbenen Kameraden heimsuchten. Obwohl er es mit seinen einundvierzig Jahren gewohnt war, Menschen zu verlieren, blieben sie dennoch nie vergessen. Er erinnerte sich noch an alle ihre Gesichter und Namen, auch wenn sie jedes Jahr wie alte Fotografien ein wenig mehr verblassten.
Die vielen Verluste hatten ihn zweifellos verändert, ihn abgehärtet. Schreiender Hass und rasender Zorn waren mit der Zeit einem Gefühl von Taubheit gewichen. Sayar, Morales, die beiden Piloten und all die anderen Kameraden, die er nicht persönlich gekannt hatte – sie waren alle einen Teil des Weges mitgegangen, der sie zufällig zur selben Zeit zusammengeführt hatte.
Sie alle waren in ein feingliedriges Netz eingesponnen, ohne es zu wissen. Die Entscheidung eines Einzelnen konnte sich auf Tausende auswirken, wie man einen kleinen Stein ins Wasser werfen und zusehen konnte, wie sich die Wellen schier endlos ausbreiteten. Diese Menschen waren jetzt einfach fort, nicht mehr existent. Und auch wenn Lisa noch am Leben war, so war sie für ihn gleichsam verloren. Die Zeit verging und Devon machte weiter, wie er es immer getan hatte. Auch Lisa hatte das erkannt. Dennoch spürte er so etwas wie Trauer und Reue, wenn er an seine alte Freundin dachte. Und wieder quälte ihn die Frage: War er immer schon so blind gewesen oder war er bereits dermaßen abgestumpft, dass er die kleinen Nuancen des Lebens nicht mehr wahrnehmen konnte?
Devon sah nach draußen, durch die Fensterscheiben des kleinen Transportgleiters. Unter ihnen erstreckte sich der Atlantische Ozean. Sie waren bereits so weit von Großbritannien entfernt, dass die Landmasse nicht mehr zu erkennen war. Ungerührt steuerte der Pilot an seiner Seite den Transporter über die gefühlte Unendlichkeit. Devon fragte sich bei dem Anblick, was wohl geschehen würde, sollten sie jetzt abstürzen. Wieder wären zwei Glieder in diesem gigantischen Netz der Welt verloren. Welche Auswirkungen würde es haben, wenn er nicht mehr wäre? Ein anderer Soldat würde die Chance bekommen, Major zu werden und seinen Platz einzunehmen. Vielleicht würde er bessere Entscheidungen treffen, mehr Leben retten. Womöglich würde er einen Teil dieses unendlich filigranen Gerüsts festigen, das wie ein Spinnennetz in einem Sturm ständig Gefahr lief zu reißen.
Doch was würde sich sonst nach seinem Tod ändern? Es war niemand da, der um ihn trauern würde, außer vielleicht eine Hand voll Frauen und Männer, die unter seinem Kommando gedient hatten. Lisa würde es vermutlich nie erfahren. Er hatte keine Familie, kein Zuhause, das sich mit seinem Verschwinden verändern würde. Wahrscheinlich würde das Reißen des Netzes durch den Piloten größere Auswirkungen haben als seines. Womöglich hatte der Mann eine Frau und Kinder, die seinen Tod beklagen und als Menschen von diesem Ereignis verändert werden würden, was sich wiederum auf all diejenigen auswirken könnte, die ihnen nahe standen und jemals nahe stehen würden – und das alles durch ein einzelnes Ereignis, ein Blinzeln im Angesicht der Zeit, durch den Tod eines Mannes, der im Laufe der Geschichte nicht mehr war als ein einfacher Gleiterpilot.
Devon wurde aus seinen Gedanken gerissen, als er auf dem schimmernden Blau des Meeres Umrisse erkannte.
»Ist das City One?«, fragte er den Piloten.
»So ist es, in ein paar Minuten sind wir da.«
Devon fixierte den schwarzen Fleck am Horizont, der allmählich größer wurde. Obwohl City One der Sitz des Weltrats und gleichzeitig auch Zentrale des Ratsheeres war, hatte er die Stadt persönlich noch nie betreten. Wie die meisten Menschen kannte er die schwimmende Stadt nur von Aufzeichnungen und Bildern. Doch wenn jemand von ihr sprach, dann nur voll Ehrfurcht. City One war die Stadt, in der die Fäden der Welt gezogen wurden. Von diesem Ort aus versuchte der Weltrat Ordnung in eine chaotische Welt voller Gegensätze zu bringen. Vor fünf Jahrzehnten in einer Zeit der Not aus der UNO hervorgegangen, war der Weltrat inzwischen mehr als Ordnungshüter und übergeordnete Instanz: er galt als Hoffnung für eine sich viel zu rasant verändernde Welt voller unterschiedlicher Mentalitäten.
Nach einigen Minuten konnte Devon bereits Details ausmachen. Wie eine gigantische Insel aus Stahlbeton trieb die Stadt auf dem Meer, bestehend aus unzähligen riesigen Türmen. Gleich kleinen Satelliten umkreisten hunderte Schiffe und Boote das unglaubliche Gebilde. Devon erkannte auch ein militärisches Trägerschiff mit schweren Waffen und Landeplätzen für Gleiter. Beinahe zehn Millionen Menschen lebten und arbeiteten in City One. Devon wusste nicht, welche Ausmaße sie hatte, bis der Gleiter die ersten Ausläufer der Stadt überflog.
»Willkommen in City One.«, sagte der Pilot und musste lächeln, als er das Staunen im Gesicht von Devon wahrnahm.
Wie gläserne Türme streckten sich die Bauten dem sonnigen Himmel entgegen. Überall schwirrten Gleiter auf ihren vorgesehenen Bahnen herum. Ausgedehnte Gartenanlagen und allerlei Pflanzen wuchsen zwischen den Gebäuden und selbst auf ihnen. Im strahlenden Licht der Sonne wirkte City One wie eine Stadt der Engel. Selbst die größten Wellen brachen sich als kleine Spritzer an den Außenwänden des massiven Untergrundes. Es war wohl das eindrucksvollste Projekt, das Menschen je geschaffen hatten und gleichzeitig Symbol für einen Neubeginn. Eine Stadt, die unabhängig von allen Ländern auf den Meeren der Welt dahintrieb. Sie war neutral, so wie es der Weltrat sein sollte.
Der Gleiter senkte sich auf die Stadt herab und reihte sich in den fließenden Luftverkehr ein, der auf vorgegebenen Bahnen verlief, um kein Chaos zu verursachen. Devon erkannte weite Grünflächen, die aus den Türmen wuchsen. Er konnte Menschen auf wunderschönen Balkonen sitzen sehen und Leute in wahnwitzigen Höhen beim Baden beobachten. Dieser Anbick war für Devon, der es gewohnt war, in Gebieten im Einsatz zu sein, wo Armut vorherrschte, ein beinahe schmerzlicher Kontrast. Doch er wusste auch, dass der Anblick trügerisch sein konnte, wie die meisten Megacitys der Welt bewiesen. Während diejenigen, die es sich leisten konnten, weit über dem Boden residierten, musste der Rest in ihrem Schatten leben.
Der Gleiter steuerte an einigen Wohnblöcken vorbei auf einen Bereich mit flacheren Gebäuden zu. Devon erkannte Baracken, Werften, Landeplätze für Gleiter und unzählige andere militärische Gebäude. Überall wehten die Fahnen des Ratsheeres im Wind. Der Gleiter landete schließlich auf einem weiten Landefeld, auf dem bereits ein offenes Militärfahrzeug wartete. Devon bedankte sich beim Piloten, verabschiedete sich und stieg aus. Er warf sich die große Sporttasche über die Schulter und steuerte auf den warteten Wagen zu. Hinter ihm hob der Gleiter mit dröhnenden Triebwerken wieder ab und nahm schnell Fahrt auf.
Devon erkannte die kräftige Gestalt von General Cardoso, der am Wagen lehnte. Devon blieb vor ihm stehen und salutierte respektvoll. Der General salutierte ebenfalls und setzte die Sonnenbrille ab, ehe er Devon die Hand reichte.
»Willkommen in City One, Major.«, sagte der General. »Schön Sie wiederzusehen.«
»Danke General, aber ich würde mich um einiges wohler fühlen, wenn ich wüsste, weswegen ich hier bin.«
Der General bedeutete Devon, in den Wagen zu steigen, übernahm das Steuer und startete den Wagen.
»Was hat Ihnen Adjutantin Sugiyama gesagt?«, fragte er mit erhobener Stimme, um die Geräusche des Fahrtwinds zu übertönen.
»Nur dass es um eine Befragung geht.«, antwortete Devon. »Warum bin ich wirklich hier, General? Sie bestellen mich doch nicht wegen einer einfachen Befragung so plötzlich hierher, nachdem Sie mir persönlich diesen Urlaub gewährt haben.«
»Ja, was das betrifft möchte ich mich bei Ihnen entschuldigen, Major. Es ging leider nicht anders. Die Angelegenheit konnte nicht warten.«
»Bekomme ich Details?«, fragte Devon und sah in das dunkelhäutige Gesicht des Generals.
»Sie werden in den nächsten Stunden wirklich ein paar Tests und Befragungen unterzogen.«
Devon ahnte bereits, dass er nicht mehr Informationen aus Cardoso herausbekommen würde und verkniff sich weitere Fragen.
»Ich verstehe.«, sagte er knapp und verlor sich im Anblick der unmöglichen Stadt.
Einige Zeit schwiegen sie, während der General den Wagen auf ein dunkles, einschüchterndes Gebäude zusteuerte, dessen Zweck Devon nicht erkennen konnte. Er fragte sich, welchen Grund es haben konnte, dass man ein solches Geheimnis aus dieser Befragung machte. Sie besaßen alle Aufzeichnungen seiner Implantate aus Johannesburg und den Bericht von Lieutenant Sethi hatten sie bestimmt auch längst ausgewertet.
»Warum kommen Sie persönlich?«, fragte Devon nach einigen Minuten.
Cardoso sah ihn für einen Moment an und grinste dann.
»Ich bin es leid ständig irgendwelche Sitzungen und Einsatzbesprechungen mit Hologrammen und Bildschirmen zu führen.«, sagte er. »Mein Arsch ist schon ganz wund vom vielen Herumsitzen.«
Der General deutete nach oben.
»Es ist so ein schöner Tag, da wollte ich die Chance nutzen, ein wenig an die frische Luft zu kommen. Und den Helden von Johannesburg trifft man nicht alle Tage.«
Cardoso lachte, doch Devon stimmte nicht mit ein. Ihm gefiel dieser neue Spitzname nicht und er hoffte ihn bald wieder los zu werden. Dennoch zweifelte er an dem, was Cardoso ihm gerade erzählt hatte. Die restliche Fahrt war erfüllt von Schweigen und dem Singen des Windes.

Zone: Namenlose Zone

Die Sonne stand hoch über dem leuchtend grünen Tal und strahlte eine angenehme Wärme aus. Rauschend stürzte das Wasser von den felsigen Hängen in den abgelegenen Weiher. Das kristallklare Wasser bewegte sich in feinen Wellen bis an das Ufer, an dem exotische Pflanzen wuchsen. Vögel drehten über der malerischen Szenerie ihre Kreise. Fremdartige Gerüche erfüllten die frische, unverbrauchte Luft.
Nyx schwamm im Körper einer dunkelhäutigen Schönheit im natürlichen Becken und wartete geduldig auf den Besucher, der jeden Moment eintreffen würde. Ihr Geist war in zwei Teile gespalten. Während ihr Maschinenbewusstsein in den Weiten des Frames auf seine Chance lauerte, steuerte Nyx den digitalen Avatar mit geschmeidigen Bewegungen auf das Ufer des Weihers zu.
Die sehr begrenzte Zone bestand nur aus dem Gewässer und wenigen Metern darüber hinaus. Der Rest war nur optisches Beiwerk, um die Illusion zu perfektionieren. Sie hatte sich das Grundkonstrukt von einem sehr talentierten Zonearchitekten ausgeliehen und einige Änderungen daran vorgenommen. Kreativität und Ästhetik waren nicht gerade ihre Stärken, weswegen sie sich gerne der Werke anderer, begabterer Leute bediente. Dennoch lief die Zone auf einem ihrer Server und stand alleine unter ihrer Kontrolle. Jeder, der diese Zone betrat, war ihr vollkommen ausgeliefert und musste nach ihren Regeln spielen. Diese Zone war nicht öffentlich gelistet und existierte offiziell nicht – sie in den Weiten des Frames zu finden war praktisch unmöglich, dafür hatte Nyx gesorgt. Darüber hinaus benötigte man sowohl die genaue Frameadresse als auch die Zugangscodes.
Nyx trieb noch eine Weile ungeduldig im Wasser, bis der Besucher endlich auftauchte. Ein stattlicher Männerkörper um die dreißig in einem maßgeschneiderten Anzug erschien vor einer Gruppe exotischer Sträucher. Nyx konnte genau verfolgen, wie sich der Avatar aus dem Nichts schälte und plötzlich da war. Mit raubtierhaftem Blick verfolgte sie die ersten Sekunden des Neuankömmlings in ihrer Zone. Sie lag im Wasser auf der Lauer und nur ihr Kopf war zu sehen.
Der Gast war so damit beschäftigt, seinen eigenen Avatar zu bewundern, dass er von der dunklen Schönheit im Wasser keinerlei Notiz nahm.
»Monsieur Bériault.«, rief Nyx mit einer Stimme, die vor Erregung vibrierte. Nyx empfand sie als überzeichnet, aber sie sollte in diesem Fall schließlich nur ihren Zweck erfüllen.
Der Mann erschrak und wurde sich offenbar erst jetzt der malerischen Umgebung der Zone bewusst. Sein Blick wanderte gespannt herum, blieb wieder einen Moment an Nyx haften, ehe er erneut abdriftete, als könne er nicht genügend Sinneseindrücke auf einmal in sich aufnehmen.
»Thaís, sind Sie das?«, fragte der Mann, als er sie schließlich mit seinen strahlenden Avataraugen fixierte.
Nyx glitt anmutig wie eine Wassernixe aus dem saphirfarbenen Becken. Das Wasser floss an den perfekten Konturen ihres Körpers herab, der nur spärlich von einem roten Bikini bedeckt wurde.
»Natürlich bin ich es, Monsieur Bériault, haben Sie jemand anderen erwartet?«
Der Mann schüttelte hastig den Kopf, während sich sein Blick an ihren weiblichen Kurven festsaugte.
»Nein, nein, ich hätte nur nicht …«
»… nicht erwartet, dass es sich so real anfühlt?«, vollendete Nyx seinen Satz.
Bériault nickte und starrte auf seine beiden kräftigen Hände, als hätte er noch nie zuvor Finger gesehen. Er ballte seine Hände mehrmals zu Fäusten und öffnete sie wieder, sodass sich Sehnen und Adern unter der Haut deutlich abzeichneten.
»Es ist so real.«, sagte er voller Ehrfurcht.
»Weil es genau das für Ihr Gehirn ist.«, erklärte Nyx. »Das Implantat löst in Ihrem Kopf genau dieselben Reize aus als würden Sie sie mit Ihrem eigenen Körper erleben. Der Unterschied ist nur, dass die Möglichkeiten in der Zone unbegrenzt sind.«
»Es ist unglaublich.«, staunte der Mann, während sich Nyx ihm näherte.
Unterdessen war ihr Maschinenbewusstsein dabei, die Firewalls der Box zu hacken, die den Gast hierher gebracht hatte. Durch seine Verbindung mit ihrer Zone war es einfach, ihn in den Weiten des Frames auszumachen.
»Das ist es tatsächlich.«, sagte Nyx und ihre Stimme war ein betörendes Versprechen.
Als sie ihn erreicht hatte, streckte sie die Hände aus und ergriff seine. Abermals zuckte er für einen kurzen Moment zusammen, lächelte sie dann aber freudestrahlend an.
»Sie sind einfach atemberaubend schön, Thaís.«
Nyx sah in ein hübsches Männergesicht von der Stange, wie es unzählige Male mit leichten Abweichungen verwendet wurde. Es war ein Billigavatar, der wenig Besonderheiten bot, aber gerade für Anfänger gut geeignet und vor allem preiswert war.
»Ich hätte nie erwartet, dass ich so etwas noch einmal in meinem Leben spüren würde.«, sagte er und starrte ungläubig auf die eigenen, kräftigen Hände. »Ich bin jetzt achtundsiebzig Jahre alt, aber in diesem … Körper fühle ich mich wahrhaftig wieder wie dreißig. Es ist ein Wunder. Wie ist das nur möglich?«
Nyx setzte ein verführerisches Lächeln auf – es war ein Werkzeug, eine Waffe und ein Manipulationsmittel zugleich.
»Alles nur Signale in Ihrem Kopf, Monsieur Bériault.«, erklärte sie geduldig. »Für Ihr Bewusstsein ist es real. Nur Ihr Körper ist älter geworden, ihr Geist funktioniert noch wie damals. Hier in der Zone sind Sie jeder, der Sie sein möchten. Ob jung oder alt, ob kräftig oder schwach, ob Mann oder Frau.«
»Haben Sie schon einmal den Geschlechtertausch probiert?«
»Ja, aber ich bevorzuge einen weiblichen Körper.«
»Unbeschreiblich.«, staunte Bériault wieder und schloss für einen Moment die Augen.
Nyx konnte hören, wie er die frische, warme Luft in seine Lungen saugte und dabei ein Lächeln über seine Lippen huschte. Nyx betrachtete seinen zufriedenen Gesichtsausdruck mit Genugtuung, denn ihr Maschinenbewusstsein überwand langsam die lächerlichen Firewalls, die sich ihr in den Weg stellten. Alles vorinstallierte und in die Box integrierte Sicherheitsmaßnahmen der großen Hersteller, so berechenbar wie eine wiederkehrende Zahlenreihe mit zwei Ziffern.
Plötzlich schossen die kräftigen Hände von Bériault vor und packten ihren Körper. Nyx blieb keine Zeit zu reagieren. Er presste sie fest an sich, sodass sich ihre Gesichter beinahe berührten. Nyx sah den gierigen Blick in den Augen von Bériault und spürte seinen Atem auf ihren Lippen.
»Sie sind genau so unbeschreiblich schön wie dieser Ort hier.«, hauchte er ihr zu. »Ich habe alles darüber gelesen, mich über alle Risiken und Möglichkeiten informiert und dennoch konnte mich nichts auf das hier vorbereiten. Es ist so viel besser, als ich es mir je hätte vorstellen können.«
Nyx verwandelte ihr Gesicht in eine Waffe der Versuchung und ließ dabei ihre Hände seinen kräftigen Rücken entlanggleiten.
»Ich könnte Sie doch nie enttäuschen.«, flüsterte sie.
Dann riss sie sich mit einer geschickten Bewegung von ihm los und rannte zum Wasser zurück. Mit einem anmutigen Sprung tauchte sie in das klare Nass ein, während Bériault überwältigt zurückblieb. Sie schwamm bis zur Mitte des Weihers, tauchte dort für ein paar Sekunden unter, um einige Meter weiter wieder aufzutauchen. Sie strich sich das lange, tiefschwarze Haar nach hinten und lächelte Bériault zu.
»Wir haben alle Zeit der Welt. Testen Sie ihren neuen Körper und genießen Sie das Gefühl, wieder jung zu sein.«
Bériault zögerte einen Moment, doch dann begann er sich fieberhaft den Anzug herunterzureißen. Als er sich endlich frei gemacht hatte, machte er erste zaghafte Schritte, bis er sich seiner neuen Körperlichkeit sicher war und zu laufen begann.
Nyx war überrascht, wie gut der alte Mann sich in seinem ersten Zonedive machte. Viele Anfänger hatten große Probleme bei der Umstellung, kämpften mit Kopfschmerzen, Gleichgewichtsstörungen oder dem Trauma, in einem fremden Körper zu erwachen. Nicht selten versuchten sie sofort wieder aus der Zone zu fliehen. Die meisten benötigten einige Dives, ehe sie es richtig genießen konnten, einige wenige schafften es nie. Die Tatsache, dass Bériault die Umstellung so gut verkraftete, missfiel ihr. Sie hatte damit gerechnet, ihm die meiste Zeit händchenhaltend beistehen zu müssen, während er sich auf die neue Erfahrung einstellte. Doch schon zwei Minuten nach ihr tauchte auch er kopfüber in das Wasser ein.
Ihr Maschinenbewusstsein hatte inzwischen die Firewalls des alten Franzosen geknackt und war dabei, sich zu seinem Implantat vorzuarbeiten.
Nyx wartete in der Mitte des Weihers, bis Bériault vor ihr auftauchte. Er strahlte jugendlichen Elan aus und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht.
»Es ist so viel besser als mit einem VR-System.«, sagte er. »Tausendmal besser.«
»Mit einem VR-System sehen Sie die virtuelle Welt auch nur mit Ihren eigenen Augen, hören mit ihren eigenen Ohren – nicht mehr als Bildschirme in einer Brille und Lautsprecher in ihren Ohren. Hier sind sie jedoch wirklich und Ihr Verstand erkennt keinen Unterschied.«
»Ich habe im Frame gelesen, dass der eigene Körper auf Reize in der Zone reagieren kann.«, sagte er und schloss kurz die Augen, um das strahlende Sonnenlicht auf seinem Gesicht zu genießen. »Wenn ich hier nur lange genug stehe, könnte mein realer Körper dadurch doch auch braun werden.«
»Zum Teil.«, antwortete Nyx. »Die meisten Signale werden von Ihrem Neuroimplantat abgefangen und in der Zone für den Avatar verarbeitet. Aber ein paar Fragmente kommen in abgeschwächter Form immer durch, und darauf kann der Körper reagieren.«
»Faszinierend.«, staunte er. »Und was ist mit Verletzungen oder dem Tod? Ich habe gelesen, dass das streng reglementiert wird und so keinerlei Gefahr für den realen Körper besteht.«
»Das stimmt. Verletzungen in der Zone betreffen nur Ihren Avatar.«, erklärte Nyx und dachte schaudernd an ihren Dive ins Pain. Inoffizielle Zones waren immer eine Gefahr, das wusste sie besser als jeder andere. »Es kann nur vorkommen, dass Sie einige der Empfindungen noch spüren, wenn Sie die Zone verlassen.«
»Das Zoneecho.«
»Genau. Sie wissen gut Bescheid, Monsieur Bériault. Dennoch sollten Sie es langsam angehen lassen, so ein Eingriff in das Gehirn ist keine einfache Sache.«, sagte Nyx und versuchte so das Gespräch aufrecht zu halten. Solange ihr Maschinenbewusstsein arbeitete, musste sie den Mann hinhalten. Doch sein Blick füllte sich bereits mit heftigem Verlangen.
»Ich habe lange genug gewartet. Ein paar Kopfschmerzen nehme ich für das hier gerne in Kauf.«
Ehe sich Nyx versah, schlangen sich seine Arme um sie und einen Wimpernschlag später spürte sie einen feurigen Kuss auf ihren Lippen. Für einen Moment wollte sie sich der Kraft des Kusses hingeben, doch dann tauchte sie unter und ein paar Meter weiter wieder auf. Sie bewegte ihren rechten Zeigefinger hin und her, als wollte sie ihn maßregeln.
»Kommen Sie, Monsieur Bériault.«, sagte sie und schwamm mit raschen Bewegungen auf die felsige Einbuchtung unter dem Wasserfall zu.
Als sie einen kurzen Blick hinter sich warf, überraschten sie die kräftigen Schübe, mit denen er sich durch das Wasser bewegte. Dieser Mann war in einem jungen, virtuellen Körper neugeboren worden und gewillt, ihn auch zu nutzen. Die generischen Augen verzehrten Nyx´ Avatar.
Sie fluchte über die Tatsache, dass Bériault so anpassungsfähig war. Sie konnte ihn jetzt nicht aus der Zone werfen, nicht ehe sie jeden Credit von seinem Konto geräumt hatte. Also musste sie das Spiel mitmachen, für das er sie eigentlich bezahlt hatte. Doch sie hatte praktisch kein Interesse daran, ihm diesen Wunsch auch wirklich zu erfüllen.
Mit nur wenig Vorsprung kletterte Nyx die glitschigen Steine hinauf. Der Wasserfall donnerte jetzt direkt vor ihr in das natürliche Becken. Verschwommen konnte sie die Gestalt von Bériault durch das Wasser hindurch erkennen. Er richtete sich gerade auf.
»Monsieur Bériault, ich hätte nicht erwartet, dass Sie sich so schnell anpassen.«, sagte Nyx, um weiter Zeit zu gewinnen. Sie musste lauter sprechen, um den Wasserfall zu übertönen.
Bériault tauchte nun auch in der kleinen Höhle hinter dem Wasserfall auf.
»Ich habe so viele Jahre auf diesen Moment gewartet, mich geistig darauf vorbereitet und obwohl es so vollkommen anders ist, als ich erwartet habe, fühlt es sich doch so richtig an. Das erste Mal seit Jahren fühle ich mich vollkommen.«
»Passen Sie auf, dass Sie nicht süchtig nach diesem Gefühl werden.«, sagte Nyx und bewegte sich langsam rückwärts.
Bériault steuerte unablässig auf sie zu. Das Wasser perlte von dem jungen, kräftigen Körper ab, während er eine stählerne Erektion zwischen seinen Beinen trug. Er war gewillt, das erotische Abenteuer einzufordern, dass ihm versprochen worden war.
»Ich bin jetzt schon süchtig.«, rief er erregt. »Ich will Sie, Thaís. Geben Sie mir das Gefühl, wieder ein junger Mann zu sein.«
Nyx dachte einen Moment darüber nach, die Sache abzubrechen oder Bériault einfach aus der Zone zu werfen, doch dann wären Tage der Vorbereitung verschwendet gewesen. Sie brauchte das Geld und musste Zeit gewinnen, ehe sie das Notfallprogramm seiner Box aktivieren und ihn so in ein temporäres Koma stürzen konnte. Doch im Moment benötigte sie weiterhin den Zugang zu seinem Neuroimplantat und der Box. Und das ging am effektivsten, wenn er sich in Sicherheit wähnte.
»Worauf warten Sie dann noch, Monsieur Bériault?«, fragte sie.
Mit einem kurzen Gedanken reduzierte Nyx die Empfindungsfähigkeit ihres Körpers auf ein Minimum, sodass es gerade so reichte, um die Kontrolle darüber zu behalten. Ganz ohne Gefühle wäre es unmöglich gewesen, einen Avatar zu steuern, also musste sie diesen Kompromiss eingehen.
Nyx entledigte sich ihres Bikinis und stand nun in ihrer ganzen dunkelhäutigen Pracht vor Bériault. Der hielt inne und verzehrte jede Kurve ihres Körpers mit seinen Augen. Er scannte jeden Zentimeter ihres Avatars, als könne er nicht glauben, dass sie so real vor ihm stand.
»Sie sind einfach perfekt.«, sagte er. Sein kräftiger, junger Körper strahlte Wärme und Begehren aus. »Alles ist perfekt.«
Dann ging er die letzten Schritte und schlang seine Arme um sie. Seine Lippen suchten ihre und seine Hände tasteten fiebrig ihren Körper ab. Nyx spürte die Berührungen wie in weiter Ferne als gehörten sie gar nicht zu ihr. Beinahe war es so als hätte man ihren ganzen Körper mit Schmerzmitteln vollgepumpt und damit jedes Gefühls beraubt. Erfahren erwiderte sie seine Küsse und seine Berührungen, ohne sich emotional auf das Geschehen einzulassen. Ihre Konzentration galt ausschließlich seinem Neuroimplantat.
Die Berührungen von Bériault wurden zunehmend fordernder, seine Küsse intensiver. Begierig und doch behutsam drängte er den Avatar von Nyx an die warme Felsenwand, die vom Wasser glatt gespült worden war. Nyx öffnete ihre Lippen zu einem gespielten Stöhnen und ließ zu, dass er nach ihrer feuchten Möse tastete. Trotz des kaum vorhandenen Körpergefühls merkte Nyx, wie sich Erregung in ihrem Körper aufbaute: eine Reaktion des auf Sex spezialisierten Avatars. Das war in ihrem Plan zwar nicht vorgesehen gewesen, aber sie tröstete sich damit, dass nichts davon real war. In Wirklichkeit lagen sie beide regungslos in ihren Betten, meilenweit voneinander entfernt, in einer anderen Realität.
Irgendwo weit weg spürte sie, wie er in sie eindrang und sie gegen die Felswand gelehnt nahm. Beinahe war es so, als wäre es nicht sie, die das erlebte und doch war da gerade genug Gefühl, um es wahrzunehmen. Sie war wie eine Zuschauerin in ihrem eigenen Avatar. Geduldig spielte sie Bériault weiter etwas vor, damit er keinen Verdacht schöpfte. Inzwischen war ihr Maschinenbewusstsein mit den Arbeiten so gut wie fertig. Nur noch wenige Momente und sie konnte diese Farce beenden.
Mit kräftigen Stößen ließ er seiner Lust freien Lauf. Nyx hatte die Augen geschlossen, stöhnte aus Notwendigkeit und konzentrierte sich vollkommen auf ihr digitales Zweitbewusstsein. Allmählich ging der Atem von Bériault in ein Grunzen über. Und dann hatte sie es endlich geschafft. Mit einem einzelnen Gedankenbefehl aktivierte sie das Notfallprogramm seiner Box. Bériault war von der einen auf die andere Sekunde verschwunden. Vor ihren Augen strömte wieder der Wasserfall in den Weiher. Das dumpfe Gefühl seines Körpers auf ihrer Haut und in ihrem Inneren löste sich langsam auf. Dann gab sie der Box das Signal, die Zone zu verlassen.

City One – Atlantik

Nachdem sich General Cardoso mit einem verdächtig freundschaftlichen Klaps auf die Schulter verabschiedet hatte, fand sich Devon in einem tristen, grauen Raum wieder. Bis auf zwei fest am Boden verschraubte Stühle und einen Tisch samt einiger Geräte und einem Bildschirm war der Raum leer. Ein Mann in der schwarzen Uniform des Geheimdienstes erhob sich, als Devon eintrat.
»Sie müssen Major Reeves sein.«, sagte der Mann mit einem beherrschten Gesichtsausdruck.
»Ja.«, antwortete Devon knapp.
»Ich bin Special Agent Alexander Schmitz. Setzen Sie sich bitte.«
Obwohl es wie eine Bitte klang, war es nichts weniger als ein Befehl. Devon hatte in den vielen Jahren im Dienst die oftmals feinen Nuancen in den Stimmen der Vorgesetzten zu interpretieren gelernt, also setzte er sich, ohne zu zögern. Der Mann nahm ihm gegenüber Platz und begann damit, die Hologrammsteuerung des Computers zu bedienen. Devon wartete geduldig auf weitere Anweisungen und fragte sich wieder, weswegen er wirklich hier war. Der Raum glich einem Verhörzimmer und scheinbar war er in der Zentrale des Geheimdiensts gelandet, was kein besonders gutes Zeichen war.
»Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass alles, was Sie in diesem Raum sagen oder tun, aufgezeichnet wird.«, sagte der Mann, ohne von seinem Monitor aufzusehen. »Haben Sie das verstanden?«
»Ja.«, antwortete Devon und erkannte überall im Raum unzählige Kameras, die ihn mit ihren toten Maschinenaugen anstarrten.
»Sie sind heute hier, um sich einigen Befragungen und Tests physischer sowie psychischer Natur zu unterziehen.«, begann der Mann, als er mit seinen Eingaben fertig war. »Es werden Ihnen Fragen gestellt, die Ihre Privatsphäre und Ihre Persönlichkeitsrechte verletzen und Tests durchgeführt, die zu körperlichen Schäden führen könnten. Überdies muss ich Sie darauf hinweisen, dass jegliche Antwort dazu führen kann, dass Sie unehrenhaft aus dem Ratsheer entlassen oder vor ein Kriegsgericht gestellt werden.«
Devon schluckte einen Moment, als er das hörte.
»Haben Sie das verstanden?«
»Ja.«, antwortete Devon.
Der Mann nickte, als wollte er sich selbst die Bestätigung zum Weitermachen geben.
»Sind Sie damit einverstanden, dass ich die Daten Ihres Neuroimplantats zur Überprüfung der Richtigkeit Ihrer Daten sowie zur Analyse Ihrer Reaktionen nutze?«, fragte Schmitz so gelassen, als ob er diese Art von Befragung jeden Tag durchführen würde. Ehe Devon antworten konnte, fuhr der Agent fort. »Sollten Sie nicht zustimmen, endet die Befragung an dieser Stelle und Sie werden das Gelände sofort verlassen. Eine zweite Befragung wird es nicht geben.«
Devon blinzelte verwirrt. War seine Reaktion auf diese Frage bereits ein Teil des Tests? Hatte er wirklich eine Wahl?
»Welche Konsequenzen hätte das?«, fragte er vorsichtig und so ruhig wie möglich.
Schmitz zeigte das erste Mal Anzeichen von Emotionen, als sich eine seiner Augenbrauen hob, während er über den Bildschirm lugte.
»Sehr witzig, Major.«, antwortete er kühl und beobachtete Devon abwartend.
Devon überlegte, wie er reagieren sollte, als sich der Agent wieder zu Wort meldete.
»Stimmen Sie diesem Vorgehen nun zu, Major?« In die Stimme von Schmitz hatte sich eine Spur Ungeduld gemischt.
Devon nahm an, dass er gut daran tat, zuzustimmen.
»Ich bin einverstanden.«, sagte er schließlich.
»Gut.«
Schmitz nickte neuerlich und stand dann auf. Er nahm ein Kabel von dem Gerät, das auf dem Tisch angebracht war und näherte sich Devon.
»Darf ich?«
Devon nickte nur und wartete, bis Schmitz das Kabel mit dem Anschluss hinter seinem Ohr verbunden hatte. Devon nutzte die Verbindung so gut wie nie, weswegen es anfangs ein unangenehmes Gefühl war. Wortlos setzte sich der Agent wieder.
»Dann beginne ich jetzt mit dem ersten Teil der Befragung. Und vergessen Sie nicht, dass ich die Daten ihres Implantates in Echtzeit analysiere. Alles was Sie sagen, kann gegen Sie verwendet werden.«
»Verstanden.«, sagte er und seufzte kaum hörbar.
Devon verspürte keine Angst vor Einsätzen, nur die übliche Aufregung, bevor es in einen Kampf ging, aber in dieser Situation musste er sich so etwas wie Furcht eingestehen. Das Heer war sein Leben, hier hatte er eine Aufgabe. Er wollte weder entlassen werden noch in einem Militärgefängnis enden. Die quälende Ungewissheit nagte an ihm, während der Agent seine erste Frage stellte.
»Ihr Name ist Devon Reeves?«
»Ja.«
»Sie sind Major im Ratsheer?«
»Ja.«
»Mein Name ist Alexander Schmitz?«
»Ja.«
»Sie befinden sich in London?«
»Nein.«
»Sie sind verheiratet?«
»Nein.«
Der Agent machte eine Pause und tippte etwas in den Computer.
»Gut, die Geräte sind nun geeicht.«, erklärte er. »Sie wurden am 13.04.2041 als Sohn einer Illegalen in Portsmouth geboren?«
Für einen kurzen Moment blitzte das verschwommene Gesicht seiner Mutter vor seinen Augen auf. Viel war in seinem Gedächtnis nicht mehr von ihr übrig.
»Ja.«
»Die Identität Ihres Vaters ist Ihnen unbekannt?«
»Ja.«
»Sie hatten eine jüngere Schwester, die vor fünfzehn Jahren durch einen Brainflash gestorben ist?«
Eine schmerzliche Erinnerung brandete durch seinen Verstand. Er hatte nicht mit solchen Fragen gerechnet. Er nickte.
»Bitte antworten Sie deutlich hörbar.«
»Ja, das ist korrekt.«, sagte Devon und kam sich vor wie eine Maschine, die ständig dasselbe wiederholte.
»Haben oder hatten Sie jemals eine Beziehung mit eine Frau namens Lisa Turner?«
Devon hörte die Frage und musste an die letzte Nacht mit Lisa denken. Eine Nacht gefüllt mit Leidenschaft und Einsamkeit zugleich.
»Mehr oder weniger.«, sagte er.
»Definieren Sie mehr oder weniger, Major.«, sagte Schmitz mit der immer gleichen Stimmlage, die es Devon schwer machte, ihn für ein empfindsames Wesen zu halten.
»Wir waren immer sehr gute Freunde, eine richtige Beziehung hatten wir aber nie.«, erklärte Devon und dachte an die Worte von Lisa.
»Auch nicht sexueller Natur?«, fragte der Agent.
»Doch, wir hatten Sex miteinander.«
Schmitz nickte und tippte wieder etwas in seine Holotastatur. Was auf dem Bildschirm vor sich ging, konnte Devon nicht erkennen. Er wusste weder, wieso diese Fragen wichtig waren noch worauf sie abzielten. Aber jetzt war es zu spät, er musste diese Befragung wohl oder übel über sich ergehen lassen.
Schmitz setzte die Befragung fort.
»Wann haben Sie das erste Mal getötet?«
Die Frage überrumpelte Devon, dennoch musste er nicht lange darüber nachdenken. Die Erinnerung an den Tag seiner ersten Morde war noch so frisch wie am selben Tag.
»Mit sechzehn Jahren.«
»Haben Sie es genossen?«
»Nein.«, antwortete Devon empört, doch Schmitz reagierte nicht auf die jähe Veränderung seiner Stimme.
»War es Notwehr?«, fragte er beinahe gleichgültig.
»Ja, sonst hätten meine Schwester und ich wahrscheinlich nicht überlebt.«
»Definieren Sie wahrscheinlich nicht überlebt.«
»Wir haben auf der Straße als sogenannte Boten gearbeitet und sollten ein Paket zu einer Zielperson bringen, da wurden wir von einer Gang Jugendlicher geschnappt. Sie vergingen sich an meiner Schwester. Ich konnte mich befreien und habe sie alle getötet.«
»Wie viele waren es?«
»Vier.«, sagte Devon und fand sich plötzlich in dem leeren Lagerhaus wieder, angebunden an eine alte, verrostete Maschine, während das Schattenspiel von fünf Gestalten durch eine Feuerstelle an die Wand projiziert wurde.
Das verzweifelte Schluchzen von Jessica hatte in ihm einen glühenden Hass geweckt, der jegliche Zurückhaltung zu Asche verbrannt hatte, zusammen mit einem Teil seiner Gefühle. Der Rest der Erinnerung bestand aus einem bunten Kaleidoskop aus Blut und Schreien.
»Major?« Die Stimme von Schmitz holte Devon in die Gegenwart zurück.
»Entschuldigen Sie.«
»Glauben Sie, dass diese … Gang Ihre Schwester und Sie am Leben gelassen hätte?«
»Nein, das glaube ich nicht.«, sagte Devon hart. »Die Straßen waren damals brutal. Ungechipte Illegale verschwanden regelmäßig, ohne dass es jemanden interessiert hätte. Uns durfte es im Grunde ja nicht geben.«
Der Agent betrachtete Devon eine Weile und nickte dann wieder.
»Sie wurden bereits mit sechzehn Jahren vom privaten Sicherheitskonzern Blackhammer angeworben und in eines seiner Trainingslager gebracht. Hatte die Entscheidung Blackhammer beizutreten etwas mit diesem Vorfall zu tun?«
Devon dachte über diese Frage nach.
»Der Vorfall war ausschlaggebend, aber nicht weil ich einen Entschluss gefasst hatte, sondern weil er offenbar ein Zeichen war.«
»Ein Zeichen wofür?«, harkte Schmitz geduldig nach.
»Jessica und ich hielten uns mit dem Geld dieser Botengänge über Wasser.«, erklärte Devon. »Da wir noch jung waren, ließ man uns meistens in Ruhe. Die wenigsten wollten etwas mit Unseresgleichen zu tun haben. So konnten wir kleinere Waren, Datenträger oder Drogen unauffällig transportieren. Wir brauchten das Geld, also brachte ich das Paket nach diesem Vorfall alleine zur Zielperson. Die war allerdings sehr wütend, weil ich viel zu spät aufgetaucht war und so schleifte sie mich zu ihrem Boss. Ich erklärte ihm alles, worauf mich seine Leute zwangen, ihn zum Ort der Morde zurückzubringen. Sie rechneten offenbar mit einer Lüge.«
Devon erinnerte sich, wie er ein zweites Mal vor den Leichen der jungen Gang gestanden hatte. In jenem Moment, als die Wirkung des Adrenalins abgeklungen war, hatte er alles mit anderen Augen gesehen. Erst zu diesem Zeitpunkt war ihm seine Tat bewusst geworden. Irgendwo in seinem Hinterkopf hatte sich die Erinnerung an den Vorfall versteckt und dennoch war es so, als wären es die Erinnerungen eines Anderen gewesen. Doch der erwartete Schock war ausgeblieben. Nur ein dumpfes, nicht näher zu bezeichnendes Gefühl hatte überlebt.
»Der Boss glaubte mir und sagte, ich sei etwas Besonderes.«, erzählte Devon. »Er meinte, dass er vielleicht etwas für mich hätte. Er stellte mich einem Talentsucher von Blackhammer vor, wie man ihre Rekrutierungsoffiziere auch heute noch nennt. Ich hörte mir an, wie es weitergehen würde und akzeptierte sofort.«
Schmitz tippte wieder etwas in die Konsole ein. Seine Finger tänzelten über die Holotastatur. Diesmal dauerten die Eingaben länger. Devon spürte unterdessen wie die gut konservierten Erinnerungen die Dauer zwischen seinen Herzschlägen verringerten. Er fragte sich, ob dies nun das Ende seiner militärischen Laufbahn war und ob er seine Zukunft hinter Gittern verbringen würde. Immerhin hatte er gerade vier Morde gestanden. Womöglich wussten sie sogar von seinen Taten unter dem Banner von Blackhammer? Am liebsten hätte er den Mann gefragt, was er da in den Computer eingab, doch er unterdrückte den Impuls.
»Was war die letztendliche Motivation hinter Ihrer Entscheidung, Blackhammer beizutreten?«, meldete sich Schmitz wieder, nachdem sich die Holotastatur ausgeblendet hatte.
»Geld.«, antwortete Devon. »Und womöglich eine Zukunft für Jessica und mich. Dürfte ich fragen, wozu das hier alles ist?«
»Um ein präzises Profil von Ihnen zu erstellen, Major.«, antwortete er knapp. »Darf ich fortfahren?«
Devon seufzte. »Ja.«
»Glauben Sie, dass der Tod Ihrer Schwester in direktem Zusammenhang mit den Vorfällen dieses Tages standen?«
»Das glaube ich nicht, sie starb erst neun Jahre später.«
Schmitz sah zuerst auf den Bildschirm und musterte dann Devon.
»Sind Sie sicher?«
Devon wich dem bohrenden Blick des Agenten aus und biss die Zähne zusammen. Am liebsten hätte er sich das Kabel vom Kopf gerissen, wäre aufgestanden und gegangen. Doch er atmete tief durch und dachte an Jessica. Die wenigen positiven Emotionen in seinem Herz drohten vom Schmerz zerfressen zu werden, also kapselte er sie wie immer ab. Ein stumpfer Schmerz blieb in ihm zurück, als er wieder aufsah.
»Es ist möglich, aber ich weiß es nicht genau.«
Schmitz nickte. »Fühlen Sie sich für ihren Tod verantwortlich?«
Sein Herz kam für ein paar Schläge aus dem Takt, als er die Frage hörte. Devon hatte das Gefühl, Schmitz würde ihm einen glühenden Speer mitten in die Brust treiben.
»Ja.«
»Glauben Sie, dass diese Schuldgefühle Sie in Ihren Einsätzen jemals behindert haben?«
Die Stimme des Agenten hatte einen professionell-distanzierten Ton, doch für Devon waren die Fragen wie Schläge auf seinen emotionalen Zustand. Er konnte spüren, wie die Taubheit in ihm aufbrach und ein Gebräu aus ätzendem Zorn und Hass seine Gedanken flutete.
»Was ist das denn für eine Frage?«, entkam es ihm.
Schmitz hob wieder die Augenbrauen.
»Bitte beantworten Sie die Frage.«
»Nein, ich glaube nicht, dass diese Schuldgefühle mich in meinen Einsätzen behindert haben.«, antwortete Devon mit lauter Stimme.
»Gut.«, sagte Schmitz und machte weiter wie zuvor.

6 – menschliche Einöde

Lower Chicago – USA

Nyx öffnete die Augen und fand sich in ihrer Wohnung wieder. Sie richtete sich erleichtert auf und zog das Kabel aus dem Anschluss hinter ihrem Ohr. Sie benötigte einen Moment, um sich in ihrer eigenen Haut wiederzufinden. Im Vergleich zu dem sexuell aufgeladenen Avatar erschien ihr der eigene Körper seltsam dumpf, beinahe gefühllos und sie war froh darüber.
Mit dem Lächeln einer Siegerin sprang sie aus dem Bett. Bériault lag jetzt in einem künstlichen Koma und würde erst in einigen Stunden wieder zu sich kommen. Bis er begriffen hatte, was vorgefallen war, war es längst zu spät. Die Cybercops würden keine Spuren mehr finden. Nichts würde darauf hinweisen, wo sein ganzes Geld hingekommen war. Und da er in eine inoffizielle Zone gedived war, würde man ihm den Fehler selbst zuschreiben. Ein klarer Fall von Eigenverschulden. Versicherungen sprangen bei so etwas immer ab.
Bériault hatte jetzt zwar ein brandneues Neuroimplantat, aber keinen Credit mehr, um es zu genießen. Nyx warf sich ihre schwarze Lederjacke über, einen dunkelgrauen Schal um den Hals, schlüpfte in ihre Stiefel und verließ die Wohnung. Noch ganz berauscht von dem letzten Hack stürmte sie das Treppenhaus hinunter. Sie passierte den vertrauten Dreck und Gestank, sprang über Müllsäcke und ignorierte zwei Gestalten, die gerade miteinander dealten. Unten angekommen verließ Nyx das Gebäude durch den stets offenen Eingang.
Sie fand sich in einer finsteren Gasse wieder. Ein kühler Wind wehte den üblen Geruch von Müll vorbei.
»Guten Abend, Lower Chicago.«, sagte sie, zog sich die Kapuze ihrer Jacke über den Kopf und schenkte der vertrauten Umgebung ein selbstbewusstes Lächeln. Dann machte sie sich auf den Weg.
Lower Chicago, das war jener Ort, an dem die Menschen landeten, wenn sie voller Hoffnung auf ein neues, besseres Leben in die Megacity kamen. Doch ihre Hoffnungen endeten bald auf den schmutzigen Gehsteigen, wo die Realität unbarmherzig auf ihnen herumtrampelte. Kaum jemand, den es in die Stadt zog, schaffte den Aufstieg. Die meisten wurden von der wilden, urbanen Landschaft mit ihren Gefahren und Tücken verschlungen. Entweder die Menschen passten sich an und überlebten oder sie endeten in einer verkrustete Blutlache in einem düsteren Seitenarm der Durchzugsstraßen, beobachtet maximal von nachtblinden Kameras. Jeder Anschein von behördlicher Kontrolle verging in den Wirren von Korruption, Verbrechen und der allgegenwärtigen Armut.
Die Reichen bezeichneten Lower Chicago abfällig als Wastelands: ein dreckiges Ödland aus Gewalt und Verkommenheit. Kaum war dieser Begriff das erste Mal gefallen, hatte es nicht lange gedauert bis er auch auf den Straßen kursierte. Doch während die Wastelands am Tag einfach nur eine graue Betonwüste voll Müll und Gestank waren, machten sie bei Sonnenuntergang eine überraschende Metamorphose durch. Die Nacht hauchte ihnen richtiges Leben ein, das sich untertags vor den kritischen Blicken der reichen Oberstadtbewohner zu verstecken schien.
Erst wenn sich die allgegenwärtigen Reklametafeln einschalteten und jede noch so winzige Gasse mit ihrem grellen Neonlicht bestrahlten, begannen die Wastelands wahrhaftig zu existieren. Wie Motten wurden die Menschen von den psychedelischen Lichteffekten angezogen, die erst zu später Stunde ihre volle Wirkung entfalteten. Niemand konnte sich den Verlockungen von Vergnügen, schnellem Reichtum oder technischen Erweiterungen entziehen, die von den erleuchteten Auslagen und Bildschirmwänden versprochen wurden.
Irisierende Hologramme malten grelle Farben auf die Gesichter der Passanten, die wie hypnotisiert von einem Laden zum nächsten taumelten. Lichtscheue Gestalten krochen aus ihren Wohnhöhlen und strömten in Massen auf die Straßen und Gassen, wo sie sich mit nächtlichen Geschäften zu bereichern versuchten, nur um ihre Einnahmen noch in derselben Nacht in den unterschiedlichen Etablissements wieder zu verlieren. Tagelöhner wiederum nutzten die Stunde, um vor dem tristen Alltag zu fliehen oder den eigenen Trieben zu folgen, während sich andere vor Angst hinter geschlossenen Rollläden verbarrikadierten. Die Atmosphäre in den Straßen und Gassen war gesättigt von den Sehnsüchten und Begierden der Einwohner. Nyx konnte das Knistern regelrecht fühlen, sie konnte es sogar riechen und es auch in jedem Winkel der Wastelands sehen. Es war, als wäre die gesamte Lower City zu etwas Lebendigem geworden, das erst bei Sonnenaufgang wieder in eine Starre aus grauem Unbehagen verfiel.
Der Herzschlag der Stadt pulsierte lautstark durch jede Gasse der Wastelands. Er war überall zu hören. In den ungefilterten Geräuschen von Werbebildschirmen, die sich bei Annäherung aktivierten, im wütenden Hupkonzert des verstopften Verkehrs und im steten Raunen tausender Stimmen. Für Nyx war das alles nicht mehr als ein gewohntes Hintergrundgeräusch.
Sie verstaute ihre Hände in den gefütterten Taschen der Lederjacke und marschierte durch die Gasse hinter ihrer Wohnung. Nyx passierte die stets überfüllten, übelriechenden Müllcontainer. Sie trat einen kleinen schwarzen Müllbeutel zur Seite und scheuchte dadurch eine Gruppe Ratten auf, die quiekend davon eilte. Ihre schweren Stiefel klatschten auf die Pfützen, die sich vom gestrigen Regen auf dem brüchigen Bodenbelag gebildet hatten. Über ihrem Kopf hing ein Gewirr aus Leitungen und Kabeln, das Gebäude und Wohnungen miteinander verband. Vieles davon war von den Bewohnern selbst zusammengebastelt worden. Verbindungen wurden angezapft und wieder durchtrennt, Drähte ragten unter Isolierungen hervor und manche waren bereits gerissen. Nicht selten fielen Strom oder der Kontakt mit dem Frame aus. Aus den Kanaldeckeln krochen weißer Dampf und der Geruch von Unrat.
In einer kleinen Nische mit Müllcontainern kramten zwei hagere Gestalten nach Essbarem. Sie wirkten wie scheue Nachtwesen aus Fantasygeschichten und nahmen keine Notiz von Nyx. Diese Menschen waren Teil des Kreislaufs wie jeder andere auch. Sie verwerteten den Müll wie Insekten, um noch einen Tag länger zu überleben und nahmen so den überforderten Müllmännern Arbeit ab.
Nyx bog in eine belebte Marktstraße ein, die mit Reihen von Geschäften gesäumt war. Das Raunen der unzähligen Passanten erfüllte die Luft. Immer wieder aktivierten sich Hologramme mit ihren verlockenden Angeboten, wenn Nyx näher kam. Sie ignorierte die Bilder und Töne der meist kopulierenden Körper, die Lust auf ein bestimmtes Etablissement wecken sollten. Zielstrebig kämpfte sie sich durch den dichten Menschenreigen und hörte plötzlich eine Stimme neben sich.
»Ein paar Credits für einen verzweifelten Mann.«
Eine traurige Gestalt mit schmerzverzerrtem Gesicht streckte ihr die zittrigen, kybernetischen Arme entgegen. Nyx kannte diesen Blick von Techs, die sich keine Gentherapie leisten konnten und jetzt abhängig von Neurocal waren, das eine Abstoßung ihrer Implantate verhindern sollte. Die Schmerzen mussten unerträglich sein.
Nyx ignorierte das verzweifelte Flehen und bahnte sich weiter ihren Weg durch die laute Menschenmenge. Die Leute bewegten sich durch das Neonlicht der umgebenden Läden wie Motten um eine Lichtquelle. Für einen Moment hörte sie die Anfeuerungsrufe aus einem Kampfclub, wo sich Techs gegenseitig die Schädel einschlugen.
Ein junger Mann stellte sich ihr unerwartet in den Weg.
»Hey, willst’n bisschen Glas?«, fragte er und wurde von einem nervösen Zucken erfasst. Er leckte sich die wunden Lippen und starrte Nyx aus ausgebrannten Augen an.
Sie winkte ab und ging weiter, folgte dem wogenden Strom der Leiber. Das dumpfe Donnern eines nahen Clubs lud zu lauten Eskapaden ein, während aus einem anderen Gebäude Lustgeräusche auf die Straße wehten. Nyx sah drei Techs den Weg entlang schlendern. Die Arme ihrer Jacken waren abgeschnitten und so konnte man die martialischen Implantate sehen, die aus ihren Schultern zu wachsen schienen. Im Gegensatz zu den wohlgeformten Modellen der Reichen waren sie mehr brutale Werkzeuge denn feingliedrige Gliedmaßen. Ihre Schritte klangen schwer, wie Geräusche arbeitender Maschinen. Die Leute wichen ihnen aus und starrten sie mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Angst an. Nyx nickte den drei Gestalten zu, als sie an ihr vorbeikamen. Sie erwiderten den Gruß schweigend und stapften mit mechanischen Schritten weiter.
In einer Seitenstraße sah Nyx, wie zwei Polizisten auf einen jungen Mann einschlugen und ihn dann seiner Habseligkeiten beraubten. Sie lachten ihn aus und spuckte auf ihn, ehe sie ihrer Wege gingen. Polizei war ein seltener Anblick in Lower Chicago und wenn sie einmal auftauchte, bedeutete das meist Ärger. Hilfe erwartete sich hier längst niemand mehr von ihr. Polizisten tauchten immer nur dann auf, wenn es einen von der Oberstadt erwischt hatte oder wenn sie ihren eigenen krummen Geschäften nachgingen.
Nyx hielt schließlich vor einer Menschenschlange, die sich vor einem Automaten gebildet hatte. Ungeduldig wartete sie, dass sie an die Reihe kam. Als es endlich soweit war, aktivierte sie das hochgradig illegale Gerät, das in ihren Unterarm implantiert war und wählte eine der vielen falschen Identitäten aus, die sie sich geschaffen hatte. Dann streckte sie den Arm unter den Scanner des Automaten. Sie musste ihr Gesicht nicht einmal vor der Kamera verbergen, da die mit einer dicken Schicht Farbe verklebt war. In den nächsten Tagen würde jemand kommen um sie zu reinigen, nur damit ihr eine Stunde später wieder der Blick verdunkelt werden würde. Einer der vielen ewigen Kreisläufe in den Wastelands.
»Guten Tag, Mister McCoy.«, begrüßte sie die computergenerierte Stimme des Geldautomaten. »Was kann ich für Sie tun?«
Das holografische Eingabefeld aktivierte sich und Nyx bekam Zugriff auf das Konto, welches sie mit dem Geld von Bériault gefüttert hatte. Mit einem Grinsen lud sie fünfzigtausend Credits auf einen Creditchip und leerte das Konto komplett.
»Vielen Dank, dass Sie Unibank genutzt haben.«, sagte der Automat und schaltete wieder in den Standbymodus.
»Nein, ich danke dir.«, grinste Nyx, verstaute den Creditchip in ihrer Jackentasche und ging weiter.
Auch wenn die Nacht in Lower Chicago gefährlich sein konnte, fühlte sie sich hier unter all den Nachtschwärmern sicher. Es war ihr Zuhause, sie kannte jede schmutzige Straße, jede dunkle Gasse und jeden Laden in der Nähe. Sie wusste, wie man sich durchschlug ohne zwischen Banden und Kleinganoven zerdrückt zu werden.
Irgendwo in der Menge schrie eine Frau, der man die Tasche gestohlen hatte, doch niemand unternahm etwas. In einer Seitengasse lag ein verletzter Mann ohne dass jemand Notiz von ihm nahm. Nichts von alledem überraschte sie noch: eine ganz normale Nacht in den Wastelands.
Nyx blickte nach oben, als sie die Scheinwerfer eines Polizeigleiters erkannte, der über ihren Köpfen durch die engen Straßen glitt. Vielleicht suchten sie nach einem verloren gegangenen Bewohner der Oberstadt, der sich im schillernden Labyrinth der Wastelands verirrt hatte. Die Maschine verschwand bald aus ihrem Sichtbereich, doch ihr Blick blieb nach oben gerichtet.
Es war kaum möglich den Himmel zwischen den Millionen Tonnen aus Beton und Stahl zu erkennen, die über ihr aufragten. Die Gebäude standen wie in einem künstlichen Wald dicht beieinander. Überall wucherten Zubauten wie Geschwüre aus den Fassaden, während die Megabauten kilometerhoch in den Himmel ragten. Sie waren wie Felsmassive, die alles mit ihren Schatten verdunkelten. Nyx konnte die Lichter der Oberstadt sehen, die sich über dem Müll der Wastelands erhob. Unzählige kleine Lichtpunkte rasten zwischen den Stahlbetonsäulen umher, Gleiter, welche die reichen Bewohner von Chicago durch die Nacht transportierten.
Hunderte Meter über den verdreckten Straßen begannen die Hoffnungen der Menschen. Es war wie eine unsichtbare Grenze, hinter der es keine Armut mehr gab, denn diese wurde unbarmherzig in die Lower City verbannt. Die Oberstadt war ein Ort, an dem nur die Engel lebten. Man sah sie in der Werbung, im Frame und auf den Gehsteigen als Hologramme, mit denen Konzerne eine bessere Zukunft versprachen. Fiel jedoch einer dieser Engel, landete er hier auf den schäbigen Straßen der Wastelands, mit verbrannten Flügeln, unfähig jemals wieder zu fliegen.
Obwohl die Lichter der Upper City zum Greifen nahe schienen, konnten sie doch nicht ferner sein. Selbst die Megabauten waren zweigeteilt in den unteren, armen Teil und den oberen, gehobenen Bereich. Wollte man hinauf, gab es nur eine Möglichkeit: einen Gleiter – und diesen konnte sich kaum jemand leisten. In den Straßen von Lower Chicago musste man mit Fahrzeugen vorliebnehmen, die sich zentimeterweise durch den Verkehr am Boden drängten.
Für die meisten war die Oberstadt das einzige Lebensziel. Es zu erreichen war gleichbedeutend mit Erfolg und Reichtum. Von Gerüchten und Versprechen angezogen pilgerten Millionen Menschen weltweit in die Megacitys, in der Hoffnung, all das zu finden, während Ortschaften und kleine Städte ohne Zukunft zurückblieben. Doch ein Großteil der Träume wurde regelmäßig unter den Stiefeln der Lower City zertrampelt.
Nyx empfand Hass, als sie die Lichter der lebendigen Oberstadt betrachtete. Die Reichen und Schönen nutzten die Lower City und ihre Einwohner als Abfalleimer. Sie bereicherten sich an der Not der Menschen, um ihren Status quo erhalten zu können. Für diese Leute waren sie allesamt nichts anderes als Poors, die man besser mied wie Ratten in der Kanalisation. Das Leben in den Wastelands war für diese Sorte Mensch nicht mehr als ein virtuelles Erlebnis, gepresst in den Datenstrom eines VEX.
Nyx riss sich von dem Anblick los und marschierte weiter, bis sie vor einem Gebäude Halt machte. In grellem Grün leuchtete der Schriftzug »Cyvag«.

City One – Atlantik

Devon saß in einem Raum mit zahllosen leeren Stühlen und war alleine mit seinen Gedanken. Er hatte beinahe sein gesamtes Leben und nahezu jede Entscheidung, die er jemals getroffen hatte, noch einmal durchlebt. Sein Körper und sein Geist brannten wie chemisches Feuer. Stundenlang hatte man ihn befragt und ihn danach psychologischen Tests unterzogen, die sein Gefühlsleben in einen einzigen Mahlstrom aus Gedanken und Gefühlen verwandelt hatten. Es fühlte sich an, als wäre ein ganzer Stoßtrupp in seinen Verstand vorgedrungen und hätte dort alles durcheinandergebracht. Dagegen war die körperliche Erschöpfung der physischen Tests ein angenehm vertrautes Gefühl.
Doch anstatt ihm endlich Antworten zu liefern hatte man ihn kommentarlos in diesen Raum verbannt, begleitet von der Ungewissheit, die allmählich an seinen Nerven nagte. Devon war kein bisschen schlauer geworden. Zuerst hatte er geglaubt, die Befragungen hätten etwas mit dem Einsatz in Johannesburg zu tun, doch wieso testete man seine Fitness und seine Fähigkeiten im Kampf. Er hatte in Zweikämpfen sein Können im Nahkampf unter Beweis gestellt sowie den Umgang mit den unterschiedlichsten Waffen. In Gefechtssimulationen hatte er Kampfgleiter und Bodenfahrzeuge steuern müssen. Jede noch so unwichtige Entscheidung in jeder einzelnen Mission beim Ratsheer war neuerlich hinterfragt worden. Selbst sein Gedächtnis war auf die Probe gestellt worden. Devon hatte das Gefühl, man hätte ihn wie eine Maschine komplett auseinandergenommen um zu sehen, was sich dahinter verbarg und ihn anschließend wieder zusammengesetzt. Nur von den Sünden seiner Vergangenheit bei Blackhammer schienen sie nichts zu wissen.
Waren sie womöglich auf der Suche nach etwas, das an seiner Zurechnungsfähigkeit zweifeln ließ? Wollte man den Einsatz in Johannesburg zerlegen und ihn zu einer Art Sündenbock machen?
Devon versuchte seine Gedanken und Gefühle zu sortieren, als sich eine Tür öffnete und General Cardoso eintrat. Für ein paar Sekunden trafen sich ihre Blicke.
»Major, haben Sie Lust auf einen Spaziergang?«, fragte Cardoso.
»Habe ich denn eine Wahl?«, entgegnete Devon müde.
»Ich kann es auch befehlen, wenn Ihnen das lieber ist.«
Devon stand wortlos auf und folgte dem General ins Freie. Es war inzwischen Nacht geworden und nur der Mond war gelegentlich zwischen den Wolken hindurch zu sehen. Das ferne Rauschen der gewaltigen Wassermassen vermischte sich mit den Geräuschen Tausender Gleiter, Fahrzeuge und Schiffe. Wortlos folgte Devon dem General bis zu einem schlichten Geländer. Unter ihnen trotzte der massive Unterbau von City One den Kräften des Meeres. Immer wieder brachen sich die Wellen an den Mauern, als versuchten Titanenarme nach der Stadt zu greifen.
»Wie fühlen Sie sich, Major?«, fragte Cardoso nach einer Weile des Schweigens.
»Erschöpft.«
Cardoso stützte sich mit den Unterarmen auf dem Geländer ab und sah Devon von der Seite an.
»Ich möchte für die vergangenen Stunden um Entschuldigung bitten, aber diese Vorgehensweise war notwendig.«
»Notwendig wofür, General?«, fragte Devon nachdrücklich. Er hatte diese Geheimniskrämerei satt. »Ich will endlich wissen, warum ich hier bin!«
Cardoso schien zu spüren, dass man jetzt keine Späße mehr mit dem Major treiben durfte, auch wenn er vom weit niedrigerem Rang war. Er nickte.
»Sie haben gerade die ersten Tests zur Aufnahme in das Ghostprogramm abgeschlossen.«
Die Atmung von Devon setzte für einen Moment aus, während sich die Erkenntnis zentimeterweise durch sein aufgewühltes Bewusstsein schob. All die Tests, das penible Ausweiden seines Lebens – plötzlich ergab alles einen Sinn. Cardoso beobachtete die Reaktion seines Untergeben mit Interesse.
»Haben Sie es schon geahnt?«
»Nein.«, gestand Devon. »Ich dachte, es hätte etwas mit dem Einsatz in Johannesburg zu tun.«
»Hat es bis zu einem gewissen Grad auch.«
Devon erwiderte den Blick stirnrunzelnd.
»Ich verstehe nicht ganz.«
Wie alle Soldaten des Ratsheeres kannte er die Ghosts und ihren Sonderstatus, aber welchen Zusammenhang es zwischen diesem Programm und dem Einsatz geben sollte, blieb ihm verborgen.
»Sie wissen, dass für das Ghostprogramm nur die Allerbesten ausgewählt werden. Man muss physisch und psychisch zu Höchstleistungen fähig sein und auch bestimmte Charakterzüge mitbringen, um überhaupt in Erwägung gezogen zu werden.«, erklärte Cardoso und ließ seinen Blick über das schier unendliche Meer gleiten. »Wir haben jährlich mehrere Tausend Bewerbungen für das Ghostprogramm.«
»Aber soweit mir bekannt ist, gibt es weltweit nur etwa hundert Ghosts.«, sagte Devon.
»So ist es.«, bestätigte der General. »Dementsprechend hart ist das Auswahlverfahren. Bereits minimale Abweichungen von den strengen Vorgaben führen zur Ablehnung. Jeder Bewerber wird bis in das kleinste Detail durchleuchtet, denn alles könnte im äußersten Notfall relevant sein und Fehler kann sich ein Ghost nicht leisten.«
»Das ist mir alles bekannt, General. Wollen Sie damit sagen, ich hätte das Potential ein Ghost zu werden?«
Cardoso schwieg für eine Weile. »Ich will ehrlich zu Ihnen sein.«, sagte er anschließend. »Nach allem, was ich von Ihnen weiß und dem, was Sie in Johannesburg geleistet haben, zweifle ich keine Sekunde daran, dass Sie der perfekte Ghost wären. Sie sind stark, ausdauernd, mutig und klug. Außerdem scheinen Sie noch ein Gewissen zu besitzen.«
»Aber …«, sagte Devon.
»… aber deswegen sind Sie nicht hier.«, gestand Cardoso. »Sie haben sich ja nicht einmal für das Ghostprogramm beworben.«
»Warum dann die Tests und diese Geheimnistuerei?«, wollte Devon wissen. »Sie hätten es mir doch einfach sagen können.«
Ein unbehaglicher Ausdruck huschte über das Gesicht von Cardoso.
»Es war der Entschluss des Rates, Sie zu testen. Sie wollten nicht riskieren, dass Sie die Tests mangels Interesses frühzeitig abbrechen.«
Devon schwieg. Das beantwortete die Frage noch immer nicht, wieso man auf diese Weise vorging, während es doch Tausende andere Bewerber gab, die noch dazu Interesse an dem Programm zeigten.
»Falls ich die Tests bestanden habe und mich dagegen entscheide, was dann?«
Cardoso sah Devon traurig an und seufzte schwer.
»Es ist Ihre Entscheidung, niemand kann oder wird Sie zwingen. Und glauben Sie mir eines, ich verliere nur ungern einen guten Major wie Sie.«
Also hatte Devon eine Wahl, das beruhigte ihn. Dennoch blieben noch jede Menge Fragen offen.
»Ich würde Ihnen gerne etwas erzählen, Major.«, sagte Cardoso erschöpft. Wie er so über das Gelände gebeugt dastand, wirkte es beinahe so, als würde es ihn unendlich viel Kraft kosten, aufrecht zu stehen. »Bitte hören Sie mir einfach nur zu.«
»Natürlich, General.«, sagte Devon und lehnte sich jetzt ebenfalls auf das Geländer, sodass sie beide auf Augenhöhe waren.
»Der Weltrat steckt in der Krise. Sie haben gesehen, was in Johannesburg passiert ist und das war wohl erst der Anfang.«, begann Cardoso und machte eine umfassende Geste mit einer Hand. »Sehen Sie sich doch um. Große Gebiete versinken durch die Erderwärmung im Meer. Gleichzeitig dreht das Wetter durch. Wo es in Afrika vollkommen an Wasser fehlt überschwemmt der Regen in anderen Teilen der Welt ganze Landstriche.«
Devon wusste das alles nur zu gut. Er war oft genug im Einsatz gewesen, um Menschen aus Problemgebieten zu evakuieren.
»Wir wissen nicht mehr wohin mit all den Flüchtlingen. Die Welt ist ohnehin überbevölkert. Die Megacitys platzen vor Einwohnern, während sich die Armut wie eine Seuche ausbreitet. Trotz des FFA-Systems sterben Millionen an Hunger oder Wassermangel. Durand kommt mit der Produktion synthetischer Nahrung und dem Aufbereiten des Wassers nicht hinterher. Das alles schürt Verbrechen und Chaos, was wiederum zu Hass führt. Die Polizei ist schon lange nicht mehr Herr der Lage und hat die Lower Citys in den meisten Fällen aufgegeben.«
Cardoso blinzelte Devon aus übermüdeten Augen an.
»Die Mittel fehlen überall, um die Programme gegen all diese Entwicklungen aufrechtzuerhalten. Alleine die Produktion der synthetischen Nahrungsmittel verschlingt monatlich Milliarden Credits. Und während die einen Staaten mehr Kontrollen und Durchsetzungsvermögen vom Rat fordern, lehnen andere ihn gänzlich ab.«
Cardoso machte eine Pause und sah zum Mond auf, der gerade wieder durch zwei dicke Wolken hindurch blickte. Das bläuliche Licht gab dem dunklen Hautton des Generals einen grauen Anstrich.
»Wir sind nicht genug, um die Aufstände überall auf der Welt niederzuschlagen.«, sagte Cardoso und seine Stimme wurde noch spröder. »Und zu allem Überfluss tritt nun auch noch dieser Crow auf den Plan und zettelt eine offene Rebellion gegen uns an.«
Jetzt erst erkannte Devon, wie erschöpft der General wirklich war.
»Wenn das so weiter geht, wird es in einigen Jahren womöglich keinen Weltrat mehr geben, aber wieder weltweite Kriege und Chaos. Länder wie Indien, denen es an natürlichen Ressourcen mangelt, werden verzweifelt versuchen, sich diese von anderen zu nehmen.«
Devon hatte die Erde schon oft genug von ihrer finstersten Seite gesehen. Er war in vielen Teilen der Welt gewesen und hatte die Probleme aus erster Hand erlebt. Aus diesem Grund verstand Devon nicht, wieso ihm der General all das erzählte.
»Major, Sie wissen doch nur zu gut, wozu Menschen fähig sind, wenn sie verzweifeln.«, sagte Cardoso. »Die Armut überall auf der Welt ist wie eine riesige Blase, die kurz davor steht, zu platzen. Ich fürchte, Afrika ist nur der Anfang.«
Cardoso seufzte schwer.
»Wir verlieren allmählich die Kontrolle über den Kontinent und der Rat fürchtet, dass sich dieser gemeinsame Aufstand wie ein Lauffeuer auf der ganzen Welt ausbreiten wird. Auf so etwas sind wir nicht vorbereitet. Und Anzeichen gibt es vereinzelt schon. Bis jetzt hält es sich in Grenzen, nur für wie lange noch?«
»General, ich will Sie nicht unterbrechen, aber was hat das mit mir und dem Ghostprogramm zu tun?«
Cardoso schüttelte sich kurz und lächelte dann gequält.
»Verzeihen Sie mir, ich fürchte, ich habe mich da wohl etwas in meinen eigenen Sorgen verloren.«, entschuldigte er sich. »Im letzten Monat habe ich so viele Schreiben an die Familien von gefallenen Kameraden verfasst, dass ich aufgehört habe sie zu zählen.«
Devon nickte. Er hatte die Toten gesehen, viel zu viele von ihnen.
»Sie bekommen Ihre Antworten.«, sagte Cardoso. »Das Ghostprogramm hat genauso wie der Weltrat selbst ein inzwischen schwer beschädigtes Image. Vielerorts sieht man Ghosts als willkürliche Vollstrecker an, die tun und lassen, was sie wollen. Ein Haufen Psychopathen, denen man zu viele Rechte eingeräumt hat. Gleichzeitig hat das Ratsheer nach Afrika in den Augen der Masse enorm an Stärke verloren. Das wiederum fällt auf den Rat selbst zurück, der damit schwach erscheint. Und genau da kommen Sie ins Spiel.«
Devon runzelte die Stirn, aber es formte sich bereits eine Ahnung in seinem Kopf, eine Ahnung, die ihm zutiefst missfiel.
»Sie sind der Held von Johannesburg, der trotz aller Widrigkeiten und mangelnder Erfolgschancen einen kritischen Einsatz mitten im Herzen des Feindes erfolgreich beendet hat. Sie haben Colley da raus geholt. Sie sind der Mann, der als Symbol gegen die Aufständischen dienen soll. Ein Mann, der gegen diese sinnlosen Aufstände kämpft und siegt und der im Angesicht der Gefahr niemals zögert.«
»Ich soll also den Helden spielen.«, stellte Devon trocken fest.
Cardoso klopfte ihm freundschaftlich auf den Rücken, als wolle er sich entschuldigen für das, was er gleich sagen würde.
»Der Rat wünscht, dass Sie ein Ghost werden.«, sagte er. »Man will Ihre Geschichte auf der ganzen Welt verbreiten. Der Mann, der keinen Vater hat, früh seine Mutter verliert und bereits in jungen Jahren um das Leben seiner Schwester kämpfen muss. Der Mann, der es von den Straßen Portsmouths zum Major und dann zum Ghost geschafft hat. Ein Mann, der selbst unter den härtesten Bedingungen nicht aufgibt, für das Richtige kämpft und sich mutig gegen das Chaos stellt.«
»Ich bin kein Held.«, sagte Devon und machte ein finsteres Gesicht. Er sah sich bereits auf Gleitern sitzen und der jubelnden Menge zuwinken.
»Es tut mir leid, Major, es war nicht meine Entscheidung.«, erklärte Cardoso. »Der Rat wünscht es so. Sie sollen das Beste darstellen, was das Ratsheer zu bieten hat und so unser angeschlagenes Image aufpolieren. Außerdem sollen Sie für neues Interesse am Ratsheer sorgen.«
»Ich bin ein Köder.«, warf Devon ein.
»Major, ich kann mir vorstellen, dass Ihnen die Situation missfällt.«, sagte Cardoso beschwichtigend. »Aber wir brauchen dringend neue Rekruten. Wir verlieren täglich gute Soldaten und es fehlt einfach an Nachschub. Viele junge Leute wenden sich lieber den privaten Sicherheitsdiensten zu, die besser bezahlen. Das Debakel in Afrika trägt nicht gerade dazu bei, uns stark aussehen zu lassen.«
Cardoso zeigte mit der offenen Hand auf Devon.
»Aber Ihre Geschichte kann die Menschen inspirieren. Sie können ein Vorbild sein und dem ganzen Heer helfen, mehr als Sie es in jedem Einsatz könnten.«
Devon spürte den erwartungsvollen Blick von Cardoso auf sich ruhen. Der Gedanke, zu einer Marionette der Propagandamaschinerie zu werden, behagte ihm absolut nicht, auch wenn er die Idee dahinter verstehen konnte. Er war kein Mann, der gerne im Mittelpunkt stand. Er diente, indem er kämpfte und Soldaten befehligte. Und dann war da noch die Frage, wieso man gerade ihm diese Rolle überlassen wollte? Es gab doch bestimmt weitaus interessantere und fähigere Leute im Heer. Sollten sie einen anderen nehmen, jemanden der bereits Ghost war und sich diese Position verdient hatte.
»Das ist noch nicht alles.«, fuhr Cardoso fort, als er das offensichtliche Zögern von Devon erkannte. »Der Rat will mit Ihrer Geschichte auch ablenken, während man ein neues Programm ausarbeitet, um die gröbsten Brände auf der Welt zu löschen. Gleichzeitig sollen Sie als Gegenpol zu diesem Crow dienen, der immer mehr an Zustimmung in der Bevölkerung gewinnt.«
Diese Verantwortung wollte Devon nicht.
»Kurz gesagt: Ich soll all die bestehenden Probleme alleine lösen und zu einer Marionette des Rats werden.«, sagte Devon und war überrascht über die Schärfe in seiner Stimme. »Ein Anti-Crow sozusagen, der schillernde Held, der gegen den finsteren Terroristen kämpft.«
Cardoso musterte Devon eingehend, ehe er antwortete.
»Sie sehen das falsch, Major.«, sagte er ruhig. »Das wäre doch nur ein kleiner Teil Ihrer Aufgabe. Sie wären ein Ghost wie jeder andere auch. Wenn sich die Aufstände gelegt haben und die Situation wieder unter Kontrolle ist, werden Sie immer noch ein Ghost sein, mit allen dazugehörenden Privilegien.«
Devon gefiel der Gedanke noch immer nicht, aber er schwieg. Er beobachtete ein Schiff, das die Stadt langsam umkreiste, die Scheinwerfer auf die Außenmauern gerichtet.
»Ich verstehe nur zu gut, wie Sie sich fühlen.«, sagte Cardoso ruhig. »Sie sind ein Soldat und wollen mit Politik oder Propaganda nichts zu tun haben. Bedenken Sie aber eines: Sie würden nicht nur dem Rat einen großen Dienst erweisen, sondern der ganzen Welt.«
Die Stimme des Generals wurde eindringlicher.
»Sie wissen ja, wie die Menschen heutzutage sind: eine Aufmerksamkeitsspanne von wenigen Sekunden und nur auf Äußerlichkeiten bedacht. Die Leute lieben Heldenfiguren und wollen ihnen nacheifern können. Sie würden dem Heer neue Stärke verleihen, zeigen, dass wir uns nicht von einer Hand voll Aufständischer unterkriegen lassen. Sie wären das Gesicht des Heers und der Ghosts.«
Er senkte die Stimme wieder etwas.
»Und wie ich bereits erwähnt habe, bin ich fest davon überzeugt, dass Sie ohnehin der perfekte Kandidat für das Ghostprogramm sind.«
»Was ist mit Lieutenant Sethi?«, fragte Devon. »Sie war auch bei dem Einsatz dabei. Ohne sie hätte ich es nicht geschafft.«
Cardoso seufzte, als er den Namen hörte. Sein kräftiges Gesicht zeigte eine mürrische Ablehnung, die er zu verbergen versuchte.
»Ach ja, der Lieutenant.«, sagte er. »Wussten Sie, dass sie sich schon unzählige Male für das Ghostprogramm beworben hat?«
»Und warum steht sie dann nicht hier an meiner Stelle?«
Cardoso sah Devon lange Zeit an, als sei die Antwort offensichtlich.
»Ich will es so formulieren.«, sagte Cardoso dann und wählte seine Worte mit Bedacht. »Da noch immer ein Großteil der Soldaten männlich ist, bevorzugt der Rat eine männliche Identifikationsfigur. Außerdem gefällt dem Rat die Hintergrundgeschichte von Lieutenant Sethi nicht so sehr wie Ihre.«
»Sie meinen den vierfachen Mord in meiner Jugend?«, fragte Devon gereizt. »Oder eines der anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die ich in meinem Leben bereits begangen habe?«
Der Geheimdienst wusste viel über ihn, aber eben nicht alles. Was vor Jahren in Afrika geschehen war, lag weiterhin im heißen Wüstensand begraben, zusammen mit einem Leichenberg. Die wenigen, die noch davon wussten, versuchten zu vergessen. Devon ahnte, dass der Rat ihn mit diesem Wissen niemals für den Job auswählen würde. Er spürte wieder das ätzende Gefühl des Zorns in sich aufsteigen und ließ es den General auch spüren. Doch der war geduldig.
»Es tut mir leid, dass Sie alle diese Erinnerungen wieder ausgraben mussten, aber das gehört zu den Tests. Ich kann Ihnen auch nicht alle Beweggründe für die Wahl des Rats nennen. Sollten Sie sich jedoch dagegen entscheiden, wird man vermutlich auf die Dienste von Lieutenant Sethi zurückgreifen.«
»Klingt nicht fair.«, sagte Devon.
»Ich mag Sie, Major.«, sagte Cardoso und er schien es ernst zu meinen. »Sie sagen, was Sie denken. Ehrlich gesagt wäre ich enttäuscht gewesen, würden Sie nicht mit der Entscheidung hadern. Trotzdem bitte ich Sie darum, sich das Angebot durch den Kopf gehen zu lassen, es ist eine gute Sache. Leider kann ich Ihnen aufgrund der Umstände nur wenig Zeit zum Nachdenken geben. Sie haben Zeit bis morgen früh, dann werde ich Sie wieder kontaktieren.«
Devon wusste jetzt schon, dass in dieser Nacht nicht an Schlaf zu denken sein würde.
»Habe ich die Tests denn überhaupt bestanden?«
»Die Ergebnisse werden noch ausgewertet, aber ich mache mir da keine Sorgen.«
»Und was ist mit den Taten aus meiner Vergangenheit und der Zeit bei Blackhammer?«
Cardoso sah Devon mit ernster Miene an.
»Wir sind Soldaten.«, sagte er mit harter Stimme. »Jeder von uns ist ein Mörder.«
Eine Weile breitete sich Schweigen zwischen ihnen aus, wobei Cardoso Devon mit dem stechenden Blick eines alten Scharfschützen beobachtete. Devon respektierte den General. Er war keiner dieser Männer, die die Militärakademie im Schnellvorlauf durchlaufen und sich dann alleine über politische Ränkespiele an die Spitze gearbeitet hatten. Cardoso wusste, was es bedeutete zu kämpfen, zu bluten und zu töten. Für ihn war es kein Vergnügen, kein Spiel, bei dem man Truppen auf einer interaktiven Gefechtskarte hin und her schob, sondern eine dreckige Arbeit, die manchmal getan werden musste. Nur seinetwegen hörte Devon überhaupt noch zu.
»Überlegen Sie es sich bitte, Major.«, bat Cardoso, löste sich vom Geländer und legte Devon freundschaftlich eine Hand auf die Schulter. »Uns allen zuliebe.«
Nachdem er das gesagt hatte, wurde seine Haltung wieder militärisch, sein Gesichtsausdruck undurchsichtig.
»Auf dem Flugfeld wartet ein Gleiter auf Sie, Major.«, sagte er. »Ich kontaktiere Sie morgen früh um null achthundert.«
Devon hörte die Schritte des Generals hinter sich leiser werden und blieb mit seiner Entscheidung alleine zurück.

Kapitel 7 - 9 (Gesamter Text)

7 – Meister der Sinne

Das Cyvag – Lower Chicago

Die verdunkelten Scheiben des Cyvag waren zu Bildschirmen umfunktioniert worden, auf denen nonstop Sexszenen in Maschinenästhetik mit der passenden Geräuschkulisse gezeigt wurden.
Hooks, der getechte Türsteher, stand wie üblich starr vor dem Eingang des Techbordells. Seine Augen waren zwei mattgraue, flache Implantate ohne Pupillen, die wie winzige Satellitenempfänger aussahen. Sie verliehen ihm einen seelenlosen Gesichtsausdruck. Unter den ausgeprägten Wangenknochen schien ein metallisches Skelett zu stecken.
Nyx beobachtete eine Weile, wie Männer und Frauen ein- und ausgingen. Kein einziges Mal bewegte sich Hooks, doch sie wusste, dass er mit seinen Cyberaugen ständig alles im Blick behielt. Unter dem maßgeschneiderten Anzug arbeitete alte, illegale Militärhardware, die ihn zu einer gefährlichen Waffe machte. Nyx hatte allerhand Geschichten über ihn gehört, etwa dass er früher einmal für einen der großen Sicherheitskonzerne als Söldner gearbeitet hatte. Angeblich hatte er durchgedreht und ein Massaker angerichtet. Er war rausgeworfen worden und schließlich in den Wastelands gestrandet.
Nyx bemerkte, dass sich ihr Herzschlag wie jedes Mal beschleunigte, wenn sie an diesen verfluchten Ort kam. Ihre Finger suchten nach dem Creditchip in ihrer Jackentasche und umklammerten ihn. Als sie sich der physischen Präsenz des Chips allmählich bewusst wurde, nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und näherte sich dem Cyvag.
»Schau an, die kleine Nyx.«, lachte der Türsteher, kaum, dass sie zwei Schritte auf das Gebäude zugemacht hatte. »Bist wieder hier, um deine hart verdiente Kohle an diese Huren zu verschwenden?«
Wie üblich konnte Nyx nicht erkennen, ob er sie ansah oder nicht. Sie starrte in die grauen Teller, an deren Stelle einst Augen gewesen waren und erwiderte das Lächeln spöttisch.
»Nein, ich hatte einfach nur Lust deine hässliche Visage zu sehen.«
»Hast Glück, dass ich Anweisung hab, dir nichts zu tun.«, brummte der Türsteher mit einer verstärkten Stimme, die seine Autorität unterstreichen sollte. Nyx hätte sie vermutlich als lächerlich abgetan, wenn sie nicht gewusst hätte, zu welchen Gräueltaten Hooks imstande war. »Sonst würde ich dir die Haut abziehen und dich dabei zusehen lassen.«
»Wow, ein bisschen extrem, wie?«, sagte Nyx. »Dann bin ich ja froh, dass du hier nichts zu melden hast.«
Nyx beeilte sich, das Cyvag zu betreten, denn der Gesichtsausdruck des Türstehers deutete an, dass er seine Drohung jede Sekunde wahrmachen konnte. Nach dem Waffenscan trat sie in den riesigen Hauptsaal des Etablissements. Ein warmer, metallischer Geruch von Erregung hing in der Luft, computergenerierte Klänge ließen sie unterschwellig vibrieren. Das psychedelische Licht wechselte im Takt der Musik die Farbe. Wie immer war das Cyvag bis in den letzten Winkel voll. Getechte Kellnerinnen servierten nur in Slips gekleidet an den Tischen, deren Gäste ihre Leiber mit schmachtenden Blicken verzehrten.
Keine der Frauen hatte noch zur Gänze ihren ursprünglichen Körper. Nackte Haut und mechanische Teile vereinten sich bei allen zu einer abscheulichen Mischung aus Mensch und Maschine. Viele der Frauen hatten lange, kybernetische Beine, mit denen sie elegant durch den Raum schlenderten, oder auf den Tischen unmögliche Verrenkungen vollführten. Andere wiederum besaßen Cyberarme, deren Zusatzfunktionen Nyx nur erahnen konnte.
Nyx wich einer Kellnerin aus, deren gesamter Kopf getecht war. Die künstlichen Züge in ihrem Gesicht erinnerten an eine Puppe, die schwarzen, spiegelnden Augen blitzen leblos im hypnotischen Licht. Nyx spürte, wie der kalte Schauer einer Erinnerung ihr jedes Körperhaar aufstellte. Sie hatte Mühe den Anblick dieser Verstümmlungen zu ertragen. Während manche der Frauen noch stilvolle, menschenähnliche Implantate trugen, glichen andere fehlgeschlagenen Experimenten der Robotik: traurige Gestalten, die ihrer fleischlichen Weiblichkeit beraubt worden waren um zu Cyborgs zu werden.
Auf den Bildschirmwänden liefen überall Sequenzen von Sexszenen in Maschinenästhetik. Nyx wandte den Blick angewidert ab, konnte aber nicht verhindern, dass ihr Hass stieg. Nyx durchschritt das Cyvag mit gesenktem Kopf und erblickte Marlon, den Besitzer des Bordells, der die Treppe herunterkam und sein übliches schmieriges Grinsen aufgesetzt hatte. In seinem dunkelgrauen Maßanzug und mit seinem imposanten Auftreten wirkte er wie ein Vertreter für Implantate. Ein Bodyguard flankierte ihn mit stummer Wachsamkeit.
Als Marlon die junge Hackerin sah, fixierte er sie. Nyx hielt dem starren Blick seiner roten Augen stand und wartete geduldig, bis er knapp vor ihr Halt machte. Er breitete lächelnd seine Arme aus, als ob er eine gute Freundin begrüßen würde.
»Nyx, schön dich wieder einmal in meinem bescheidenen Etablissement willkommen heißen zu dürfen.«
Nyx sah die beiden kybernetischen Hände, die im Neonlicht glänzten. Die schwarze Außenverkleidung aus Wolframcarbid war von unzähligen goldenen Mustern durchzogen und wirkte extrem hochwertig. Obwohl sie so feingliedrig wie normale Hände waren, ahnte Nyx, dass er ihr damit innerhalb eines Wimpernschlags den Hals zerquetschen konnte.
Marlon deutete eine Verbeugung an. Niemals wich das schmierige Grinsen von seinen Lippen.
»Es ist mir wahrlich eine Ehre.«, beteuerte er. »Was führt dich an diesem verheißungsvollen Abend hierher?«
Nyx gab sich Mühe, ihre Abscheuzu verbergen, doch es gelang ihr nur bedingt. Er gab sich stets als Gentleman und Geschäftsmann, doch in Wirklichkeit war er nicht mehr als ein kleiner, perverser Ganove.
»Du weißt, warum ich hier bin.«, sagte Nyx.
»Ich nehme an, du gedenkst eine meiner wunderschönen Mädchen freizukaufen. Gehe ich recht in der Annahme?«
Seine eloquente Art verbarg den Charakter eines Mannes, der Frauen ausbeutete und für den es nur eine Sache auf der Welt gab: Geld. Nyx wollte ihn für seine geschwollene Art zu sprechen die Zähne einschlagen, doch sie wusste, dass sie bereits tot wäre, ehe sie zum Schlag angesetzt hätte. Ihre Hände verkrampften sich in ihren Taschen zu Fäusten.
»Ich wüsste nicht, wieso ich sonst herkommen sollte.«, entgegnete sie kalt.
Marlon lächelte wieder sein künstliches Lächeln. Sein Gesicht war so glatt und leblos wie ein Stück Plastik.
»Du könntest das beste Angebot in Lower Chicago genießen.«, sagte er und breitete die Hände weit aus. »Wir haben auch Mädchen, die Frauen bedienen. Iwona ist sogar eine Futa. Sie ist nicht nur mit einer künstlichen Muschi sondern auch mit einem Schwanz bestückt. Das würde dir bestimmt gefallen.«
Nyx schluckte bei dem Gedanken und versuchte den siedenden Hass in ihren Adern zu trocknen.
»Lassen wir die Spielchen und kommen wir zum Geschäft.«, sagte sie.
Nyx glaubte in den roten Implantataugen von Marlon ein neues Glühen zu erkennen.
»Gerne doch, meine Liebe. Gehen wir in mein Büro.«
Nyx folgte dem Bordellbesitzer. Der Bodyguard blieb ein paar Schritte hinter ihnen zurück und würde sofort eingreifen, sollte sie etwas Unbedachtes vorhaben.
Eine Minute später betraten sie das große Büro, das zwei Stockwerke weiter oben lag und einen Blick auf die Straße vor dem Lokal bot. Der Raum war hauptsächlich in schwarz und poliertem Chrom gehalten. Bis auf eine Reihe gläserner Vitrinen, in denen Implantate wie Ausstellungsstücke angebracht waren, gab es kaum Einrichtungsgegenstände. Die ausgewählte Kybernetik wurde von kleinen LED-Lampen beleuchtet und war gleichzeitig das Markenzeichen von Marlon. Das gesamte Büro hatte etwas Steriles an sich wie eine Techchirurgie. Die Bildschirmwände übertrugen das Signal aller Kameras des Bordells. Damit hatte der Boss stets den Überblick über seine Geschäfte.
Marlon nahm auf einem riesigen Lederstuhl inmitten des Raums Platz. Er bedeutete Nyx sich zu setzen und faltete dann die kybernetischen Hände auf dem massiven Tisch aus dunklem Echtholz, das in diesen Tagen eine teure Rarität darstellte. Nyx warf dem Bodyguard einen misstrauischen Seitenblick zu, ehe sie sich Marlon gegenüber auf einem Stuhl niederließ.
Nyx kam gleich zur Sache, nahm den Creditchip aus der Tasche und klatschte ihn auf die polierte, hölzerne Tischplatte.
»Fünfzigtausend, wie besprochen.«, sagte sie entschlossen. »Dafür lässt du Olesya gehen.«
Marlon nahm den Creditchip, auf dessen schmalem Display der Geldwert angezeigt wurde, und betrachtete ihn für eine Weile. Dann lehnte er sich zurück und strich sich mit den künstlichen Fingern über das Gesicht.
»Was das betrifft …«, begann er und Nyx spürte sofort, dass etwas nicht stimmte. »Ich fürchte, der Preis ist leider gestiegen.«
»Was?«, entfuhr es Nyx, die aufgesprungen war. »Fünfzigtausend waren ausgemacht, wie immer.«
Marlon verharrte ruhig in seinem Lederthron und beobachtete die Reaktion von Nyx sichtlich amüsiert.
»Tja, es hat sich viel verändert in letzter Zeit.«, erklärte er mit der Überheblichkeit eines Mannes, der wusste, wie er Menschen ausbeuten konnte. »Hast du denn noch nicht gehört, was auf der Welt geschieht? Es ist teurer geworden, die Mädchen herzuschaffen. Die Kontrollen wurden verschärft und die Lieferanten wollen mehr Geld. Dann wären da die steigenden Preise für Verpflegung und Unterkunft. Du weißt ja, wie das ist.«
»Was soll das, Marlon?«, fauchte Nyx immer noch im Stehen. »Verarschen kann ich mich selbst!«
Sie konnte nicht verhindern, dass der Hass, den sie für diesen Mann empfand, aus ihren Augen blitze. Doch Marlon gab sich gelassen, öffnete eine Schublade und entnahm ihr eine Zigarre. Mit der freien Hand schnitt er ein Ende ab, dann klappte der Finger derselben Hand auf und wurde zu einem Feuerzeug. Nyx biss die Zähne zusammen, als sie sich mit seiner maßlosen Arroganz konfrontiert sah.
»Tolles kleines Feature, nicht wahr?«, fragte Marlon und betrachtete, wie sich die Fingerkuppe wieder schloss. »Ich liebe diese Implantate. Machen das Leben so viel … interessanter.«
»Ist das auch der Grund, warum du den Mädchen gesunde Körperteile amputierst und sie gegen diese mechanischen Ungetüme ersetzt?«
Marlon hielt für einen Moment inne. Das überlegene Lächeln verschwand von seinen Lippen und die Augen funkelten Nyx bösartig an.
»Ich mache sie besser.«, sagte er so entschlossen, dass es Nyx kalt den Rücken hinunterlief. »Ich mache sie … interessanter.«
»Du misshandelst sie.«, konterte Nyx.
Einige Sekunden starrten sie sich gegenseitig an, ehe Marlon missmutig das Gesicht abwandte und auf den Rauch seiner Zigarre blickte.
»Siebzigtausend, dann kann Olesya gehen.«
»Siebzigtausend?« Nyx rang nach Atem. »Das ist doch nicht dein Ernst?«
Das Gesicht des Bordellbetreibers wirkte wie das einer Maschine.
»Sehe ich aus, als würde ich scherzen?«, fragte er und seine Stimme war so eiskalt wie seine Prothesen. »Siebzigtausend, wenn Olesya frei sein soll. Das gilt ab sofort auch für alle anderen Mädchen.«
Nyx presste die Lippen zusammen, um nicht etwas zu sagen, das später mit furchtbaren Schmerzen zu bezahlen sein würde. Ehe sie an eine passende Antwort denken konnte, klopfte es plötzlich hinter ihr.
»Was ist denn los, ich bin beschäftigt.«, knurrte Marlon genervt, als sich die Tür öffnete und ein halbnacktes Mädchen eintrat. Ihre Beine waren zwei elegante, kybernetische Apparaturen, die nahtlos in ihren Unterleib übergingen.
»Sie wollten doch, dass ich zu Ihnen komme.«, stammelte die junge Frau und war halb eingetreten. Nyx erkannte sie sofort.
»Aida.«, sagte sie. Sie musterte die langen, weißen Cyberbeine und war für einen Moment sprachlos. »Was tust du hier?«
Das spanische Mädchen machte einen verwirrten Eindruck, als würde sie sich gerade der Tragweite ihres Handelns bewusst werden.
»Verzeihung Boss, ich wusste nicht …«
»Scheiße Aida, verdammt mieses Timing.«, grunzte Marlon hinter Nyx.
»Was ist hier los?«, fragte Nyx und wandte sich wieder an den Bordellbetreiber. »Ich habe Aida vor einem Monat freigekauft.«
Zum ersten Mal befand sich kein Anflug eines Grinsens auf den Lippen von Marlon. Er ignorierte Nyx und gab seinem Bodyguard einen ungeduldigen Wink. Der entfernte Aida sofort und verließ danach selbst den Raum. Die Zigarre legte Marlon in dem verchromten Aschenbecher ab.
Nyx schlug mit beiden Händen auf den Tisch, um seine Aufmerksamkeit zurückzugewinnen.
»Was soll das alles?«, fauchte sie wütend und suchte seinen Blick. »Wir hatten eine Abmachung! Was hast du getan?«
»Halt die Klappe!«, brüllte er sie an. Die Schärfe in seiner Stimme kam unvermittelt und erschreckte sie.
Nyx wich zwei Schritte zurück, als er sich von seinem Stuhl erhob und sich vor ihr aufbaute. Etwas, das nur sehr selten an die Oberfläche kam, trat nun in die Gesichtszüge von Marlon und verzerrte sein Cyborggesicht zu einer dämonischen Fratze. Die Augen pulsierten in einem noch intensiveren Rot.
»Du naive kleine Fotze.«, schnaubte er verächtlich. »Was glaubst du, wie ich ihre Implantate bezahlt habe?«
Die Gedanken von Nyx überschlugen sich und sie schüttelte als Reaktion den Kopf. »Nein, das hast du nicht getan.«
»Und wie ich das getan habe, du verficktes kleines Miststück.«
Nyx konnte nicht glauben, was gerade geschah. Sie spürte, wie ihre Hände zu zittern begannen, während der dämonische Blick von Marlon sie zu versengen drohte.
»Sie wollte es doch selbst so.«, sagte er.
»Nein …«, stammelte Nyx. »Nein. Wieso sollte sie so etwas wollen? Ich habe sie doch …«
»Was? Befreit?« Marlon grinste wölfisch. »Ich hätte dich wirklich für klüger gehalten. Hast du ernsthaft geglaubt, dass du irgend jemandem mit deinen unreifen Aktionen hilfst?«
Nyx antwortete nicht und war starr im Angesicht der schmerzhaften Wahrheit.
»Es kostet mich einen Scheißdreck, diese kleinen Huren ins Land zu holen.«, fuhr er selbstgerecht fort. »Sie kommen allesamt freiwillig, in der Hoffnung den Zuständen in ihren Billigstaaten zu entkommen. Oder ich lese sie einfach von der Straße auf, wenn die Wastelands sie ausgespuckt haben und sie nicht schon zu sehr beschädigt sind.«
Eine ohnmächtige Wut ergriff von Nyx Besitz. Ein Teil von ihr wollte sich nicht ergeben, wollte die Wahrheit nicht akzeptieren und versuchte zu kämpfen.
»Und dann zwingst du sie, ihre Körper zu verkaufen, so lange, bis du sie nicht mehr brauchst.«
»Ja, weil es das Einzige ist, was sie besitzen.«, sagte Marlon. »Sie haben weder besondere Fähigkeiten, Erfahrung noch Talent noch sonst etwas. Keine von ihnen kam mit einer präzisen Vorstellung nach Chicago. Doch alle wollten sie reich werden. Die Wahrheit ist, dass sie nichts weiter als menschliches Vieh sind, das keinen Platz auf dieser überfüllten Welt hat. »
»Du bist ein Schwein.«, sagte Nyx, den Tränen nahe.
»Warum?«, fragte Marlon und seine roten Augen flammten auf. »Weil ich den Frauen ein Dach über dem Kopf biete, ihnen zu Essen gebe, ihnen Arbeit beschaffe?«
Er machte eine aufgeregte Geste und deutete zum Fenster hinaus, ohne den Blick von Nyx zu nehmen.
»Ohne mich würden sie in dieser Stadt keinen Monat überleben.«, sagte er und eine verbissene Entschlossenheit trat in seine plastifizierten Züge. »Die Wastelands würde sie verschlingen und wenn sie mit ihnen fertig wären, einfach wieder ausspucken. Hier aber sind sie sicher, ich passe auf sie auf. Ich behandle meine Mädchen gut, besser als die meisten anderen.«
»Und nimmst ihnen als Gegenleistung die gesunden Körper, um sie zu Monstren zu machen, abhängig von deiner Gunst, weil sie sich das Neurocal niemals selbst leisten könnten.«
Nyx wusste nicht, woher sie den Mut nahm, so mit Marlon zu sprechen, aber all der angestaute Hass entlud sich in diesem Moment.
»Weißt du eigentlich, was eine Hure heutzutage noch wert ist?«, fragte Marlon mit loderndem Blick. »Einen Scheißdreck. Wenn du in den Wastelands schnell einen wegstecken willst, kannst du das in einer Gasse um einen Credit bekommen. Da draußen laufen genug verbrauchte Fotzen herum, die ihre Beine breit machen, um nicht auf der Stelle zu verhungern. Du solltest das doch selbst am besten wissen.«
Sie wusste es so gut, dass alleine die Erinnerung daran ihr Schmerzen bereitete.
»Wer es sich leisten kann, nutzt ohnehin die Zones.«, sprach Marlon weiter. »Aber das Cyvag ist hier unten wirklich eine Besonderheit. Nirgendwo in der ganzen Stadt existiert ein Etablissement wie dieses, wo es so viele Techhuren gibt. Ausnahmslos alle meine Mädchen sind getecht, für jeden Geschmack ist etwas dabei. Von Cyberfotzen bis hin zu künstlichen Gesichtern habe ich alles. Und die Leute bezahlen für diesen speziellen Service eine Menge.«
Nyx konnte Marlon kaum in die Augen sehen. Seine Worte trafen sie wie Schläge und langsam knickte ihre Gegenwehr ein.
»Nur deswegen kann ich ihnen das hier alles bieten.«, sagte Marlon und deutete auf den Boden unter sich. »Diese Mädchen haben Glück, dass ich da bin und mich um sie kümmere, denn sonst hätten sie nichts – gar nichts!«
»Du hast mich verarscht.«, stammelte Nyx tonlos.
»Das ist eine Lüge.«, entgegnete Marlon. »Man mag mir vieles vorwerfen, aber ein schlechter Geschäftspartner bin ich nicht.«
»Und Aida?«, wollte Nyx wissen. »Was ist mit ihr?«
Der Bordellbesitzer grinste schief und sah Nyx weiter scharf an.
»Aida ist freiwillig zu mir zurück gekrochen, als sie eingesehen hat, dass es da draußen keinen Platz für sie gibt.«, sagte er und straffte sein Sakko. »Großzügig wie ich bin, habe ich sie zurückgenommen. Sie musste nur zustimmen, sich techen, sich verbessern zu lassen.«
»Das glaube ich nicht.« Mit Tränen in den Augen schüttelte sie den Kopf. Sie wollte es nicht glauben. Nein, so konnte es einfach nicht sein. Marlon musste lügen.
»Schau dich doch um, wir leben im Schatten der Reichen und Schönen.«, fuhr Marlon mit seinem Vortrag fort. »Wir bekommen das, was sie wegwerfen. Aber weißt du, was wirklich paradox daran ist? Die sind da oben so makellos, so rein, dass sie es kaum ertragen. Alles ist sauber, symmetrisch und perfekt. Digitaler Sex ohne Realitätsbezug, überall Ansprüche und Erwartungen. Wenn du wüsstest, wie viele von ihnen regelmäßig ins Cyvag kommen, um einmal einen ordentlichen, dreckigen Fick mit meinen Techschlampen zu bekommen. Je reicher desto stärker der Fetisch.«
»Warum bist du dann noch nicht da oben, du musst doch genug Geld haben.«
»Und all das hier aufgeben?«, fragte Marlon amüsiert. »Nein, hier unten sage ich, wie es läuft.«
»Du lügst, Marlon.«
»Nein Nyx, du bist einfach nur ein kleines, naives Kind.«, entgegnete er und schüttelte mitleidig den Kopf. »Du kannst von mir aus gerne weiter Mädchen freikaufen, ich nehme das Geld dankend an, aber glaube nicht, dass du ihnen damit hilfst. Denn nicht alle haben Glück wie deine Hurenmütter und werden von dir durchgefüttert.«
Der gesamte Körper von Nyx bebte. Sie wollte die mechanische Hand nehmen, die auf dem Tisch vor Marlon in einem Glasbehältnis lag und ihm damit das Polymergesicht einschlagen. Doch gleichzeitig wollte sie wegrennen, fliehen, vor seinen Worten und der schmerzenden Wahrheit, die sich dahinter verbarg.
Marlon machte unterdessen weiter.
»Bevor ich diese Mädchen verbessert habe, waren sie nichts Besonderes.«, sagte er. »Nur billiges Fleisch, wie es millionenfach herumläuft. Hübsche Frauen gibt es wie Sand am Meer, keine von ihnen braucht sich darauf etwas einzubilden. Doch jetzt sind sie besser und noch schöner. Sie sind einzigartige Meisterwerke.«
Nyx beobachtete angewidert, wie der Bordellbesitzer ein künstliches weibliches Bein betrachtete, das an einer der Wände sprungbereit angebracht worden war. Das Außenmaterial glänzte in poliertem Weiß. Auch wenn es einem menschlichen Bein sehr nahe kam, konnte Nyx nichts Ästhetisches daran erkennen.
»Du bist widerlich, Marlon, einfach nur widerlich.«
Die Augen von Marlon verengten sich, als er das hörte. Dann nahm er den Creditchip vom Tisch und steckte ihn demonstrativ in die Brusttasche seines Sakkos. Übergangslos verwandelte er sich wieder in den eloquenten Geschäftsmann, für den er sich immer so gerne ausgab.
»Wie es aussieht, sind wir hier wohl fertig.«, sagte er und klopfte gegen die Brusttasche. »Ich nehme das als Entschädigung für die Zeit, die du mir gestohlen hast.«
Marlon erhob sich von seinem ledernen Thron, drückte die Zigarre in dem verchromten Aschenbecher aus und rückte seinen Maßanzug zurecht.
»Und jetzt entschuldige mich, ich habe noch ein intimes Treffen mit Aida.«, sagte er grinsend und sog die Luft zischend ein. »Diese Beine sind zwei wahre Prachtexemplare. Die perfekte Vermengung aus elastischen Polymeren und Leichtmetall mit einer Prise Wolframcarbid. Athena vier Punkt drei, das neueste Modell der Singer-Corporation.«
»Irgendwann wirst du an deinen vielen Implantaten krepieren.«, zischte Nyx mit einem letzten Aufflackern ihres Hasses.
Marlon machte nur wenige Zentimeter vor ihr Halt. Er war dank seiner kybernetischen Beine um einiges größer als sie. Zwischen seinen künstlichen Zügen hindurch blitzte er sie feindselig an.
»Pass auf, was du sagst, kleine Nyx, es könnten unvorhergesehene Dinge geschehen.«
Er wandte sich ab und ging zur Tür, die er wie ein Gentleman öffnete.
»Und jetzt darfst du mein Etablissement verlassen.«
Wutentbrannt verließ Nyx das Gebäude.

City One – Atlantik

Offenbar wollte man Devon die Entscheidung so leicht wie möglich machen, denn anstatt ihn in einer Zelle des Geheimdienstes einzusperren, bis die Ergebnisse feststanden, brachte ihn ein Transportgleiter in eines der nobelsten Hotels von City One. Obwohl Devon versucht hatte, sich gegen eine offenkundige Einflussnahme zu wehren, entschied er, sich in die Situation zu fügen. Allerdings würde er sich auf diesen plumpen Manipulationsversuch nicht einlassen.
Schon der Eingangsbereich des Hotels schien aus einer anderen Welt zu stammen. Kalte silbergraue Linien vermischten sich mit weichen, weißen Rundungen zu einem organischen Ganzen. Jeder Akzent schien einem genauen Muster zu folgen, das sich in jedem Winkel des Raums fortsetzte. Alles glänzte und spiegelte, als wäre es noch nie von einem menschlichen Wesen benützt worden. Das Weiß war so glatt und rein, dass es beinahe blendete. Selbst die Mitarbeiter schienen mit ihrer schlichten, aber noblen Bekleidung integrale Bestandteile des Hotels zu sein. Modernste Hologramme ließen den Raum schier endlos erscheinen. Ein omnipräsentes, warmes Licht füllte die Hotellobby aus.
Die Angestellten schienen verwirrt, als Devon in seiner schmucklosen Militäruniform und mit einer alten Sporttasche eintrat.
»Guten Abend.«, grüßte Devon und näherte sich einer jungen Frau, die sich hinter der Rezeption verschanzt hatte, als müsste sie einen Eindringling abwehren.
»Ich begrüße Sie aufs Herzlichste im Seraph.«, sagte sie und lächelte geschäftlich. »Wie kann ich dem werten Herrn behilflich sein?«
Obwohl Sie es zu verbergen versuchte, erkannte Devon in ihrem Blick, dass seine Anwesenheit unerwünscht war.
»Für mich wurde hier ein Zimmer reserviert.«, erklärte Devon und fixierte sie.
»Verzeihen Sie meine Verwunderung, aber wäre es möglich, dass es sich um einen Irrtum handelt und Sie das falsche Hotel betreten haben? Sie befinden sich hier im Seraph.«
Devon fühlte sich körperlich und geistig ausgelaugt und die Art, wie die Frau ihn ansah, missfiel ihm.
»Ja, man hat mir im Namen des Rats ein Zimmer im Seraph reserviert. Könnten Sie bitte einfach in Ihrem System nachsehen?«
Die Empfangsdame bekam große Augen, als sie das Wort Rat hörte.
»Wie ist Ihr Name?«
»Devon Reeves, Major des Ratsheeres.«, antwortete Devon müde.
Im glatten Gesicht der Frau spiegelten sich die Farben des Bildschirms und der Holosteuerung wider. Aus den Augenwinkeln erkannte Devon, wie ihn ein junger Gepäckträger neugierig beobachtete.
»Major Devon Reeves.«, wiederholte sie und schluckte, ehe sie Devon wieder in die Augen sah. Ihr Gesichtsausdruck war jetzt voller Ehrfurcht.
»Verzeihen Sie, Major, aber meine Schicht hat erst vor wenigen Minuten begonnen.«, sagte sie hastig, als hätte sie gerade den Fehler ihres Lebens begangen. »Ich wurde noch nicht über Ihr Kommen informiert. Sollten Sie sich durch meine Person …«
Devon winkte energielos ab.
»Ist schon in Ordnung.«, sagte er versöhnlich. »Ich weiß selbst nicht, was ich hier soll. Sagen Sie mir einfach nur, wo ich hin muss und schon sind sie mich samt dieser unangenehmen Situation los.«
»Natürlich, verzeihen Sie.«
Die Frau tippte wieder etwas in die Holosteuerung und bedeutete Devon, seinen Arm über einem Scanner auszustrecken.
»Ich lade den Sicherheitscode für Ihr Zimmer auf Ihren ID-Chip.«
Devon hielt seinen Arm über das Gerät. Es dauerte nur eine Sekunde und der Chip, den jeder offizielle Bürger der Welt unter der Haut trug, wurde zum Schlüssel für sein Hotelzimmer.
»Mister Salazar bringt Sie zu ihren Räumlichkeiten.«, sagte sie mit einem künstlichen Lächeln und präsentierte Devon eine Reihe unnatürlich weißer Zähne. »Ich wünsche einen angenehmen Aufenthalt.«
Der vollständig in Weiß gekleidete Page nahm die Tasche von Devon an sich und ging voraus.

Devon fand sich in mehreren, geräumigen Zimmern wieder, die um einiges größer waren als jede Wohnung, die er jemals bewohnt hatte. Staunend betrat er das großzügig und luxuriös eingerichtete Wohnzimmer.
»Guten Abend, Major Reeves.«, begrüßte ihn eine fremde, weibliche Stimme, der es ein wenig an Emotionen zu fehlen schien.
»Guten Abend.«, erwiderte Devon und war für einen Moment überrascht, als er niemanden sah.
»Ich bin Eva, Ihre persönliche KI.«
Devon hatte schon viel von künstlichen Intelligenzen gehört, aber mit einer kommuniziert hatte er zuvor noch nie. Die intelligenten Programme wurden inzwischen überall eingesetzt, selbst im Ratsheer. Doch obwohl man sie als intelligent bezeichnete, waren sie meist nicht mehr als automatische Systeme, die interaktiv auf ihre Umgebung oder auf Eingaben reagierten, statt linear einer einzelnen Programmierung zu folgen. Selbständig denken konnten sie in den seltensten Fällen.
»Ich kümmere mich um alle Ihre Angelegenheiten.«
»Gib mir einen Überblick über meine Möglichkeiten und die Zimmer.«, sagte Devon und fühlte sich seltsam beobachtet.
»Ihr Hotelareal umfasst ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer, ein Arbeitszimmer, einen Trainingsraum, ein Entspannungszimmer, eine Küche, ein Badezimmer sowie eine Toilette. Zu Ihrer Rechten ist ein Balkon samt beheiztem Schwimmbecken, das Sie sich mit einem zweiten Gast teilen.«, erklärte die Stimme geduldig. »Das Wohnzimmer besitzt die neuesten Infowände, mit denen Sie über die Konsole auf dem Tisch oder über ein Neuroimplantat interagieren können. Im hinteren Bereich finden Sie eine Bar. Die Getränke gehen natürlich aufs Haus. Das Schlafzimmer ist mit einem modernen Pneumobett ausgestattet, das Ihnen einen angenehmen Schlaf ermöglicht. Zur Entspannung können Sie auch die eingebaute Massagefunktion nutzen oder den Masseur des Hauses rufen, wenn Ihnen das lieber ist. Weiters finden Sie im Schlafzimmer eine Zonebox, falls Sie wünschen, eine Zone zu besuchen sowie das neueste VR-System, sollten Sie über kein Neuroimplantat verfügen. Die Räume sind allesamt schallisoliert und …«
»Danke, ich glaube, das reicht.«, sagte Devon und winkte ab. Er durfte nur eine Nacht hier verbringen, da war nicht annähernd genug Zeit, all diese wunderbaren Komfortfunktionen zu nutzen. Richtig ausschlafen, das würde ihm schon genügen, auch wenn er angesichts der anstehenden Entscheidung ernsthaft an diesem Luxus zweifelte.
»Kurz gesagt, es fehlt mir hier an nichts.«, sagte er.
»Das ist korrekt.«, bestätigte die KI. »Das Seraph ist immer modernst ausgestattet und bietet Ihnen jeglichen Komfort. Sollte es Ihnen dennoch an etwas fehlen, teilen Sie es mir bitte umgehend mit.«
»Eva, ich möchte einen Blick nach draußen werfen?«
»Natürlich.«
Die schwarz getönten Panoramascheiben wurden allmählich durchsichtig, bis sie einen glasklaren Durchblick ermöglichten. Devon ging staunend auf die riesige Fensterfront zu, die nur von schlanken Stützelementen unterbrochen waren. Er war jetzt mitten in City One auf einem der höchsten Gebäude und konnte auf die nächtliche Pracht der Stadt hinunterblicken.
Der Himmel war wolkenverhangen, doch die Stadt selbst war ein Lichtermeer. Überall griffen die illuminierten Türme von City One nach den Sternen. Gleiterbahnen durchzogen alles wie pulsierende Lichterketten. Durch die absolute Geräuschlosigkeit wirkte die Stadt noch majestätischer, unwirklicher.
Devon ließ seinen Blick umherwandern und erkannte weiter unten die hell erleuchteten hydroponischen Anlagen, die Stockwerk um Stockwerk Pflanzen und Nahrung produzierten. Wie lebendige grüne Gebäude wuchsen sie aus dem massiven Fundament der schwimmenden Stadt.
Noch nie in seinem Leben hatte er so einen Anblick erlebt und vergaß für ein paar Momente die Entscheidung, die er treffen musste. Doch dann kehrten die Gedanken an die Tests und das Gespräch mit First General Cardoso schlagartig zurück.
Devon bediente sich an der Bar. Wie erwartet fand er nur ausgefallene Getränke vor, von denen er nichts verstand außer dass alle von natürlichen, reinen Ressourcen stammten. Er entschied, dass er sich ein Bier verdient hatte. Er schnappte sich irgend eines und schickte sich an, auf den Balkon zu gehen, um der Atmosphäre der Stadt noch näher sein zu können.
Die gläserne Front öffnete sich automatisch, als er herantrat und schloss sich wieder hinter ihm. Ein kühler Wind und der leicht salzige Geruch des Meeres wehten ihm entgegen. Er stützte sich mit einer Hand am Geländer ab, während die andere die Bierflasche hielt. So verlor er sich im nächtlichen Anblick der großartigen Stadt.
Ghost.
Das Wort war wie ein Echo in seinem Kopf.
Ghosts waren vor Jahrzehnten aus der Notwendigkeit heraus in eine schwierige Welt voller Chaos und Ungleichheit geboren worden. Eine kleine Gruppe spezialisierter Soldaten, die gefährlich nahe am Rande von Allmacht und Willkür wandelte. Devon hatte sich nie groß mit dem Thema Ghost beschäftigt, da er immer schon ein Soldat gewesen war, der zusammen mit seinen Kameraden in einen Kampf zog, Seite an Seite. Er war es gewohnt, Befehle zu empfangen, sie auszuführen und weiterzugeben. Es gab klare Regeln und Gesetze, denen er zu folgen hatte. Doch Ghosts agierten autonom und führten nur ein kleines Team an. Sie waren Agenten des Rats, spezialisierte Einzelkämpfer, denen man die schwierigsten und wichtigsten Aufträge anvertraute. Für sie waren Regeln nicht mehr als grobe Umrisse, die man bei Bedarf biegen oder brechen konnte. Ghosts standen über allen Gesetzen. Wenn sie Informationen verlangten, tat man gut daran, sie ihnen zu geben. Wenn sie Eintritt in ein Gebäude wünschten, musste man ihnen Einlass gewähren. Wenn sie töteten, dann war es ihr Recht.
In einer Zeit ständiger Krisen, in der Konzerne mehr Macht besaßen als mancher Staat und die Überbevölkerung in den Megacitys die Polizei zur Machtlosigkeit verdammte, waren sie oft das letzte Mittel des Respekts. Oft reichte allein die Anwesenheit eines Ghosts, um jeden einzuschüchtern und wenn nicht, so nutzten sie alle ihre Möglichkeiten, um ihre Ziele zu erfüllen.
Devon war der Ansicht, dass man den Ghosts zu viel Macht gewährt hatte, aber womöglich täuschte er sich auch. Sein Wissen beschränkte sich auf Gerüchte und das übliche Geflüster unter Kameraden. Er hatte sich nie um ihre Angelegenheiten gekümmert und war nie auf einen der Agenten getroffen. Ghosts waren zwar eine eigene Einheit im Ratsheer, doch sie standen außerhalb der normalen Rangordnung. Sie unterstanden nicht einmal den Generälen und agierten vollkommen unabhängig. Sie galten als unbestechlich, zögerten nicht und konnten oft mit ihrer schieren Präsenz mehr ausrichten, als der gesamte Apparat von Legislative und Exekutive zusammen.
Ihre Aufgabenbereiche waren für eine Spezialeinheit vielfältig. Es existierten die unterschiedlichsten Experten unter den Ghosts. Manche von ihnen zählten zu den härtesten Kämpfern der Welt und wurden als Eingreiftruppe in Kriegsgebieten eingesetzt, während andere den Weg der Agenten gingen und so bevorzugt hinter den Linien agierten. Ihre Aufgabengebiete umfassten das Aufspüren verschwundener Personen, das Bearbeiten von besonders wichtigen Mordfällen bis hin zu Exekutionen oder der Ausführung von Sabotageakten. Ghosts operierten stets am Rande der allgemeinen Wahrnehmung, unterstützt nur von kleinen, ausgewählten Teams.
Dennoch gab es auch für Ghosts Grenzen. Sie waren keine Monster, die sich nehmen durften, was ihnen gefiel. Sie entschieden zwar selbst darüber, um welche Angelegenheiten sie sich kümmerten, dennoch unterstanden sie dem Vorsitz des Weltrats. Nur der konnte den Ghosts Befehle erteilen, wenn es notwendig war. Und außerhalb ihrer Missionen waren auch sie genauso jedem Gesetz unterworfen, wie der Rest der Welt. Selbst während ihrer Aktionen durften sie nicht übertrieben agieren, sondern immer nur wirklich erforderliche Mittel einsetzen, auch wenn diese Definition sehr flexibel war. Ein Ghost durfte weder willkürlich töten noch jemanden bestehlen. Alle seine Taten mussten der Erfüllung seiner Aufgaben dienen.
All das formte das öffentliche Bild einer vom Rat kontrollierten Spezialeinheit, die genauso Regeln unterworfen war wie der Rest der Welt – doch das waren nicht mehr als offizielle Erklärungen und Darstellungen für die Werbeplakate. Wie die Ghosts in der Realität vorgingen, sah gewöhnlich ein wenig anders aus. Sie blieben trotz allem Soldaten und tödliche Agenten. Und Krieg war nicht sauber. Er kannte keine Regeln, auch wenn viele das gerne glaubten.
Devon kannte einige der Gerüchte über die Ghosts, die so zahlreich waren, dass man sie unmöglich zählen konnte. Was davon stimmte und was nicht, wusste er nicht.
Der Gedanke, ab sofort einer von ihnen zu sein, war für Devon sehr befremdlich. Seit er mit sechzehn beim privaten Sicherheitskonzern Blackhammer begonnen hatte, war er es gewohnt, in Kameradschaft zu kämpfen, Befehle zu befolgen und einen Trupp zu führen. Er war ein Soldat, aber kein Agent.
»Guten Abend.«
Devon erschrak, als er die Stimme hörte und wirbelte auf der Stelle herum. Sein Blick wanderte über den riesigen Balkon bis zu dem hell erleuchteten Schwimmbecken, in dem er die Gestalt einer Frau ausmachte.
»Quälen Sie Ihre Gedanken oder genießen Sie nur die Aussicht?«, fragte die Frau, die ihre Arme am Beckenrand übereinandergeschlagen und den Kopf darauf abgestützt hatte. Ihr Körper zeichnete sich schemenhaft unter der Wasseroberfläche ab.
»Beides.«, sagte Devon knapp.
»Verzeihen Sie, wenn ich unhöflich erscheine, aber wie kommt ein Soldat wie Sie zu einem solchen Hotelzimmer?«
Devon musste lachen. Nun fühlte er sich endgültig wie ein Fremdkörper.
»Es soll wohl so etwas wie eine Entscheidungshilfe sein.«
»Eine etwas kostspielige Entscheidungshilfe, nicht?«, fragte sie mit einem flüchtigen Lächeln. »Ihre Entscheidung muss jemandem sehr viel bedeuten, Mister …«
»Reeves.«, ergänzte Devon.
»Mister Reeves, ich darf Sie doch so nennen, oder bevorzugen Sie eine militärische Anrede?«
Devon lächelte und machte eine wegwerfende Geste mit der Bierflasche.
»Nein, ich hatte heute genug militärische Anreden. Mister Reeves klingt gut.«, sagte er und hob die Augenbrauen. »Und wie darf ich Sie nennen?«
»Mein Name ist Zhao.«
»Misses Zhao, nehme ich an.«, sagte Devon.
Die Frau nickte mit einem mysteriösen Lächeln.
»Aber was tut das schon zur Sache?«
»Es freut mich Sie kennen zu lernen, Misses Zhao.«, sagte Devon.
»Wollen Sie mir nicht Gesellschaft leisten, Mister Reeves?«, fragte sie. »Eventuell kann ich für etwas Zerstreuung sorgen.«
Devon beobachtete die undeutliche Gestalt der Frau im Wasser und kam nicht umhin, die Einladung ansprechend zu finden. Doch trotz der Verlockung, ein entspannendes Bad mit einer hübschen Frau zu genießen, entschied er sich dagegen.
»Vielen Dank für die Einladung, Misses Zhao, aber ich muss mich bis morgen entschieden haben und heute war ein wirklich anstrengender Tag.«, sagte er und deutete auf sein Penthouse. »Ich werde mich wohl in mein pneumatisches Bett mit Massagefunktion legen und versuchen, eine Nacht darüber zu schlafen.«
Zhao stieß sich vom Beckenrand ab und schwamm in die Mitte des Beckens.
»Wussten Sie, dass wir Menschen Entscheidungen zumeist bereits getroffen haben, ehe wir uns dessen bewusst sind?«, fragte sie, als Devon gerade gehen wollte. Auf halbem Weg zu seinem Penthouse machte er Halt und erwiderte ihren Blick.
Mit langsamen und eleganten Bewegungen hielt sie sich über Wasser.
»Nein, das wusste ich nicht.«, sagte Devon.
»Unser Gehirn ist schneller als unser Bewusstsein.«, erklärte sie, ohne Devon aus den Augen zu lassen. »Das was Sie Entscheidungsfindung nennen, ist nur der Versuch Ihres Gehirns, ihrem Verstand den bereits getroffenen Entschluss zu erklären.«
»Das klingt, als ob ich keine Wahl hätte.«
»Sie missverstehen mich.«, sagte sie. »Ihr Bewusstsein ist Teil Ihres Gehirns. Sie steuern Ihr Leben lang die Richtung Ihrer Entscheidungen. Das ist auch der Grund, warum Menschen in den meisten Fällen immer dasselbe tun und stets dieselben Menschen bleiben. Es ist und bleibt dennoch Ihre Entscheidung, nur suchen Sie nach Erklärungen dafür, oder nach Ausreden, je nachdem.«
»Klingt kompliziert.«, sagte Devon.
Zhao lachte vergnügt und schwamm ein wenig herum, ehe sie Devon abermals fixierte. »Verzeihen Sie, das Gehirn ist sozusagen mein Spezialgebiet.«
»Ich verstehe nicht viel von solchen Dingen.«, gestand Devon.
»Deswegen erkläre ich es Ihnen ja.«, sagte die Frau und musterte Devon ganz offen. »Wollen Sie einer einsamen Dame wie mir nicht doch etwas Gesellschaft leisten? Vielleicht kann ich bei Ihrer Entscheidung behilflich sein.«
Devon starrte auf die halbleere Flasche Bier in seiner Hand und dachte nach. Man hatte ihn zu einer Entscheidung gedrängt, obwohl er nicht darum gebeten hatte und man hatte ihn in dieses Hotel gesteckt, obwohl er auch nicht darum gebeten hatte, also wieso sollte er die Zeit nicht nutzen, wie es ihm gefiel?
»Und ich dachte, ich hätte mich bereits dazu entschieden, ins Bett zu gehen.«, sagte er, stellte die Flasche einfach am Boden ab und näherte sich dem Becken
»Glauben Sie das wirklich, oder haben Sie nur auf eine neuerliche Aufforderung meinerseits gewartet?«, fragte Zhao.
Devon musste lächeln. Erst jetzt, als er beinahe den Rand erreicht hatte, sah er, dass sie keine Kleider trug. Ihre Sachen lagen auf einer Bank neben dem Schwimmbecken. Er begann damit, sich von seiner Militäruniform zu befreien, bis auch er nackt auf dem Balkon des Seraph stand. Der kühle Wind drängte ihn rasch ins Wasser, wobei ihm die junge Frau mit ihren Blicken folgte.
Als Devon in das Becken eintauchte und nach unten sah, erwartete ihn die nächste Überraschung. Der Pool schwebte frei über der Stadt. Er bestand zur Gänze aus einem durchsichtigem Material, das nur von einzelnen Lichtelementen beleuchtet war. Verschwommen konnte Devon unter sich City One erkennen.
»Ich liebe diesen Ausblick.«, sagte Zhao. »Man hat das Gefühl schwerelos zu sein, über allem zu schweben.«
»Es ist wirklich einzigartig.«, staunte Devon.
Zhao musterte die Konturen von Devon unter der Wasseroberfläche, während er noch mit dem Anblick der Stadt beschäftigt war. Sie begann damit, ihn mit den geübten Bewegungen eines Raubfischs zu umkreisen, der nur auf den richtigen Augenblick zum Zuschlagen wartete.
»Was führt Sie nach City One?«, fragte Devon und schwamm selbst ein paar Runden.
»Geschäfte.«, sagte sie und folgte ihm so geschmeidig wie ein Fisch.
»Für welche Firma arbeiten Sie?«
»Neurosec.«
»Ihre Firma stellt Neuroimplantate her.«, sagte Devon und dachte an das neue Implantat in seinem Kopf.
Die Frau nickte und blieb am flacheren Ende des Beckens stehen. Ihr geschmeidiger Körper fing das Licht der Beckenbeleuchtung auf.
»So ist es.«, sagte sie. »Aber lassen Sie uns nicht über derart langweilige Dinge sprechen.«
»Worüber wollen Sie dann sprechen?«, fragte Devon.
»Sie sind doch der Mann mit der großen Entscheidung.«, blinzelte sie ihn an und ihre Augen funkelten vor Neugierde. »Erzählen Sie mir etwas von sich.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich für Sie in irgendeiner Weise interessant sein könnte.«
»Nicht so bescheiden, Mister Reeves.«, entgegnete Zhao. »Sie kennen mich doch gar nicht und können daher nicht wissen, welche Belange für mich von Interesse sind. Also, worum geht es nun bei Ihrer Entscheidung?«
Devon überlegte, was er ihr mitteilen konnte. Er wollte ihr nicht die ganze Wahrheit sagen, also entschied er sich für eine ausweichende Antwort.
»Es geht wohl darum, große Verantwortung zu übernehmen.«
»Eine Beförderung also.«
»So in etwa.«
Sie wirkte jetzt noch interessierter.
»Eine sehr vage Antwort.«, sagte Zhao. »Sie machen mich neugierig.«
Sie näherte sich ihm von hinten und berührte dann seine breiten Schultern. Ihre Hände strichen über seine muskulösen Arme und seinen kräftigen Rücken. Sie war definitiv keine schüchterne Frau.
»Sie wirken sehr stark.«, stellte sie fest.
»Nur mit fittem Körper überlebt man als Soldat lange genug.«
Sie umkreiste ihn und machte vor ihm Halt, sodass sie sich gegenseitig in die Augen blicken konnten. Devon sah in das jugendliche Gesicht der Asiatin und fragte sich, wie alt sie wohl war und woher sie kam. Obwohl er sie rein äußerlich auf Mitte zwanzig schätzte, wollte die Art, wie sie sprach, nicht zu diesem Eindruck passen.
»Viele machen es sich heutzutage mit Implantaten leicht.«, sagte sie und musterte weiter seinen Körper, als ob er ein Geheimnis wäre, das es zu enträtseln galt. »Sie haben viele Narben.«
Devon reagierte nicht darauf. Dann sah sie ihm wieder in die Augen.
»Ihre Augen sind nicht Ihre eigenen.«, stellte sie fest.
»Nein.«
»Wie fühlen sie sich an?«
»Kalt.«
Zhao blickte in die künstlichen Augen, als wollte sie die genaue Technik dahinter analysieren.
»Sind solche Implantate im Ratsheer Pflicht?«
»Nein, nur die Neuroimplantate.«, erklärte Devon. »Ihre Firma macht damit bestimmt ein gutes Geschäft.«
»Kann man so sagen.«, sagte Zhao wenig interessiert, diese Thematik fortzusetzen. »Was ist geschehen?«
»Eine Granate ist in unmittelbarer Nähe explodiert.«, erzählte Devon. »Die Splitter haben mein linkes Auge zerfetzt, der Druck meine Trommelfelle zum Platzen gebracht. Also haben sie sowohl Augen als auch Gehör durch Prothesen ersetzt.«
»Es muss schmerzhaft gewesen sein.«
»Ja.«, versicherte er ihr. »Was ist mit Ihnen, verstecken Sie Hardware unter Ihrer Haut?«
Zhao lächelte und schüttelte den Kopf. Ihre langen schwarzen Haare bewegten sich wie dunkle Wellen im warmen Wasser.
»Nur ein Neuroimplantat.«, sagte sie. »Ich bevorzuge einen organischen Körper, soweit es sich einrichten lässt.«
Sie schwamm ein Stück auf dem Rücken und präsentierte ihre ganze Pracht. Während sie langsam an ihm vorbeitrieb, sprach sie weiter.
»Viele glauben ihr Heil in künstlichen Verbesserungen zu finden, doch unser Körper ist nahezu perfekt, wieso also verbessern?«
»Für einige sind die Implantate hilfreich, oder ersetzen verlorene Körperfunktionen.«, antwortete Devon.
»Da mögen Sie Recht haben, Mister Reeves, aber wie viele Menschen sind bereits abhängig nach Hardware und verwandeln sich selbst unaufhaltsam in Maschinen? Noch kann niemand die dauerhaften Folgen dieser Entwicklung vorhersehen.«
Devon verzichtete auf eine Antwort. Er hatte sich nie sonderlich mit dem Thema der menschlichen Optimierungen befasst. Seine Implantate stellten Werkzeuge dar, die er einzusetzen wusste und für die er dankbar war. Denn ohne sie wäre er ein Invalide, nicht mehr imstande zu hören oder zu sehen. Er wäre auf fremde Hilfe angewiesen, gefangen in seinem eigenen Kopf ohne zwei der wichtigsten Sinne.Zhao hatte sich wieder vor ihm postiert. Ihre Miene wirkte undurchschaubar.
»Sie sprechen wenig, Mister Reeves.«, sagte die Frau, wobei ihn ihre dunklen Augen anfunkelten. »Auf welches Alter schätzen Sie mich? Eine ehrliche Antwort. Sie werden mich nicht beleidigen, versprochen.«
»Fünfundzwanzig.«, schätzte Devon spontan und ohne lange zu überlegen.
Zhao lachte laut auf und schwamm dann eine elegante Extrarunde für Devon. Er konnte ihren geschmeidigen Körper im Wasser verfolgen und nicht verhindern, dass er sie anziehend fand. Sie tauchte unter und kam anschließend direkt vor ihm wieder zum Vorschein. Mit beiden Händen strich sie sich die Haare nach hinten.
»Ich bin dreiundvierzig.«
Als sie den verwunderten Blick von Devon von seinen Gesichtszügen ablas, lachte sie neuerlich.
»Sie glauben mir nicht, oder?«
»Es …«, begann er, fand aber nicht die richtigen Worte.
»Ich bin wirklich dreiundvierzig, das versichere ich Ihnen.«
Devon glaubte ihr. Er sah es in ihrem Blick, dem Blick einer Frau, die über viel mehr Erfahrung und Selbstbewusstsein verfügte, als es ihre Jugend vermuten ließ.
»Sie sind ein Opti.«, entkam es ihm, ehe er seine Lippen im Zaum halten konnte. »Verzeihen Sie, ich wollte nicht unhöflich sein.«
Abermals lachte sie und es klang ehrlich.
»Ja genau, ich bin ein Opti.«, bestätigte sie seine Vermutung. »Meine Eltern haben mich genetisch optimiert und ich habe mich seither weiteren Behandlungen unterzogen, weswegen ich heute noch so jung aussehe. Keine genetischen Makel, keine Schwächen. Nicht anfällig für Krankheiten oder Zivilisationsleiden. Verbesserte Intelligenz, Kreativität und körperliche Leistungsfähigkeit. Und natürlich Schönheit.«
Devon hörte den Stolz in ihren Worten. Über ein mangelndes Selbstwertgefühl konnte die Frau nicht klagen.
»Sie sehen vor sich den Höhepunkt der menschlichen Evolution, nicht das gewaltsame Verbauen von künstlichen Körperteilen.«
Sie deutete auf ihren eigenen Körper.
»Wartet sich selbst, benötigt nur wenig Energie und ist zu großartigen Leistungen imstande.«
Devon schwieg und ließ seinen Blick ihren straffen Körper entlang gleiten. Er konnte einfach nicht glauben, dass diese Frau über dreißig war, geschweige denn über vierzig. Ihr Gesicht war ohne jegliches Make-up so glatt und makellos wie das einer Zwanzigjährigen. Es gab keine Falten und keinerlei Anzeichen von Hautalterung. Einerseits schien es so, als wäre sie gerade erst geboren worden, andererseits wachten tiefgründige Augen in diesem Gesicht. Sie genoss sichtlich, wie Devon sie mit seinen Blicken berührte, sie richtiggehend damit streichelte.
»Genug von mir geredet, Mister Reeves.«, sagte Zhao jäh. »Wir sind doch hier, um Ihnen bei Ihrer Entscheidung zu helfen. Warum also fällt sie Ihnen so schwer? Was sind die Gründe?«
Er dachte kurz nach.
»Ich weiß nicht, ob ich für das geschaffen bin, was man von mir erwartet.«, sagte er anschließend.
»Wieso glauben Sie das?«
»Ich war mein Leben lang Soldat.«
»Und die Entscheidung würde bedeuten, dass Sie kein Soldat mehr sein können?«
Devon seufzte. Er konnte es nur schwer in Worte fassen.
»Nicht in der Form, wie ich es kenne.«, sagte er.
»Hm.«, machte Zhao und berührte Devon an der Brust. »Vielleicht sollten Sie sich zuerst einmal die grundlegende Frage stellen: Warum sind Sie ursprünglich Soldat geworden?«
»Ich war jung und hatte keine anderen Perspektiven.«, erklärte er. »Außerdem konnte ich das Geld gut gebrauchen.«
»Also wurden Sie dazu gezwungen?«
»Mehr oder weniger.«
»Dann lassen Sie mich die Frage umformulieren: Warum sind Sie heute noch Soldat?«
Wieder schwieg Devon und dachte darüber nach.
»Oder sind Sie es nur noch aus Gewohnheit, weil Sie es Ihr ganzes Leben über waren?«, fragte Zhao. »Oder ist es gar Angst, Sie könnten nichts anderes als Soldat zu sein?«
Devon erinnerte sich an das Jahr, nachdem er Blackhammer verlassen hatte. Er hatte alles hinter sich gelassen und ein anderer Mensch werden wollen. Doch weder die alte Heimat, noch Lisa, noch ein anderer Job hatten etwas verändern können. Er war derselbe geblieben. Kein magischer Trick hatte ihn verwandelt. Die Kerben in seinem Bewusstsein, die Wunden in seinem Körper und die Erinnerungen ließen sich nicht abstreifen. Konnte er womöglich gar nichts anderes als kämpfen, war er zu einem anderen Leben gar nicht mehr fähig?
»Mister Reeves?«, fragte sie und holte ihn wieder in die Realität zurück.
»Ja?«
»Ich weiß kaum etwas von Ihrer militärischen Arbeit oder über Sie, aber Soldat zu sein stelle ich mir schwierig vor. Sie riskieren Ihr eigenes Leben auf dem Schlachtfeld und tragen als Offizier darüber hinaus die Verantwortung für das Leben Ihrer Kameraden.«
Devon starrte an Zhao vorbei, zu den hell erleuchteten Türmen von City One, die von Gleitern wie kleine Leuchtkäfer umkreist wurden.
»Die Tatsache, dass Sie noch immer beim Ratsheer sind und nicht für eine der privaten Sicherheitsfirmen arbeiten, sagt mir, dass Sie nicht auf schnelles Geld aus sind. Sie sind demnach kein Söldner, sondern ein Mann, der für mehr steht. Daher sollten Sie sich die Frage stellen, ob sich das, wofür Sie einstehen, mit ihrer Entscheidung vereinbaren lässt.«
Devon spürte, wie sich seine Gedankenwelt immer schneller zu drehen begann. Alte Wünsche, alte Vorstellungen kollidierten mit eingefahrenen Gedankenmustern und gebaren etwas Neues. Dennoch schwebten im Zentrum des geistigen Malstroms der Zweifel und das Zögern.
»Und was, wenn man mich aus den falschen Gründen ausgewählt hat und ich einfach nicht der Richtige bin?«
Zhao sah Devon einige Zeit in die künstlichen Augen und lächelte dann.
»Es wäre egal, solange Sie nur das Richtige daraus machen.«, sagte sie, während ihre Finger sein vom jahrelangen Kämpfen gezeichnetes Gesicht berührten, als wollte sie einen so seltenen Anblick auch körperlich einfangen. »Was auch immer diese Entscheidung für Sie bedeuten mag, sehen Sie sie als Chance, denn das Warum ist irrelevant. Wichtig ist am Ende nur, was Sie daraus machen.«
Ein plötzlicher Regenguss unterbrach ihr Gespräch. Ein kühler Schauer ging auf den Balkon und das Schwimmbecken nieder.
»Wie schade.«, sagte Zhao enttäuscht und ließ sich die Tropfen für ein paar Sekunden auf das Gesicht prasseln.
Der Regen war von einem Augenblick auf den anderen gekommen und nahm innerhalb kürzester Zeit an Intensität zu.
»Was halten Sie davon, wenn wir an einen etwas trockeneren Ort übersiedeln?«, fragte sie erwartungsvoll.
Der Anblick war einmalig: Die Tropfen stürzten auf die illuminierte Wasseroberfläche wie kleine blaue Flammen und umrahmten das jung gebliebene Gesicht von Zhao.
»In Ordnung.«, sagte Devon und sprang aus dem Wasser. Er reichte Zhao die Hand und zog sie rasch aus dem Becken. Er wollte seine Militäruniform aufheben, doch sie zerrte ihn mit sich.
»Lassen Sie sie liegen, darum wird man sich kümmern.«
Die beiden rannten das kurze Stück bis zu seinen Räumlichkeiten, während der kalte Regen auf ihre ungeschützten Körper niederging. Sofort öffnete sich die Tür und sie traten in die Wärme des riesigen Wohnbereichs ein. Ein Kaminfeuer entzündete sich automatisch in einem Teil des Raums.
»Fremder ID-Code erkannt.«, meldete sich die Stimme der künstlichen Intelligenz. »Soll ich Misses Zhao als Gast anmelden?«
»Jaja, mach das.«, sagte Devon und wurde auch schon von Zhao Richtung Badezimmer gezerrt.
Auch hier herrschten überwiegend helle und metallische Farbtöne vor. Der halbe Raum bestand aus einem Dusch- und Wellnessbereich. Die gläserne Abschirmung des Duschbereiches öffnete sich automatisch und schloss sich wieder hinter ihnen. Devon konnte gerade noch erkennen, wie flache Putzroboter ihre versteckten Schächte verließen und damit begannen die nassen Spuren zu säubern, die ihre nackten Körper auf dem Boden hinterlassen hatten. Zhao dämpfte das Licht und die gläserne Abschirmung verwandelte sich zu einer nächtlichen, mondhellen Landschaft. Aus winzigen, fast unsichtbaren Düsen in der Decke ergoss sich weicher, warmer Regen über ihnen. Devon spürte sofort, wie sich die kalte Haut mit der Wärme vollsog.
Zhao presste sich an ihn. Sie wurde von der kühlen Simulation des Mondlichts bestrahlt und erinnerte Devon plötzlich wieder an Lisa. Zhao trug ihr Begehren ungehemmt auf den lächelnden Lippen, während ihre Hände seinen festen Körper abtasteten.
»Sie sind doch verheiratet, Misses Zhao.«, stellte Devon trocken fest.
»Natürlich bin ich das.«, sagte sie fast beiläufig, wobei der feine Regen an ihrem bläulich erleuchteten Körper herunterlief, der trotz ihres Alters so jung wirkte. »Ich bin aktuell sogar mit drei Männern verheiratet und es gab noch einige mehr, die längst der Vergangenheit angehören.«
»Drei Männer?«, wiederholte Devon überrascht.
»Ja, jeder erfüllt bestimmte Bedürfnisse.«
»Und welches erfülle ich?«
»Das nach spontanen Abenteuern.«, flüsterte Zhao und küsste ihn auf die Lippen.

8 – Mütter

Lower Chicago – USA

Nachdem der donnernde Rhythmus des Zorns in Nyx verklungen war, hatte sich ein leises Surren der Machtlosigkeit eingestellt, das nun durch ihren Kopf geisterte. Sie durchwanderte das nächtliche Treiben der Lower City wie ein Phantom, vorbei an den Klängen bezahlter Körperlichkeiten, der versteckten Gewalt in finsteren Gassen und dem allgegenwärtigen Unbehagen. Nyx war so verwirrt durch die Stadt getaumelt, dass sie nicht recht wusste, wie sie vor die Wohnungstür ihrer Mütter gelangt war. Ein innerer Drang musste sie hierher geführt haben. Sie wollte nicht alleine sein, nicht nach dem, was an diesem Tag vorgefallen war.
Sie betätigte das digitale Bedienfeld an der Tür und aktivierte den stillen Alarm. Wenn noch jemand wach war, würde er jetzt ihr Gesicht auf allen Schirmen in der Wohnung sehen. Nyx glaubte bereits, dass alle schliefen und wollte wieder gehen, als sie eine vertraute Stimme durch den kleinen Lautsprecher hörte.
»Sam, was tust du so spät noch hier?«
Die Stimme klang trotz der kraftlosen Verzerrung der Sprechanlage müde.
»Kann ich reinkommen, Libby?«, fragte Nyx und lehnte sich gegen die Tür.
»Natürlich, was ist denn das für eine Frage?«
Gleich darauf ging die Tür auf und Nyx wurde von Libby mit einem freudigen Lächeln empfangen, das sich inmitten ihres aschfahlen Gesichts ausbreitete wie Sonnenstrahlen über einer kargen Wüste.
»Miwa und Isabel sind schon in ihren Betten.«, sagte Libby und trat einen Schritt zur Seite.
Nyx schob sich an ihr vorbei in die Wohnung. Nachdem sie die Stiefel und die Jacke im schmalen Eingangsbereich ausgezogen hatte, betrat Nyx das Wohnzimmer. Es war ein großer Raum, der aus mehreren Schichten bequemer Kissen und Decken bestand, die quer über dem Boden verteilt lagen. In der Mitte stand ein niedriger Tisch, der mit unterschiedlichem Kram übersät war. An der Wand hing ein altertümlicher Fernseher, der sie beinahe zur Gänze ausfüllte und das unbeleuchtete Zimmer mit farbigen Lichtspielen überzog. Aus den Lautsprechern kam nur leises Flüstern, sodass man dem Ton nur bei vollkommener Stille folgen konnte.
Nyx spürte sofort, wie sich ein wohliges Gefühl in ihrer Brust einnistete, wie jedes Mal wenn sie herkam.
Libby war ihr gefolgt und umarmte Nyx, als diese sich zu ihr umdrehte. »Freut mich, dass du da bist.«, sagte sie, wobei ihr Lächeln das pausbäckige Gesicht erhellte.
Nyx erkannte das aufgeregte Funkeln in den Augen ihrer ersten Mutter, das sie immer dann bekam, wenn sie sich freute. Erst jetzt fiel Nyx auf, dass Libby kränklich aussah.
»Siehst ja ziemlich beschissen aus.«, stellte sie fest, während sie das graue Gesicht studierte.
Libby stemmte die Fäuste in die Seiten und erwiderte den Blick zornig.
»Hey, nicht frech werden, Sam!«
»Entschuldige.«, sagte Nyx und ließ sich auf einem bequemen Lager aus Polstern nieder, den Blick zerstreut zum Fernseher gerichtet. »Alles in Ordnung?«
Libby winkte ab und warf sich neben Nyx auf den Boden, wobei sie sich die weißen Wellen engelsgleichen Haars aus dem Gesicht strich. Sie fingen das Licht des Fernsehers ein und ließen es im Halbdunkeln richtiggehend erstrahlen.
»Halb so schlimm, nur Kopfschmerzen, schon seit ein paar Tagen.«, sagte Libby und wirkte wieder fröhlich »Und bei dir Sam?«
Nyx verfolgte kaum, was auf dem Fernseher vor sich ging, sondern dachte einmal mehr an ihre Konfrontation mit Marlon. Sie spürte, dass seine Worte einigen Schaden angerichtet hatten und nun der Zweifel durch die entstandenen Risse in ihr Bewusstsein sickerte.
»Du kommst doch nicht ohne Grund um diese Uhrzeit her.«
»Ich wollte nur nicht alleine sein.«, gestand Nyx.
Die Mundwinkel von Libby gingen abermals nach oben.
»Das trifft sich ausgesprochen gut, ich konnte ohnehin nicht schlafen.«, sagte sie. »Wir machen uns eine hübsche Nacht zu zweit.«
»Klingt super.«
Libby setzte sich hinter Nyx und begutachtete ihr Haar.
»Wie deine Haare wieder aussehen.«, sagte sie unzufrieden. »Das werden wir gleich haben.«
Libby machte sich ohne die Zustimmung von Nyx über ihre Frisur her. Sie selbst kümmerte sich nie besonders darum, aber sie mochte es, wenn ihre Mutter es tat.
»Worum geht es?«, fragte Nyx und sah das erste Mal aktiv zum Fernseher.
»So ein paar Loser kämpfen um die Gunst einer Optifrau.«
Plötzlich war hinter ihnen das Öffnen einer Tür zu hören. Zugleich drehten sich ihre Köpfe zu dem Geräusch herum, als eine dunkle Gestalt im Türrahmen auftauchte.
»Merde!«, der Fluch klang rauchig und mürrisch. »Was ist denn das für ein Lärm hier? Kann man in dieser Wohnung nicht einmal in Ruhe schlafen?«
»Hallo Isabel.«, grüßte Nyx die zweite Frau, die sie als Mutter bezeichnete, obwohl auch sie es im eigentlichen Sinne nicht war.
Isabel war hochgewachsen und hatte einen markanten Knochenbau. Dieser Eindruck wurde zusätzlich durch die langen, schlanken Beinprothesen verstärkt, die eher präzisen Werkzeugen glichen als Beinen. Ein Geschenk von Marlon. Das Gesicht wirkte mit den ausgeprägten Wangenknochen und der kantigen Nase streng.
»Sam?«, fragte Isabel überrascht. Sie versuchte, sich den Rest des Schlafs aus den wilden Locken ihres matt glänzenden, schwarzen Haars zu reiben. »Was hast du angestellt?«
»Hey.«, protestierte Nyx. »Ich hab gar nichts angestellt!«
»Sie wollte nicht alleine sein.«, erklärte Libby zufrieden und mit den Haaren von Nyx in der Hand. »Ist doch so, oder?«
»Genau.«, nickte Nyx. »Darf ich meine Mütter denn nicht mehr besuchen kommen?«
»Sûr.«, sagte Isabel und wandelte mit den eisernen Schritten ihrer silbernen Prothesen über den ausstaffierten Boden, als wäre sie ein stolzer Vogel. »Um diese Uhrzeit? Non, non, das kaufe ich dir nicht ab.«
Isabel ließ sich lang ausgestreckt auf dem Lager nieder. Einen Arm schob sie stützend unter den Kopf und schlug ihre künstlichen Beine übereinander. Dabei beobachtete sie Nyx wachsam, als wollte sie die Wahrheit von ihren Augen ablesen.
»Ach lass sie doch, Isabel.«, verteidigte Libby Nyx. »Ist ja nicht so, als ob wir morgen früh raus müssten.«,
Im Blick von Isabel lag die sorgende Strenge einer liebenden Person.
»Was ist los, Sam?«
Erneut öffnete sich hinter ihnen eine Tür und eine weitere Frau betrat das Wohnzimmer.
»Jetzt haben wir auch noch Miwa geweckt.«, stellte Isabel seufzend fest.
Miwa stand im krassen Kontrast zu Isabell und Libby. Sie war deutlich kleiner und zierlicher. Die weichen, asiatischen Gesichtszüge verliehen ihr etwas Unschuldiges und Gütiges zugleich. Auch sie trug schwarze Haare, doch sie waren kürzer, hinter dem Kopf zusammengesteckt und glänzend glatt. Als sie Nyx sah, lächelte sie sanft.
»Was für ein angenehmer Besuch, wenn auch etwas spät.«, stellte sie mit einer hellen, gefühlvollen Stimme fest, die beinahe wie die eines Engels klang.
»Entschuldigt bitte, ich wollte euch nicht allesamt wecken.«, sagte Nyx schuldbewusst. »Ich dachte nur, ich …«
»Ach komm schon Sam, wir freuen uns sehr, dass du hier bist.«, sagte Libby. »Selbst Isabel, auch wenn sie dreinschaut, als hätte man sie gerade überfahren.«
Libby musste sich ducken, als Isabel ein Kissen nach ihr warf und ihr einen tödlichen Blick hinterherschickte. Die langen Beinprothesen bewegten sich gefährlich, als würden sie jeden Moment zustechen. Nyx musste lachen und erntete dafür ihrerseits finstere Blicke.
»Vas te faire enculé!«, fluchte Isabel.
»Niemand versteht dich, Isabel.«, sagte Libby und zeigte ihr die Zunge.
»Solltest du nicht im Bett liegen und deine Kopfschmerzen auskurieren?«, entgegnete Isabel wieder ernst.
»Konnte nicht schlafen.«
Inzwischen hatte sich Miwa neben Nyx und Libby niedergelassen.
»Was ist denn los, Samantha?«, fragte Miwa und streichelte Nyx zärtlich über das Gesicht.
Nyx sah in die künstlichen, stets geweiteten Pupillen, die den Eindruck einer zerbrechlichen Schönheit noch verstärkten. Das Blau ihrer Augen war das von Saphiren, die von Licht angestrahlt wurden. Miwa sah Nyx an wie eine Besonderheit, die es zu betrachten galt.
»Du weißt, wir hören dir immer zu.«, sagte sie.
Nyx seufzte und erzählte, was vorgefallen war, beginnend mit dem Zonedive. Schweigend, in das kaleidoskopische Licht des Fernsehers getaucht, lauschten alle ihrer Geschichte.
»Er hat die fünfzigtausend Credits einfach behalten und mich dann rausgeworfen.«, beendete Nyx die Erzählung mit neu aufwallendem Zorn.
Sie blickte in Gesichter, die nicht unterschiedlicher hätten sein können. Während Isabel sorgenvoll und zugleich wütend dreinschaute, schüttelte Libby empört den Kopf. Nur Miwa machte einen eher nachdenklichen Eindruck.
»Marlon, dieses dreckige Arschloch, den sollte mal jemand ordentlich aufmischen.«, zischte Libby mit erhobener Faust.
»Das war nicht besonders klug von dir, dich so mit ihm anzulegen.«, sagte Isabel und versuchte Nyx mit einem strengen Blick zu bestrafen, doch er wurde von tiefer Besorgnis überschattet.
Miwa schwieg, die Arme im Schoß gefaltet.
Jetzt wo Nyx alles los geworden war, entwich ihr Zorn allmählich. Als sie die Worte von Marlon noch einmal wiedergegeben hatte, hatten sie sich gleichzeitig tiefer in ihre Selbstzweifel gegraben.
»Vielleicht hat er ja Recht.«, sagte sie. »Vielleicht helfe ich den Frauen gar nicht.«
»Ach, red doch keinen Blödsinn.«, knurrte Isabel. »Wir sind nicht die Einzigen, die du aus seiner Knechtschaft befreit hast.«
»Aber ich kann nicht für alle sorgen.«, sagte Nyx und dachte an die Gesichter der jungen Mädchen, die sie von Marlon freigekauft hatte.
»Das musst du auch nicht, Sam.«, warf Libby ein und legte Nyx beide Hände auf die Schultern.
»Keine Frau sollte ihren Körper verkaufen müssen.«, sagte Nyx und dachte an die Nacht zurück, als sie sich alleine in den Wastelands wiedergefunden hatte, mit kaum mehr als den Kleidern, die sie am Leib trug: kein Geld, keine Orientierung, keine Hoffnung inmitten der Kälte und mit einem quälenden Hunger im Bauch. Und dann war sie von einem Mann auf der Straße aufgelesen worden. Sie sah sein Gesicht klar vor ihren Augen, sah, wie er sie in seine schäbige Wohnung führte. Jeder Meter seiner Wohnung war wie ein Plan in ihr Gedächtnis eingebrannt. Sie roch das Essen in der Mikrowelle und spürte die wärmende Decke um ihren Körper.
An jenem Tag hatte Nyx gelernt, dass es für jede Leistung, egal wie selbstlos sie erschien, immer auch eine Gegenleistung geben musste. Damals war Nyx nicht stark genug gewesen, sie ihm zu verweigern. Noch in derselben Nacht, in der er ihre Hilflosigkeit ausgenutzt hatte, war sie zusammen mit einem Creditchip abgehauen.
»Wir alle wissen, was es heißt, das zu tun.«, sagte Isabel. »Genauso wie du. Aber wir hatten keine andere Möglichkeit.«
Libby kümmerte sich weiter um die Haare von Nyx, was angenehm auf der Kopfhaut kribbelte.
»Samantha, ist es nicht besser, den Körper zu verkaufen als den Geist oder die Seele?«
Nyx lauschte den Worten von Miwa, die im Vergleich zu ihren anderen Müttern wenig sprach. Doch das Wenige hatte sie sehr zu schätzen gelernt.
»Ich habe mich immer an einen anderen Ort gedacht, als wäre ich weit weg von allem, was rund um mich herum geschieht.«, sagte Miwa. »Ich habe diesen Männern nur meinen Körper für ihre Begehren geliehen, nicht aber mich oder meinen Geist.«
Schweigen senkte sich auf das Wohnzimmer. Die allgegenwärtige Geräuschkulisse des Wohnblocks floss in die Stille und vermengte sich mit dem Flüstern des Fernsehers zu einer fernen Erinnerung des Lebens. Nyx dachte über die Worte nach und an den Dive mit Bériault, wo sie ihre eigene Körperlichkeit reduziert hatte, um seine Nähe nicht spüren zu müssen. Hatte Miwa es wirklich geschafft, dem zu entfliehen, was die Männer immer und immer wieder von ihr verlangt hatten?
»Ich habe mir jede Sekunde gewünscht, dass es aufhört.«, sagte Nyx in einem bitteren Ton. »Ich habe diese Männer gehasst. Jeden einzelnen.«
»Hass habe ich nie empfunden.«, antwortete Miwa mit ihrer unnatürlich sanften Stimme. Ihre Augen waren wie tiefe, sonnenbestrahlte Teiche. Alles künstliche Anpassungen, um ihr ein besonderes Image zu verpassen. »Sie waren Fremde, die kamen und gingen, Sklaven ihrer eigenen Instinkte. Wer bin ich, über sie zu urteilen?«
Isabel und Libby hatten ihre Köpfe gesenkt und machten nachdenkliche Gesichter. Miwa war Nyx oft ein Rätsel. Obwohl sie erst achtunddreißig war, wirkte sie auf ihre Art weise. Außerdem schien sie so etwas wie Zorn und Hass nicht zu kennen. Wenn Nyx ehrlich war, konnte sie sich nicht daran erinnern, Miwa jemals wütend erlebt zu haben.
»Ich glaube nicht, dass ich diesen Männern vergeben kann.«, sagte Nyx.
»Solltest du auch nicht.« Die Stimme von Isabel war hart und sprach mit alter, zorniger Verbitterung. »Du warst noch ein Kind, das ist unentschuldbar.«
Libby nickte nur, während Miwa ihr mysteriöses Schweigen schwieg. Nyx dachte wieder an die Frauen, von denen sie geglaubt hatte, ihnen zur Freiheit verholfen zu haben.
»Ich wollte diese Mädchen doch immer nur vor dem bewahren, was uns allen widerfahren ist.«
»Du kaufst sie frei und schenkst ihnen ein Startkapital. Das ist mehr als genug.«, sagte Isabel. »Was sie weiter mit ihrem Leben anfangen, liegt nicht in deiner Verantwortung.«
Nyx hörte die Worte, doch die Zweifel und der Zorn über die eigene Machtlosigkeit fraßen sich immer tiefer in ihr Bewusstsein. Sie schüttelte den Kopf und spürte, wie ihr die Tränen kamen. Mit aller Kraft versuchte sie den Drang zu unterdrücken und wich vor Scham den Blicken ihrer Mütter aus.
»Ich könnte so viel mehr tun.«, sagte sie und bemerkte das Zittern in ihrer Stimme. Gewaltsam schluckte sie die aufsteigenden Gefühle hinunter.
»Ich könnte viel mehr Credits beschaffen und uns alle nach Upper City bringen.«
»Sag das doch nicht.«, sagte Isabel, während Miwa und Libby Nyx zwischen sich nahmen.
Nyx zog die Schulterblätter zusammen und starrte mit halb verschwommenem Blick auf den Boden, um ihre Tränen zu verbergen.
»Wir könnten alle viel mehr haben.«
Sie schluckte mehrmals beim Versuch ihre Stimme wieder unter Kontrolle zu bekommen. Doch ihre Gefühle drehten sich wie in einem Karussell immer schneller und drohten sie zu überwältigen.
»Du tust so viel für uns, bezahlst unsere Rechnungen und kümmerst dich um alles.«, flüsterte Miwa mit der engelsgleichen Stimme ihres Stimmimplantates.
»Mädchen, du weißt genau, dass du das nicht tun kannst.«, sagte Isabel und drehte eine Locke ihres Haars um ihren freien Zeigefinger.
»Aber ich könnte.«, entfuhr es Nyx, ehe sie sich wieder zwischen den besänftigenden Berührungen von Libby und Miwa zusammenkauerte. »Ich habe die Fähigkeiten dazu.«
»Das wissen wir doch.«, sagte Isabel. »Aber du selbst hast gesagt, dass das Risiko zu groß ist.«
»Genau, das letzte Mal hätten diese Leute dich beinahe gehabt.«, erinnerte sie Libby an den furchtbaren Dive im Pain.
»Das ist das Risiko nicht wert.«, sagte Isabel.
»Du bist uns viel zu wichtig.«, flüsterte auch Miwa.
»Außerdem, was sollen wir denn da oben?«, fragte Libby mit einem Grinsen ihres gut gefütterten Gesichts. »Die haben sicher kein Synth.«
Als Nyx das hörte, musste sie lachen und sah für einen Moment auf.
»Du bist die Einzige, die das synthetische Zeug gut findet.«, sagte sie und wischte sich die Tränen von den Wangen.
»Das stimmt allerdings.«, nickte Isabel. »Du schaufelst den Fraß endlos in dich rein. Er sitzt dir sogar schon am ganzen Körper.«
»Hey.«, empörte sich Libby. »Ich musste früher bei Marlon immer klapperdürr rumrennen, jetzt bin ich eben … ein bisschen weniger schlank. Und was kann ich dafür, wenn es schmeckt.«
Isabel schüttelte den Kopf. »Unsere Sam opfert sich auf, um uns gesundes, frisches Essen auf den Tisch zu bringen und du schaufelst dir kiloweise das Zeug aus der Retorte rein.«
»Aber ich würde euch gerne so viel mehr bieten.«, sagte Nyx traurig. »Ich schulde es euch. Ihr habt mir damals nicht nur das Leben gerettet.«
»Ach hör doch auf, Mädchen.«, winkte Isabel mit der einen freien Hand ab. Selbst diese einfache Bewegung wirkte elegant. »Du schuldest uns gar nichts.«
»Isabel hat Recht.«, sagte auch Miwa und lächelte so herzlich, dass Nyx nicht anders konnte, als ihr Lächeln zu erwidern. »Wir haben dir damals doch nicht geholfen, weil wir gehofft haben, dass du uns eines Tages reich machst.«
»Aber warum dann?«, fragte Nyx und war wieder den Tränen nahe. »Ihr hattet selbst kaum etwas und habt mich dennoch bei euch aufgenommen.«
»Du warst komplett am Ende.«, sinnierte Libby. »Ich konnte nicht länger zusehen, wie du kaputt gemacht wirst. Du hast mir so leid getan, als du halbnackt und frierend auf der Straße gestanden bist und auf Freier gewartet hast.«
»So ist es.«, bestätigte Isabell und nickte, weiter auf ihren Arm gestützt. »Als Libby uns von dir erzählt hat, war klar, dass wir etwas unternehmen mussten. Frauen wie wir müssen zusammenhalten.«
»Du warst noch ein Kind, es war unsere Pflicht dir zu helfen.«, sagte selbst Miwa.
»Und jetzt hör endlich auf damit, Sam.«, ordnete Isabel an. »Du hast so viel für uns und diese Mädchen getan, du solltest dich keine Sekunde schlecht fühlen, nur weil Marlon ein fieses Arschloch ist.«
»Genau Sam, hör nicht auf den Arsch.«, nickte Libby.
»Du bist ein guter Mensch, Samantha.«, sagte auch Miwa.
Nyx ließ sich zurücksinken und wurde von Miwa aufgefangen. Sie bettete ihren Kopf auf ihren Schoß und strich über die kahlen Stellen um ihre Schläfen. Für ein paar Minuten war da nur das Flüstern des Fernsehers. Wenig später huschte ein unbehaglicher Ausdruck über das Gesicht von Libby, als sie sich an die Stirn fasste.
»Ich werde mich jetzt doch besser hinlegen, mein Kopf brummt schon wie der alte Vibrator von Isabel.«
»Hey, dann tut dein Kopf ja das erste Mal etwas Sinnvolles.«, konterte Isabel mit einem bösen Grinsen.
»Haha, sehr witzig.«, empörte sich Libby und streichelte Nyx noch einmal über die Wange. »Du bleibst heute Nacht doch hier, oder?«
»Wenn ich darf.«, sagte Nyx.
»Was ist denn das für eine dumme Frage?«, sagte Isabel. »Natürlich bleibst du hier!«
»Sehr schön.« Libby lächelte. »Freu mich schon auf morgen, dann machen wir uns einen tollen Tag.«
»Super.«, sagte Nyx. »Gute Nacht, Libby, und gute Besserung.«
»Danke. Nacht, Mädels.«
Libby verschwand in ihrem Zimmer, als sich auch Isabel mit einer Mischung aus maschineller Präzision und strenger Eleganz erhob.
»Ich hoffe, ihr habt nichts dagegen, wenn ich mich ebenfalls hinlege, ich bin ziemlich müde.«
»Geh nur.«, sagte Miwa. »Schlaf gut.«
»Ihr auch, macht nicht mehr zu lange. Morgen ist auch noch ein Tag.«, sagte Isabel und hob rügend den Finger. »Und du Mädchen, mach dir nicht so viele Gedanken wegen Marlon. Verstanden?«
Nyx nickte lächelnd.
»Brav. Bonne nuit.«
Isabel verschwand in ihrem Zimmer und so waren Nyx und Miwa alleine. Schweigend und mit geschlossenen Augen genoss Nyx die Zärtlichkeiten. Doch schon bald drifteten ihre Gedanken von Marlon ab und suchten sich einen Weg in ihre Vergangenheit. Plötzlich fand sie sich in der Gefangenschaft von Hort 33 wieder. Sie sah die Gesichter der anderen Kinder und sie fühlte die Schmerzen nach der Gehirnoperation. Sie spürte die erstmalige Teilung ihres Bewusstseins und das Gefühl, innerlich zerrissen zu werden.
Obwohl ihr die Zeit im Hort 33 so weit entfernt erschien, war sie nach wie vor präsent. Und je länger sie an damals zurückdachte, desto stärker kristallisierte sich ein einzelnes Gesicht heraus.
Nyx öffnete die Augen, um den Bildern zu entfliehen. Doch die Schwere der Vergangenheit wollte sich dennoch über ihr ausbreiten wie eine bleierne Decke.
»Denkst du wieder an das Mädchen?«, fragte Miwa, der ihr Grübeln nicht entgangen war.
»Woher weißt du das?«, fragte Nyx erstaunt und sah von unten in das Gesicht ihrer Mutter.
»Du bekommst immer diesen ganz speziellen Gesichtsausdruck, wenn du an sie denkst.«
»Ja.« Nyx seufzte.
»Kümmerst du dich deswegen um die Mädchen von Marlon, weil du ihr nicht helfen konntest?«
Nyx stockte für einen Moment der Atem, als sie das hörte. Ihre Gedanken wirbelten im Kreis, doch sie rang sich zu einer Antwort durch.
»Ich will ihnen helfen, damit sie nicht länger durchmachen müssen, was wir alle mussten.«
Miwa verzichtete auf eine Reaktion und schwieg. Nyx wollte noch etwas ergänzen, hielt dann aber inne. Betty, ihre einzige Freundin im Hort 33, lächelte sie aus ihrer Erinnerung an. Ein unschuldiges, kleines Mädchen mit kurzem Haar, das so zerbrechlich ausgesehen hatte wie Keramik. Jetzt erst fiel Nyx eine gewisse Ähnlichkeit zwischen ihr und Miwa auf. Beide hatten eine stille und sanfte Art. Das Abbild zerfloss zusammen mit der Erinnerung und formte eine neue Gedankenaufzeichnung.
Nyx und Betty hetzten gemeinsam durch fremde Straßen und Gassen, die Verfolger direkt hinter ihnen. Von Panik und dem Drang nach Freiheit getrieben, rannten sie. Doch Betty war schwach, sie konnte nicht mithalten und während Nyx verzweifelt an ihr zerrte, näherten sich ihre Häscher unbarmherzig. Und dann sah Nyx das letzte Mal in das Gesicht von Betty, als sie die Finger von ihren löste und so ihre einzige Freundin zurückließ. Der Rest der Erinnerung war ein Kaleidoskop aus Gefühlen und Sinneseindrücken, die keinerlei Ordnung hatten. Zurück blieb nur Schuld, die wie ein glühender Brocken Gestein unauslöschlich inmitten ihres Herzens saß.
»Miwa?«, fragte sie.
»Ja?«
»Glaubst du wirklich, dass ich es nur ihretwegen tue?«
»Nicht nur.«, sagte Miwa. »Aber du quälst dich ihretwegen, seit ich dich kenne.«
»Ich habe sie einfach zurückgelassen.«, sagte Nyx und konnte nicht verhindern, dass sich ihre Augenwinkel mit Tränen füllten. »Sie war meine Freundin, meine einzige und ich habe sie ihnen einfach überlassen.«
»Wärst du geblieben, hätten sie dich auch geschnappt.«
»Aber dann wäre ich bei ihr gewesen.«, sagte Nyx und versuchte mit aller Kraft Tränen und Trauer zu unterdrücken, die sie wieder zu überwältigen drohten. »Ich könnte jetzt noch bei ihr sein und sie beschützen.«
Miwa umfasste ihr Gesicht mit ihren warmen Händen.
»Du darfst dir nicht selbst die Schuld geben.«, sagte Miwa. »Jetzt bist du frei und kannst ihr sicher besser helfen, als du es im Hort gekonnt hättest. Dort wärst du genauso eine Gefangene wie sie.«
»Aber ich habe keine Spuren mehr.«, entgegnete Nyx.
»Du bist die stärkste junge Frau, die ich kenne.«, sagte Miwa. »Du hast keine Angst dich mit Marlon anzulegen und du hast nie aufgegeben nach Betty und nach Antworten zu suchen, egal welche Risiken es bedeuten mochte. Du findest eine neue Spur, wie du es immer tust.«
Miwa machte eine kurze Pause und fügte dann hinzu: »Eines Tages wirst du deine Antworten bekommen, daran zweifle ich nicht eine Sekunde.«

9 – das Sanctum

City One – Atlantik

Devon erwachte in der bequemen Umarmung des pneumatischen Betts. Die Fensterscheiben waren verdunkelt, sodass das gesamte Schlafzimmer in ein tiefes, undurchdringliches Schwarz getaucht war.
Während die Erlebnisse der letzten Nacht noch deutlich in der Luft hingen, suchten seine Hände nach der Wärme einer Frau. Als Devon jedoch nur eine leere Decke ertastete, öffnete er die Augen. Lediglich die farbigen Einblendungen seiner visuellen Implantate, die wie leuchtende Objekte in seinem Blickfeld schwebten, hoben sich von der allgegenwärtigen Schwärze ab.
»Guten Morgen, Mister Reeves.«, begrüßte ihn die weibliche Stimme der KI. »Soll ich das Licht anmachen oder wünschen Sie liegen zu bleiben?«
Devon aktivierte mit einem einfachen Gedankenbefehl den Nachtsichtmodus seiner Augen und sah sich im Raum um. Es war noch immer ein seltsames Gefühl, von einer KI beobachtet zu werden. Sie musste irgendwie seine Körperfunktionen überwacht oder sein Gesicht analysiert haben, um feststellen zu können, dass er wach war.
»Licht bitte.«
Devon war überrascht, als er sich innerhalb eines Lidschlags zusammen mit der Einrichtung auf den roten Felsen des Grand Canyon wiederfand, von wo aus er einem malerisch schönen Sonnenaufgang beiwohnte. Die moderne Deckenbeleuchtung erfüllte den Raum mit dem warmen, rötlichen Licht der Sonne, als wäre er wirklich dort. Lächelnd genoss er den vorgetäuschten Anblick.
»Wann ist Misses Zhao gegangen?«
»Genauer Zeitpunkt fünf Uhr dreiunddreißig.«
Sie hatte sich also bereits vor zwei Stunden heimlich davongeschlichen.
»Hat sie eine Nachricht hinterlassen?«
»Nein, aber es ist eine andere Nachricht für Sie eingetroffen. Soll ich sie abspielen?«
»Ja.«, sagte Devon und verschränkte die Arme hinter dem Kopf, während er der aufgehenden Sonne entgegenblickte.
Die Stimme von General Cardoso erfüllte den Raum.
»Major, auf dem Landefeld des Hotels steht ein Gleiter bereit, der sie zurück bringen wird. Der Pilot wartet im Eingangsbereich auf Sie. Ich erwarte Ihre Ankunft um nullachthundert.«
»Ende der Nachricht.«, erklärte die KI. »Darf ich Ihnen ein Frühstück auf Ihr Zimmer bringen lassen?«
Devon sah auf die Uhr. Es war eine halbe Stunde vor acht Uhr. Dennoch beschloss er spontan, dass ein ausgiebiges Frühstück eine verdammt gute Idee wäre. Wenn er so wichtig für den Rat und seine Pläne war, würden sie auch ein paar Minuten länger auf ihn warten können.
»Klingt gut.«, sagte er zur KI.
»Was wünschen Sie zu speisen?«
»Irgendetwas, möglichst ungesund, überrasche mich.«, sagte Devon und winkte ab.
Er war verwundert, wie rasch der Mensch sich an etwas Künstliches gewöhnte, solange es nur menschliche Merkmale aufwies, selbst wenn es allein eine körperlose Stimme war. Er warf die Decke zur Seite und sprang aus dem Bett. Die Darstellung des Grand Canyon samt Sonnenuntergang verschwand blitzschnell. Die Wände wurden übergangslos weiß.
Devon brachte ein kurzes, aber intensives Morgentraining hinter sich und ging danach ins Badezimmer, wo er die Reste der letzten Nacht abwusch. Vor dem Spiegel betrachtete er einen Moment sein eigenes Erscheinungsbild.
Einen Millimeter hoch wuchs der Dreitagesbart auf seinen Wangen und endete an den Ausläufern seiner ausgeprägten Wangenknochen. Die Stoppeln setzten sich im restlichen Gesicht fort, umrahmten die schmalen, blassen Lippen und gingen hinter den Schläfen in sein etwas längeres Kopfhaar über. Die auf dunkelbraun eingestellten Augenimplantate sahen ihn emotionslos an, während er sich über die lange Narbe strich, die schräg über seine linke Braue verlief, das Auge durchschnitt und erst knapp unterhalb des Wangenknochens endete. Weitere kleine, unauffälligere Narben waren überall auf seiner linken Gesichtshälfte verteilt.
»Möchten Sie eine kostenlose Gesundheitsüberprüfung vornehmen?«, fragte die KI. »Ich kann sowohl eine rasche Blutanalyse als auch einen Scan Ihres gesamten Körpers anbieten.«
»Danke, mir geht es gut.«, sagte Devon.
»Wie Sie wünschen. Rasierer finden Sie im Spiegel zu Ihrer Rechten.«
Eine Weile musterte Devon sein kantiges Gesicht und den durchtrainierten Körper. Obwohl er sich nicht viel aus seinem Äußeren machte und unzählige Narben seine Haut zierten, war er zufrieden mit dem Anblick. Selbst die künstlichen Augen glichen seinen eigenen, musste er sich eingestehen.
Nach der Inspektion kehrte Devon in den Aufenthaltsbereich seiner Hotelsuite zurück. Kleine Reinigungsroboter, die den Boden wie Insekten besiedelten, verschwanden sofort in ihren Wandverstecken, als sie seine Anwesenheit registrierten.
»Ich habe mir erlaubt, Ihre Kleider reinigen und trocknen zu lassen.«, sagte Eva.
Devon lächelte kopfschüttelnd, als er seine Uniform fein säuberlich gefaltet auf der Couch liegen sah. Er dachte erst gar nicht darüber nach, wie sie dahin gekommen war. Als er näher trat, fand er einen Zettel auf seinen Sachen. Er nahm ihn zur Hand und entfaltete ihn.

Mister Reeves, vielen Dank für eine aufregende Nacht.
Ich hoffe, Sie akzeptieren Ihre Entscheidung jetzt.
Sie werden zweifellos das Richtige tun.
Vergessen Sie mich nicht.

Mei Zhao

Devon betrachtete den handgeschriebenen Zettel eine Weile und fragte sich, ob diese Frau nur ein weiteres, geschicktes Manöver gewesen war, um ihn zur richtigen Entscheidung zu bewegen.
»Eva, kannst du mir Informationen zu Mei Zhao geben?«, fragte er, während sein Blick den feinen Kurven der Handschrift folgte. Das Geschriebene wirkte beinahe wie gedruckt. Der Zettel roch sogar nach ihr.
»Einen Moment bitte, ich durchsuche den Frame.«
Sollte sich herausstellen, dass diese Frau nur ein miserabler Trick gewesen war, konnte der Rat seinen Helden von Johannesburg vergessen. Die Bildschirmwände veränderten sich und überschütteten Devon regelrecht mit Informationen und Bildern zu Mei Zhao sowie Neurosec.
»Misses Mei Zhao ist seit fünf Jahren CEO des Konzerns Neurosec.«, verkündete die KI. »Dieser hat sich auf die Produktion von Neuroimplantaten spezialisiert und beliefert unter anderem das Ratsheer.«
Devon trat näher an eine Wand heran, auf der Zhao in roter Businesskleidung abgebildet war. Es dauerte einen Moment, bis ihm klar wurde, dass er die Nacht wirklich mit der Chefin von Neurosec verbracht hatte.
»Misses Zhao gilt als Kopf der Firma und ist gleichzeitig das Gesicht von Neurosec. Sie ist dreiundvierzig Jahre alt und derzeit mit drei Männern verheiratet.«
»Genug, danke.«, sagte Devon.
Die Wände nahmen wieder ihre ursprüngliche Farbe an. Eva verstummte. Also war es kein Trick gewesen sondern nichts weiter als ein Zufall. Devon musste lächeln. Er war nun ein kleines Abenteuer auf der Liste einer sehr mächtigen und reichen Frau gewesen. Nachdem er sich angezogen hatte, nahm er ein herzhaftes Frühstück zu sich und verließ das Hotel zusammen mit dem wartenden Piloten.

Der Militärgleiter nahm dieses Mal einen anderen Weg. Devon konnte verfolgen, wie sich das Fluggerät auf eines von mehreren im Boden versenkten Schotts herabsenkte. Die Triebwerke ließen den Gleiter erzittern, als sich unter ihnen die Luke öffnete. Die Landebeine setzten auf einem gigantischen Aufzug auf. Als die Maschinen allmählich verstummten, schloss sich das Schott über ihnen und der Aufzug setzte sich in Bewegung.
»Wo sind wir hier?«, fragte Devon den Piloten.
»Im Sanctum.«, sagte der Mann mit einem Grinsen.
»Aha.«, machte Devon und verzichtete auf weitere Fragen.
Beim Militär wurden nicht selten einprägsame Namen verwendet, um Posten, Örtlichkeiten oder bestimmte Personen zu bezeichnen. Also wunderte er sich auch nicht über das Sanctum.
Nach ein paar Minuten hielt der Aufzug mit einem Ruck. Devon konnte einen beachtlichen Hangar sehen, in dem Reihen von Gleitern Platz fanden. Überall herrschte lebhafte Betriebsamkeit. Funken sprühten, Maschinenteile wurden transportiert und Piloten warteten auf ihre Fluggeräte. Cardoso lehnte in der Nähe des Aufzugs an einem Miniaturwagen. Er trug ein Datapad in der Hand und wirkte konzentriert. Devon verabschiedete sich von dem Piloten und stieg aus dem Gleiter. Erst jetzt sah der General auf. Sein Gesicht zeigte nicht, ob er über die Verspätung aufgebracht war. Devon schulterte seine alte Sporttasche und überwand die wenigen Meter bis zu dem kleinen Transportfahrzeug, in dem der große General etwas überdimensioniert wirkte.
Der Hangar war erfüllt von dröhnendem Arbeitslärm und den Geräuschen von startenden Motoren, was Cardoso zum Schreien zwang. »Major, willkommen im Allerheiligsten oder Sanctum, wie es die meisten hier nennen.«
Devon salutierte respektvoll, was der General erwiderte.
»Was mache ich hier?«, wollte Devon wissen. »Sollten wir nicht erst einmal über meine Entscheidung sprechen?«
Cardoso sah ihn amüsiert an.
»Und wie ist sie ausgefallen?«
»Sie ahnen es doch längst, sonst wäre ich vermutlich kaum hier.«
»Ich hatte es zumindest gehofft, andernfalls wäre das hier jetzt ein wenig peinlich für mich geworden.«
Cardoso klopfte Devon wieder freundschaftlich auf die Schulter und wirkte richtiggehend erleichtert.
»Es freut mich, dass Sie sich für das Ghostprogramm entschieden haben. Sie werden es nicht bereuen.«
»Hoffentlich.«, murmelte Devon.
»Ich verspreche Ihnen, ich werde zu verhindern wissen, dass man Sie zu einem reinen Aushängeschild macht.«, verkündete Cardoso selbstbewusst. »Keine Sorge. Aber jetzt sollten wir von hier verschwinden, ich habe keine Lust noch länger zu schreien.«
Devon nickte und stieg in den kleinen Wagen. Der General lenkte ihn durch den Hangar, wich anderen Transportfahrzeugen, Mechs und Arbeitern aus. Einer der Gleiter startete gerade, schwebte die Landebahn entlang und verschwand mit einem lauten Fauchen durch ein offenes Schott, das den Blick auf das Meer freigab. Sie verließen die Halle und nahmen einen Lift, bis sie zu einem Stockwerk voller Büros kamen. Auch hier war eine Vielzahl an Uniformierten unterwegs.
»Willkommen in der Zentrale unseres militärischen Nachrichtendienstes.«, sagte der General. »Von hier aus überwachen wir die gesamte Welt.«
»Klingt beängstigend.«
»Ist es auch.«, bestätigte Cardoso. »Wir verfolgen das Geschehen rund um den Globus und analysieren die Lage. Wird eine wichtige Person ermordet, gibt es Krisenherde oder verstoßen Staaten gegen die Resolutionen, wir erfahren davon. Alle Informationen laufen hier zusammen.«
»Die Ghosts bekommen also von hier ihre Befehle?«, fragte Devon.
»Nur wenn es welche vom Rat gibt.«, erklärte Cardoso. »Ansonsten wählen die Ghosts selbst, was sie für wichtig halten. Der Nachrichtendienst spricht nur Empfehlungen aus und bereitet die Daten auf. Die Ghosts können schließlich nicht den gesamten Überblick behalten, sondern müssen sich auf ihre Einsätze konzentrieren.«
Cardoso führte Devon durch weiße Gänge, vorbei an unbekannten Gesichtern, die respektvoll salutierten, wenn sie dem General begegneten. Ihre Reise endete in einem Büro. Die Tür reagierte auf den ID-Code von Cardoso und öffnete sich automatisch, kaum dass sie angekommen waren. Die Lichter gingen sofort an, als sie eintraten. Mit einem leisen Seufzen schloss sich die Tür wieder und verriegelte sich mit einem lauten Klack.
Das Büro war großzügig und modern eingerichtet. Die Wände verwandelten sich in riesige Infosysteme mit interaktiven Darstellungen, Daten und Bildern.
»Willkommen, General Cardoso und willkommen, Major Reeves.«, begrüßte sie eine synthetische Frauenstimme. »Wollen Sie einen Überblick haben, General?«
»Danke, Vim. Ich möchte bis auf Widerruf nicht gestört werden.«
»Natürlich, General.«
»Eine KI?«, fragte Devon.
Cardoso nickte.
»So ist es.«, sagte er und schien wenig glücklich darüber zu sein. »Scheint der neueste Trend zu sein. Macht mir aber irgendwie Angst. Wenn eine Maschine in manchen Bereichen klüger ist als ich, bereitet mir das ernsthafte Kopfschmerzen.«
Devon musste lächeln.
»Mir sind menschliche Adjutanten noch immer um einiges sympathischer als die magische Stimme aus dem Computer.«, sagte Cardoso und machte ein gequältes Gesicht. »Ich bin da ein wenig altmodisch.«
»Kann ich verstehen.«, sagte Devon und dachte an seine Angewohnheit, Ausrüstungsgegenstände und Waffen stets selbst noch einmal zu überprüfen, anstatt sich auf die übermittelten Daten zu verlassen.
Er sah sich um, hatte aber Mühe die chaotischen Informationen überall an den Wänden zu einem sinnvollen Gesamtbild zusammenzufügen. Cardoso winkte ab, nachdem er seinem Blick gefolgt war.
»Verschwenden Sie keinen Gedanken daran. Ich habe im Moment viel zu tun.«, sagte er und deutete auf einen der freien Stühle. »Setzen Sie sich.«
Devon nahm in einem bequemen Lederstuhl Platz, während Cardoso in einem Fach seines Schreibtischs nach etwas kramte. Gleich darauf stellte er zwei Gläser und eine Flasche auf den Tisch.
»Echter, originaler Whiskey aus den guten alten Zeiten, kein Synthetikzeug.«, sagte er und betrachtete die halbleere Flasche mit Ehrfurcht. »Sie mögen doch Whiskey oder?«
Devon nickte, obwohl ihm ein Bier lieber gewesen wäre. Respektvoll und mit Maß goss der General den Alkohol in die Gläser und reichte seinem Gast anschließend eines davon.
»Auf einen neuen Ghost und hoffentlich bessere Zeiten für das Heer.«
Die Gläser erklangen, als sie sich zuprosteten. Cardoso schwenkte seinen Drink und roch daran, ehe er einen behutsamen Schluck nahm. Devon leerte sein Glas mit etwas weniger Respekt als der General. Er hätte den Unterschied zwischen diesem Whiskey und einem beliebigen anderen ohnehin nicht geschmeckt.
»Ich bin ehrlich froh, dass Sie sich für das Programm entschieden haben.«, gestand Cardoso.
»Solange ich nicht nur eine Marionette bin, die bei irgendwelchen Shows auftreten muss, werde ich mein Bestes geben.«, versprach Devon.
»Keine Sorge, Major.«, beruhigte ihn Cardoso. »Wie versprochen werde ich mich persönlich darum kümmern. Ihre Taten sollen für Sie sprechen, nicht leere Worte. Es wird sowieso viel zu viel gesprochen, wenn Sie mich fragen. Außerdem wurde bereits ein passendes Image für Sie gewählt.«
Devon wurde allmählich klar, welche Rolle er in dem globalen Spiel des Rats einnehmen sollte. Obwohl sie sich seiner Entscheidung nicht sicher gewesen sein konnten, hatten diese Leute längst alles vorbereitet. Er fragte sich nur, was geschehen wäre, wenn er sich doch anders entschieden hätte. Hätte man ihn wirklich gewähren lassen und anstatt seiner Lieutenant Sethi eingesetzt? Ob er ihr den Vortritt hätte lassen sollen?
»Und wie sieht dieses Image aus?«, wollte Devon wissen.
Cardoso lächelte aufmunternd.
»Keine Sorge, es passt zu Ihnen, nichts ist erlogen.«, versicherte er ihm. »Sie werden der geheimnisvolle, stille Held sein, der keinerlei Interviews oder Auftritte gibt. Ein loyaler Mann, der keine große Sache aus seinen Taten und seinen Fähigkeiten macht, sondern nur für die Sache kämpft.«
Devon war erleichtert. Öffentliche Auftritte lagen ihm überhaupt nicht. Er hätte sich wahrscheinlich nur blamiert. Schon größere Ansprachen vor seiner gesamten Truppe hatte er immer tunlichst vermieden.
»Ich konnte den Rat von dieser Vorgehensweise überzeugen.«, erklärte Cardoso und bewegte den Kopf dann hin und her. »Mit ein wenig Hilfe des Imageteams. Die waren auch der Ansicht, alles andere wäre zu aufgebauscht und vor allem unpassend für Sie. In einer informationsverseuchten Zeit wie unserer hätte man allzu rasch die Wahrheit ausgegraben und Ihren Mythos zerfetzt.«
»Schön zu hören.«, sagte Devon. »Also nehme ich an, dass ich die Tests bestanden habe.«
Cardoso machte eine abfällige Geste.
»Natürlich, wie erwartet.«, sagte er knapp. »Verschwenden Sie keinen Gedanken daran. Das liegt bereits hinter Ihnen.«
»Und wie geht es jetzt weiter?«
Cardoso drehte seinen Lederstuhl immer ein paar Grad hin und her, wobei er Devon in die Augen sah, als würde er angestrengt nachdenken.
»Normalerweise käme nun eine offizielle Ernennung durch den Rat. Sie müssten Ihre Treue schwören und dass Sie Ihre Macht nur in den Dienst der Welt stellen, und so weiter und so weiter. Der ganze bürokratische Schwachsinn. Dann käme eine mehrmonatige Phase, in der man Sie in alles einführt und die Auswahl eines Teams. Erst danach würde man Sie in die weite Welt entlassen.«
»Klingt so, als würde das alles nicht für mich gelten.«
»Da haben Sie unglücklicherweise Recht, Major.«, bestätigte Cardoso seine Vermutung und kratzte sich an seinem Bart. »Leider findet Ihr erster Auftrag bereits in zwei Tagen statt, weswegen wir das alles verschieben müssen.«
Deswegen hatte man ihn also so eilig zu einer Entscheidung gedrängt.
»Was ist denn so dringend, dass es kein anderer Ghost übernehmen kann?«, wollte Devon wissen.
»Sie kennen doch bestimmt Nathaniel Hawk.«
»Nathaniel Hawk, der Alleininhaber von Hawk Industries?«, gab Devon zurück. »Natürlich kenne ich ihn, sein Vater und er sind Legenden.«
»Genau so ist es.«, sagte Cardoso und nickte. »Er lebt, genauso wie sein Vater vor ihm, extrem zurückgezogen in einer seiner Weltraumstationen. Wenn man einmal etwas von ihm zu Gesicht bekommt, dann maximal eine Aufzeichnung im Frame. Doch vor einer Woche hat er sich spontan entschlossen, die Erde zu besuchen, um in London einen Vortrag zur Lage der Welt zu halten.«
»Einfach so?«, fragte Devon.
»Offensichtlich.«, Cardoso zuckte nur mit den Schultern. »Obwohl der Rat schon seit langem versucht, ihn als öffentlichen Redner zu gewinnen, hat er sich immer geweigert. Scheinbar hat er jetzt seine Meinung geändert, vermutlich aufgrund der aktuellen Entwicklungen. Immerhin gilt er als einer der größten Wohltäter der Welt, der sich stets für die Belange der Poors einsetzt.«
Devon ahnte bereits, dass ihm der Zusammenhang zwischen dem öffentlichen Auftritt von Hawk und seiner neuen Funktion als Ghost nicht gefallen würde.
»Wenn eine so außergewöhnliche Persönlichkeit wie Hawk einmal unter Sterblichen wandelt, darf nichts schief gehen. Und genau da kommen Sie ins Spiel.«
»Soll ich zusammen mit ihm auftreten?«
»Keine Sorge.«, lachte Cardoso, als er den sorgenvollen Blick von Devon erkannte. »Sie als Ghost und Ihr Team sind nur für seine persönliche Sicherheit zuständig.«
Devon fiel ein Stein vom Herzen. Lieber hätte er sich einem bewaffneten Trupp als einem riesigen Publikum gestellt.
»Es ist der perfekte Zeitpunkt.«, erklärte Cardoso. »Wenn Hawk auftritt, sieht alle Welt zu und man wird auch Sie sehen, den Helden von Johannesburg. Still und mit starker Präsenz.«
Devon hasste diesen neuen Titel, aber er würde sich wohl gezwungenermaßen an ihn gewöhnen müssen.
»Keine Angst, Major. Das ist alles nur ein Imageschritt, die Ratssicherheit wird sich persönlich um die Sicherheit bemühen. Sie haben im Prinzip nichts weiter zu tun außer präsent zu sein.«
»Ich verstehe.«
»Diese Art von Aufträgen wird sich nicht oft wiederholen, versprochen.«, wiederholte der General seine Zusicherung noch einmal. »Aber es ist einfach die ideale Möglichkeit, Sie schnell und effektiv in der öffentlichen Wahrnehmung zu verankern. Der Rat wird auch versuchen, Hawk zu überreden, beiläufig ein Wort über Sie fallen zu lassen.«
»Solange ich keinen Tanz auf der Bühne aufführen muss.«, sagte Devon ironisch.
Der General überhörte die Bemerkung und erhob sich.
»Nachdem das besprochen wäre, werde ich Ihnen Ihr vorläufiges Team vorstellen und einen kurzen Überblick über alles geben. Folgen Sie mir bitte.«

Cardoso begleitete Devon durch die Büros des Sanctums und führte ihn anschließend zu einem Aufenthaltsraum, wo bereits drei Personen auf sie warteten. Devon war überrascht, als er neben zwei unbekannten Männern auch Sethi vorfand.
»Lieutenant.«, sagte er verwundert und lächelte, als er sie wieder wohlauf sah.
»Major.« Sie salutierte, doch ihr Blick war hinter der eisenharten Maske ihrer Schönheit starr und kalt. Für einen Moment glaubte Devon sogar, ein Aufflackern von Hass in ihren Augen zu erkennen.
»Ich wollte mit der Überraschung bis zum Schluss warten.«, sagte Cardoso, der die Situation sichtlich genoss. »Lieutenant Sethi wird Teil Ihres Teams sein.«
Devon kam nicht zu einer Antwort, da zeigte der General bereits auf einen der beiden Männer. Er war asiatischer Abstammung und trug die typische Uniform eines Piloten.
»Ich darf Ihnen Ihren persönlichen Gleiterpiloten vorstellen, Flight Sergeant Bao Fang.«
»Sir.«, sagte der Mann und salutierte stramm.
Devon salutierte ebenfalls und nickte dann.
»Er wurde ausgebildet, einen der modernsten Gleiter zu steuern, den das Heer zu bieten hat. Aber dazu später.«
Cardoso stoppte vor dem letzten Mitglied seines zukünftigen Teams und runzelte verwirrt die Stirn.
»Und Sie sind …?«
»Dan Holt, Ihr neuer Techspec.«, sagte der junge Mann mit lässiger, beinahe respektloser Körperhaltung. Er trug keine militärische Uniform und machte auch sonst nicht den Eindruck, dem Militär anzugehören.
»Ach ja, der Ersatz für Marquez.«, sagte Cardoso zu sich selbst.
»Korrekt, General.«, entgegnete der Spezialist und spielte mit einer der schwarzen Haarspitzen, die von seinem Kopf in alle Richtungen abstanden.
»Dan Holt ist Experte für Computer- und Sicherheitssysteme.«, erklärte Cardoso. »Manche würden ihn auch als Hacker bezeichnen.«
»Das ist so ein negativ besetztes Wort.«, warf Holt ein. »Ich sehe mich mehr als Systemvirtuosen.«
»Wie dem auch sei.«, sagte der General, »Da unser letzter Techspec leider kürzlich bei einem Unfall ums Leben gekommen ist, mussten wir einen adäquaten Ersatz finden. Eigentlich hat das Heer sehr fähige Mitarbeiter mit Erfahrung im Einsatz und auch in unserem Cyberwar-Ausbildungsprogramm gäbe es jede Menge potentielle Kandidaten.«
Cardoso richtete seinen Blick auf Holt.
»Doch dieser junge Mann hier ist ein Ausnahmetalent. Er wurde erst vor einer Woche in das Cyberwar-Ausbildungsprogramm aufgenommen. Als er bereits nach drei Tagen die Systeme des Sanctums lahmgelegt und nebenbei auch noch den finalen Abschlusstest für Cyberwar-Rekruten erfolgreich bestanden hat, war die Entscheidung gefallen.«
Holt zuckte mit den Schultern und machte ein unschuldiges Gesicht.
»Hey, ich wollte nur auf die offensichtlichen Sicherheitsmängel hinweisen. Nicht mein Fehler, dass Ihre Jungs so grässlich unkreativ sind.«, sagte Holt selbstbewusst und zwinkerte Devon zu. »Machen alle nur das, was man ihnen beigebracht hat, immer streng nach Vorschrift. Hab bei einem der Admins einen Sniffer eingeschleust, der mir freundlicherweise seine Zugangsdaten zur Verfügung gestellt hat. Als nächstes musste ich nur noch die Specs der Defensive-KI’s auslesen, um eine Logicbomb in den Code einzuschleusen. Der hat dann einen Loop in den KI-Systemen erzeugt. Die Firewalls waren danach bloß noch eine Fingerübung. Und der Test war übrigens lächerlich.«
Cardoso musterte den Hacker eine Weile mit einer einzelnen hochgezogenen Augenbraue und seufzte schließlich. Auch Devon hatte nur die Füllwörter verstanden.
»Aus den genannten Gründen hat man entschieden, dass seine Fähigkeiten sinnvoll eingesetzt werden sollten. Kurz gesagt ist Mister Holt ab sofort Ihr Techspecialist.«, sagte Cardoso und sein Ton wurde strenger. »Das bedeutet gleichzeitig, dass er noch nicht richtig mit den militärischen Gepflogenheiten vertraut ist, wie man ganz offensichtlich sehen kann. Sie dürfen Ihm gerne ein paar Manieren beibringen, Major.«
Anstatt zu salutieren, reichte Holt Devon die Hand. Als erste erzieherische Maßnahme lernte der Techspezialist den kräftigen Griff seines neuen Vorgesetzten kennen.
»Eiserner Griff, Mann.«, sagte er und verzog schmerzverzerrt das Gesicht.
»Vielleicht sollten Sie in Zukunft besser salutieren.«, antwortete Devon.
»Alles klar, werd’s mir merken.«, gab Holt zurück und rieb sich die Hand. »Endlich lernen wir uns kennen. Hab schon von Ihrer Heldentat gehört. Nennen Sie mich einfach Rush.«
»Nennen Sie mich Major.«, entgegnete Devon.
»General.«, sagte Sethi plötzlich und wandte sich an Cardoso. »Wenn ich noch einmal auf meine Bitte hinweisen dürfte.«
Devon konnte verfolgen, wie sich Unmut im gesamten Gesicht von Cardoso ausbreitete, ehe er antwortete.
»Lieutenant, das haben wir doch bereits mehrfach besprochen. Die Entscheidung ist gefallen.«
Sethi versuchte die Emotionen aus ihren Zügen zu verbannen, doch es war ihr deutlich anzusehen, dass sie wütend und enttäuscht war. Devon fragte sich, ob auch sie eine Wahl gehabt hatte, bezweifelte es aber.
»Verstanden, General.«, sagte sie resigniert.
»Gut, nachdem auch das geklärt wäre, machen wir jetzt einen Rundgang.«

Im Verlauf ihres Rundgangs durch das Sanctum erklärte Cardoso ihnen alles.
»Als Ghost haben Sie natürlich mehr Rechte als der Rest des Heers.«, sagte er.
Während Holt interessiert jedes Detail in sich aufsog, schwieg Sethi in stillem Zorn. Flight Sergeant Bao Fang wirkte unterdessen professionell und erfahren. Er kannte die Zentrale des Ratsheers bereits.
»Es wird Ihnen Zugang zu allen Datenbanken gewährt.«, fuhr Carodos fort. »Im Gegensatz zur Polizei benötigen Sie keine gerichtliche Anordnung, um das ID-Profil eines Bürgers einzusehen.«
»Krass, ich kann meine Exfreundinnen abchecken.«, staunte der junge Techspezialist. Seine Augen blitzten zwischen den Strähnen seiner Haare hindurch, die Hände in seinen Hosentaschen verstaut. Er stieß Devon in die Seite und grinste ungeniert. »Als ob ich das nicht ohnehin schon getan hätte.«
»Holt, reißen Sie sich zusammen!«, schnaubte Cardoso. »Diese Informationen sind nur für Einsätze vorgesehen, nicht für Ihre persönliche Belustigung. Außerdem sollten Sie sich langsam Ihrer neuen Position bewusst werden. Womöglich wäre es für Ihre Zukunft hier klug, ihre illegalen Tätigkeiten auf ein Minimum zu beschränken.«
»Sorry, General.«, sagte Rush und grinste Devon aufgeregt an.
Sie hielten in einer riesigen Zentrale. Unzählige Bildschirme und Hologramme dominierten den Raum. Mitarbeiter machten Eingaben in ihre Konsolen oder kommunizierten mit Agenten auf der ganzen Welt.
»Nur kurz: Das hier ist das Herz des Sanctums.«, erklärte Cardoso. »Nach dem öffentlichen Auftritt von Hawk werden Sie noch genügend Zeit haben, hier alles kennen zu lernen.«
Sie verließen die Zentrale wieder und fuhren mit einem Aufzug noch tiefer in das Sanctum. Der General führte sie durch eine medizinisch-technische Abteilung.
»Hier werden die kybernetischen Implantate unserer Agenten und Mitarbeiter eingesetzt, gewartet und ausgetauscht.«, erklärte Cardoso, während sie sich zwischen hellen Aufenthaltsräumen bewegten.
»Lieutenant, wie geht es Ihnen mit der Prothese?«, fragte Devon.
»Sie ist ein angemessener Ersatz meiner echten Hand, Major.«, erwiderte Sethi kalt, ohne Devon eines Blickes zu würdigen.
Er spürte deutlich ihre Feindseligkeit und konnte sich ausmalen, woran es lag. Während sie offenbar bereits mehrfach versucht hatte, in das Ghostprogramm aufgenommen zu werden, machte man Devon zu einem, ohne dass er je darum gebeten hätte. Zu allem Überfluss musste sie jetzt auch noch für ihn arbeiten. Er wusste um ihren Stolz und diese Situation dürfte für sie den Gipfel der Erniedrigung darstellen. Devon entschied, vorerst nicht darüber nachzudenken. Ihre Differenzen konnten sie später besprechen.
»Wie Sie alle wissen werden, wurde mit Ratsbeschluss aus dem Jahre 2063 die Regulierung von kybernetischen Prothesen als Waffen eingeführt.«
»Natürlich, General.«, sagte Sethi sofort. »Eine kybernetische Prothese darf die in dem Beschluss vorgegeben, maximalen Leistungswerte nicht überschreiten und keine versteckten Funktionen beinhalten, die als Waffen missbraucht werden könnten. Waffenprothesen sind ausnahmslos verboten.«
»So ist es, Lieutenant.«, bestätigte Cardoso.
Sie wichen einem Arbeiter aus, der eine Ladung verpackte, künstliche Körperteile auf einem Wagen transportierte. Sie sahen aus wie Ersatzteile für lebensgroße Puppen.
»Diese Einschränkung gilt allerdings nicht für Ghosts.«, sagte der General und machte vor einer Scheibe halt.
Devon erkannte dahinter einen weißen Saal, der wie eine Verbindung aus Chirurgie und Techniklabor wirkte. Es dominierte ein Bettgestell mit vielen Manschetten und Klammern. Über dem Bett hingen Roboterarme von der Decke, an deren Enden Werkzeugköpfe angebracht waren. Daneben befanden sich unzählige Tische und Geräte, deren Funktion Devon nur erahnen konnte. Trotz der Reinheit und der vorherrschenden weißen Farbe hatte die Techchirurgie etwas von einer High-Tech-Folterkammer. Cardoso deutete durch die Scheibe in den Raum.
»Wie bei jeder modernen Technologie wird natürlich auch mit der Kybernetik Missbrauch betrieben.«, sagte er und sah dann Devon an. »Sie haben es am eigenen Leib erfahren.«
Devon nickte wissend und dachte an den Hünen, den Sethi und er nur mit viel Mühe zur Strecke bringen hatten können.
»Implantate sind inzwischen integraler Bestandteil unserer Zivilisation geworden.«, fuhr Cardoso fort. »Der Markt wächst und wächst und ist kaum noch zu überblicken. Die Zahl der Implantatdiebstähle steigt jedes Jahr und die Verbrechen gegen das Kybernetikgesetz nehmen auch rasant zu. In einer Welt, wo die Kybernetik nur allzu gern als Waffe eingesetzt wird, können wir von einem Ghost nicht verlangen, dem Feind wehrlos gegenüberzutreten. Zu viele verwenden aufgemotzte Cyberimplantate oder tragen illegale Militärhardware.«
»Nach euch.«, sagte Rush und tippte sich gegen die Schläfe. »Mir reicht das Ding in meinem Kopf.«
»Das gilt auch nur für den Ghost selbst und nicht für sein gesamtes Team.«, stellte Cardoso sofort richtig und bedachte Rush mit einem zurechtweisenden Blick. »Das sollte übrigens keine Aufforderung sein, Major. Ich wollte damit nur sagen, dass es Ihnen frei steht, sich verbessern zu lassen. Wir verfügen hier über die modernsten Implantate der Welt.«
Der General machte eine Pause und sein Blick schien ins Leere abzudriften.
»Früher zählten Erfahrung und Kampfgeschick.«, sagte er mit veränderter Stimme und starrte auf das Bett in dem hell erleuchteten Saal. »Heute scheint es nur noch um Technologie zu gehen.«
»Nutzen viele Ghosts dieses Angebot?«, fragte Devon und folgte misstrauisch dem Blick des dunkelhäutigen Generals zur Techchirurgie.
»Einige.«, antwortete Cardoso. »Aber nicht alle. Das hängt größtenteils mit dem Spezialgebiet des jeweiligen Agenten zusammen. Überlegen Sie es sich also gut, bevor Sie diese Entscheidung treffen.«
Devon besaß bereits drei Implantate, zwei davon ersetzten gleichzeitig zwei seiner wichtigsten Sinnesorgane. Er wusste um ihre Effektivität in Einsätzen und wollte sie nicht mehr missen. Sie konnten ihm einen entscheidenden Vorteil verschaffen, aber er empfand sie trotz allem als Fremdkörper. Auch wenn die Technologie sehr weit fortgeschritten war und ihm ein beinahe normales Körperempfinden ermöglichte, blieben es doch Geräte, die ständig gewartet werden mussten. Sein Körper jedoch regenerierte sich selbst mit ein bisschen Unterstützung. Devon konnte sich momentan nicht vorstellen mehr von seiner Menschlichkeit zu opfern als unbedingt notwendig.
Der General setzte sich wieder in Bewegung und das Team folgte ihm.
»Um Sie aber nicht schutzlos gegen solche Gegner wie in Johannesburg dastehen zu lassen, bietet unsere Waffenkammer so einige Schmuckstücke.«
Als nächstes kamen sie in eine große Halle. An den Wänden waren unzählige Regale mit Waffen und Ausrüstungsgegenständen montiert. Konsolen und Hologramme ermöglichten eine schnelle Übersicht und Auswahl. Etwas weiter war ein Schießstand aufgebaut, an dem gerade mehrere Soldaten unterschiedliche Feuerwaffen testeten.
»Willkommen im Arsenal.«, sagte Cardoso. »Hier finden Sie alle nur vorstellbaren Waffen und jegliche Ausrüstung, die Sie in Ihren Einsätzen benötigen werden.«
Devon begutachtete die enorme Sammlung. Er war mit den meisten Waffentypen vertraut, kannte die vielfältigen Eigenarten der Fabrikate und wusste um ihre jeweiligen Vorzüge. Doch schon bald entdeckte er Varianten, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Es musste sich dabei um Spezialanfertigungen für Ghosts handeln.
»Mir sind einige der Waffen nicht bekannt.«, sprach Sethi die Gedanken von Devon aus.
Sie war mindestens so aufmerksam wie er – einer der Gründe, warum er sie damals in sein engeres Team aufgenommen hatte.
Cardoso lachte wissend.
»Die Ghosts sind unsere teuersten Aktivposten.«, sagte er. »Manche Ausrüstungsgegenstände sind Spezialanfertigungen und nur ihnen vorbehalten.«
»Kurz gesagt: Zu teuer für den einfachen Soldaten.«, sagte Rush, der gerade dabei war, sich an einem Waffenständer zu bedienen.
»Holt, hat Ihnen Ihre Mutter nicht beigebracht, sich zu benehmen?«, fauchte ihn der General an. »Ihre Waffen sind die Computer!«
Rush ließ von den Pistolen ab, hob die Hände und verschränkte sie demonstrativ hinter dem Kopf.
»Sorry, General.«
»Marquez war ein guter und vor allem disziplinierter Mann. Gott hab ihn selig.«, sagte Cardoso und warnte Rush mit seinen Augen. »Machen Sie ihm keine Schande, Holt, oder ich werde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, Sie in das nächste Gefängnis zu verfrachten. Und dort wird es keine Computer geben, die Sie hacken können.«
Rush spürte den forschenden Blick von Devon auf sich und zuckte unschuldig mit den Schultern. Devon entschied, dass es noch zu früh war, sich ein Bild von dem jungen Techspecialist zu machen. Er musste sich erst im Einsatz beweisen, um sein Verhalten würde er sich schon noch kümmern. Corporal Morales war auch stets sehr impulsiv gewesen und hatte gleichzeitig zu seinen zuverlässigsten Männern gehört, wenn es darauf ankam. Allerdings erwartete Devon ein Mindestmaß an Respekt.
»Falls Ausrüstungsteile fehlen oder Sie spezielle Wünsche haben, können Sie das dem Lagerverwalter mitteilen, er wird sich um alles kümmern.«, erklärte Cardoso.
Weiter vorne kramte eine schlanke Frau im Ausrüstungslager. Mit flinken Fingern schnappte sie sich einzelne Handfeuerwaffen, wog sie gewissenhaft und legte sie dann wieder zurück. Cardoso ging voraus und begrüßte sie.
»Ich darf Ihnen Major Klara Jovic vorstellen, seit zwei Jahren ebenfalls Ghostagent.«
Devon, Sethi und Fang salutierten, während Rush nur kurz die Hand zum Gruß hob. Der General zeigte auf Devon.
»Das ist Major Devon Reeves, er wird in Zukunft Ihre Reihen verstärken.«
»Freut mich.«, sagte Jovic mit einem Akzent, der für Devon Russisch klang. »Sie sind der Held von Johannesburg, nicht wahr?«
»Scheint so.«, sagte Devon.
»Major Jovic gehört zu unseren besten Spionen.«, warf Cardoso ein und wirkte stolz, als hätte er sie persönlich ausgebildet. »Sie ist wahrlich ein Geist. Nehmen Sie sich in Acht vor ihr. Sie mag nicht so aussehen, aber sie ist brandgefährlich.«
Jovic war nicht besonders groß und ihr Körper machte unter dem engen Kampfanzug auch keinen sonderlich kräftigen Eindruck. Auf den ersten Blick konnte man sie durchaus unterschätzen. Doch Devon zweifelte nicht an den Worten des Generals. In einer Zeit von kybernetischen Implantaten waren Äußerlichkeiten kaum noch relevant.
Die Agentin verzog ihre schmalen Lippen mit einem gefährlichen Lächeln.
»Ja, das bin ich.«, sagte sie. »Also sparen Sie sich etwaige Kommentare. Sie würden es bereuen.«
»Würde ich mir nie erlauben.«, entgegnete Devon.
Sie salutierte noch einmal.
»Willkommen bei den Ghosts.«, sagte sie. »Entschuldigen Sie mich, ich muss mich auf eine Mission vorbereiten. Dieser Crow macht uns zu schaffen.«
Sie ging wieder an die Arbeit und überprüfte die nächsten Waffen auf ihre Handlichkeit. Cardoso marschierte neuerlich voraus und stellte sie dem Lagerverwalter vor, einem unauffälligen, aber sehr gewissenhaften Mann. Als sie ins Lager zurückkehrten, war Jovic bereits verschwunden. Dafür löste sich einer der Soldaten am Schießstand von seinen Zielübungen, ließ ein schweres Sturmgewehr Marke Faressa liegen und steuerte ohne Umweg das frische Ghostteam an.
Der Mann trug die dunkelgrauen Prothesen seiner beiden Arme wie Abzeichen stolz zur Schau. Sein Oberkörper war mit einem dicken, schwarzen Körperpanzer bedeckt, als wäre er gerade von einem Einsatz gekommen. Mit stählernen Schritten und einem ebensolchen Blick stapfte er auf Devon zu.
Als Devon auf ihn aufmerksam wurde, machte er Halt und erwiderte den Blick ruhig. Der Mann war nur wenig größer als er selbst, wirkte durch die Prothesen aber um einiges kräftiger. Der dichte Bart in seinem Gesicht stand in deutlichem Kontrast zu seinem kahl rasierten Kopf, der mit einer Fülle an Tätowierungen verziert war. Der Soldat baute sich kaum einen Meter entfernt vor Devon auf und musterte ihn verächtlich.
»Das also ist der große Held von Johannesburg.«, stellte er mit einer künstlich verstärkten Stimme fest, die wohl der Einschüchterung dienen sollte.
Devon ließ die offensichtliche Abscheu des Mannes an sich abprallen. »Sollte ich Sie kennen?«, fragte er gelassen. »Nein, aber du wirst mich kennen lernen.«, brummte der Mann.
»Das ist Ghost Agent Einar Tveit.«, erklärte Cardoso und sein Blick war plötzlich sehr angespannt. »Ein weiterer Kamerad von Ihnen.«
»Pah, Kamerad.«, grunzte Tveit und legte seine ganze Verachtung in die Worte.
»Kann ich etwas für Sie tun, Ghost Agent Einar Tveit?«, fragte Devon und spürte die Feindseligkeit im kalten Blick seines Gegenübers.
»Ja, du kannst verschwinden!«
Devon verzichtete auf eine Antwort, machte aber auch keine Anstalten dem Mann aus dem Weg zu gehen. Geduldig wartete er auf die weitere Reaktion des Ghosts.
»Agent Tveit!«, ging der General dazwischen. »Was ist Ihr Problem?«
»Das Problem ist Ihre kleine Marionette hier.«, ätzte Tveit und stieß Devon mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand an. Die Kraft der Prothese hätte Devon beinahe seinen stabilen Stand gekostet, doch er fing sich schnell wieder. Ein bösartiges Grinsen huschte über die Lippen des Ghosts.
»Jemand wie du hätte die richtigen Tests niemals überstanden.«, sagte er. »Du bist doch nicht mehr als eine Attraktion für die Öffentlichkeit, ein Spielzeug für den Rat.«
»Agent Tveit, reißen Sie sich zusammen!«, befahl der General und näherte sich den beiden von der Seite, um sich im Notfall zwischen sie stellen zu können.
Tveit ließ sich von den Rangabzeichen allerdings nicht einschüchtern und drehte nur ein wenig den Kopf, ohne seine Position zu verändern. Das kalte Licht der Deckenbeleuchtung spiegelte sich als winzige Punkte in den vollkommen schwarzen Cyberaugen wider, was dem Mann etwas Animalisches verlieh.
»Ich nehme keine Befehle von Ihnen entgegen, First General Cardoso. Ich stehe außerhalb Ihrer Rangordnung!«, sagte er und konzentrierte sich wieder auf Devon. »Um ein Ghost zu sein, muss man alles opfern und sich erst einmal beweisen. Dein Erfolg in Johannesburg und dieser lächerliche Abklatsch von einem Test machen dich noch lange nicht zu einem von uns! Du bist so kläglich wie der Rest deines Teams.«
»Agent Tveit, es reicht!«, schrie Cardoso. »Der Rat wird von Ihrer Respektlosigkeit erfahren.«
Der Ghost machte eine verächtliche Bewegung mit seinem kybernetischen Arm und schob Devon einfach beiseite.
»Machen Sie was Sie wollen, General, aber dieser Trupp ist ein einziger Witz und Ihr Held eine Beleidigung für das gesamte Ghostprogramm!«
Tveit stapfte aus der Waffenkammer und verschwand.
»Krasser Auftritt.«, stellte Rush mit hochgezogenen Augenbrauen fest.
Flight Sergeant Bao Fang schüttelte nur den Kopf, behielt seine Meinung aber für sich. Sethi hingegen wirkte ein wenig schadenfroh.
Cardoso kam an Devon heran und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Eine Geste, die er offenbar gerne einsetzte. Jungen Rekruten mochte es ein Gefühl von Verbundenheit vermitteln, für Devon war es allerdings seltsam. Er konnte die Geste noch nicht richtig einschätzen.
»Hören Sie einfach nicht auf den Mann.«, sagte der General und es war offensichtlich, dass ihm die Situation unangenehm war. »Tveit war schon immer … schwierig.«
Devon war viel zu lange Soldat, um sich von einer verbalen Attacke unterkriegen zu lassen. Diese Typen kannte er nur zu gut von seiner Anfangszeit bei Blackhammer. Allerdings interessierte ihn, was hinter dem offen Hass von Tveit steckte.
»Was meinte er mit lächerlichem Abklatsch von einem Test?«, fragte Devon.
Cardoso war überrascht und seufzte. »Die üblichen Aufnahmeverfahren für das Ghostprogramm laufen üblicherweise etwas anders ab.«
»Und zwar wie?«
»Ist das denn wichtig?«, fragte der General.
»Für mich ja.«, gab Devon zurück.
»Die Tests, die Sie durchlaufen haben, stellen im Prinzip nur die Vorauswahl dar.«, erklärte Cardoso. »Wem hier bestimmte Faktoren fehlen, kommt gar nicht erst in Frage.«
Neben Devon zuckte Sethi kaum merklich zusammen.
»Und was passiert dann?«, fragte Devon.
»Ein zweiwöchiges Testprogramm, in dem die restlichen Ghostanwärter gegeneinander antreten, körperlich wie geistig. Zwei intensive Wochen in denen ihnen alles abverlangt wird, ohne große Ruhepausen.«
Devon hatte längst geahnt, dass etwas an der Art und Weise seiner Rekrutierung faul gewesen war. Kein Wunder, dass man ihn jetzt nicht für voll nahm. Er begann bereits seine Entscheidung zu bereuen.
»Am Ende bleiben jene drei Ghostanwärter übrig, die am besten abgeschnitten haben.«, fuhr Cardoso fort. »Diese müssen sich dann alleine einer heiklen Mission stellen. Zum Schluss wird einer von ihnen ausgewählt.«
»Weil man mich unbedingt als Ghost haben wollte, hat der Rat aber auf das alles verzichtet.«, stellte Devon tonlos fest.
»Das ist nicht fair.«, ging Sethi dazwischen.
»Ruhe, Lieutenant!«, befahl Cardoso mit einem ungeduldigen Seitenblick. »Ich will nichts mehr davon hören. Der Major hat sich in Johannesburg bewiesen und er besitzt alle Voraussetzungen für einen Ghost. Das Auswahlverfahren wurde nur etwas abgekürzt.«
»Das hat Lieutenant Sethi auch.«, warf Devon ein. »Und warum hat man sich nicht für einen der aktiven Ghosts als neues heldenhaftes Symbol entschieden? Es könnte doch bestimmt jeder von ihnen als Held dargestellt werden.«
»Nein, denn nur Sie sind als Ghost ein unbeschriebenes Blatt.«, sagte Cardoso. »Die anderen haben bereits zu oft eingreifen müssen und einiges davon könnte auf sie zurückfallen. Und jetzt will ich nichts mehr von dem Thema hören, verflucht noch eins. Die Entscheidung ist gefallen. Sie, Major und Ihr Team werden einen ausgezeichneten Job machen.«
Der General sah die Teammitglieder der Reihe nach an.
»Wenn wir dann bitte fortfahren könnten? Unsere Zeit ist beschränkt.«

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