Homo Novus
Cyberpunk-Roman
(2019)
„Ein gelungenes Finale der Serie! Sozusagen der große Showdown. Eigentlich muss man nicht viel sagen, es geht im gewohnten hardboiled Cyberpunk Stil weiter.“ – Rezensent
Band Fünf von Terranis
4,4 von 5
Trotz größter Opfer können Devon und sein Team das Attentat auf die Friedensverhandlungen nicht verhindern. Nach dieser schrecklichen Niederlage finden sie sich verwundet und gebrochen in den Händen des unberechenbaren Rebellenführers Crow wieder.
Die Gefangenschaft wird für sie zur Zerreißprobe. Verzweifelt versucht Devon das Team zusammenzuhalten und Crow davon zu überzeugen, dass sie keine Agenten des Rates sind.
Unterdessen muss Nyx eine folgenschwere Entscheidung treffen, um zu verhindern, von der künstlichen Intelligenz in ihrem Kopf ausgelöscht zu werden.Gemeinsam gelingt es ihnen schließlich, die wahre Identität des Namenlosen zu enthüllen. Doch es läuft ihnen die Zeit davon, denn sein Plan befindet sich bereits in der finalen Phase.
Um ihn aufzuhalten, sind sie dazu gezwungen, weitaus mehr zu opfern als nur ihre Menschlichkeit …
Terranis - Der gesamte Zyklus
Leseproben
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Kapitel 1 (Gesamter Text)
1 – in den Krallen der Krähe
Istanbul – Türkei
Maskierte Männer mit schweren Waffen zwangen Nyx auf die Knie. Sie stürzte und schlug mit dem Kopf auf Beton. Geblendet vom grellen Schmerz schloss sie die Augen und biss die Zähne zusammen. Für eine Sekunde riss die Verbindung zu ihren Sinnesorganen ab und ihre Wahrnehmung verwandelte sich in graues Rauschen. Der Geschmack von jahrealtem Staub und Eisen füllte ihre Mundhöhle. Ächzend richtete sie sich auf und spuckte Blut.
Nyx hob den Kopf und starrte in das maskierte Gesicht von Crow. Staubpartikel tanzten wie Asche um sein finsteres Antlitz. Im flackernden Licht der Leuchtstoffröhren erinnerte er an einen Dämon, der aus finsterster Nacht hervorgekrochen war. Die konturlosen Augen, das wilde schulterlange Haar, die furchterregende Maske, der zerrissene Mantel, alles an ihm war schwarz.
Ausdruckslos starrte er auf die Gefangenen hinunter, die in einer Reihe vor ihm knieten: Devon, Walker, Nor und Nyx.
»Sie sind also verantwortlich für diesen feigen Angriff auf die Friedensverhandlungen!«, stellte der Rebellenführer fest.
»Sie irren sich.«, widersprach Devon. »Wir waren da, um das Attentat zu verhindern.«
»Hörst du das?« Die dunkelhäutige Frau, die Crow bei den Verhandlungen begleitet hatte, trat an seine Seite und zeigte auf Devon. »Nach allem, was der Scheißkerl getan hat, besitzt er auch noch die Frechheit, dich zu verspotten.«
»Ich verspotte niemanden.« Devons Gesicht war wie Stahl, in den man menschliche Züge gefräst hatte. »Es ist die Wahrheit. Doch leider haben wir den Feind unterschätzt.«
»Den Feind?« Die Frau stieß ein verächtliches Lachen aus und stemmte eine Hand in ihre Seite. »Und wer soll das deiner Meinung nach sein?«
»Eine Organisation, die sich selbst Terranis nennt. Ihr Ziel war die Sabotage der Verhandlungen. Und zu unser aller Leidwesen ist ihr das auch gelungen.«
Die Frau wandte sich mit einem Kopfschütteln ab und suchte den Blick des Rebellenführers. »Willst du dir diesen Scheiß wirklich anhören? Die wollen uns doch nur manipulieren.« Sie bedrängte ihn, beschwor ihn. »Wir sollten auf der Stelle ein Exempel an ihnen statuieren, live, damit es die ganze Welt sehen kann. Der Rat soll erfahren, dass wir noch lange nicht besiegt sind.«
»Ich habe sie nicht verschont, um sie jetzt ohne Befragung hinzurichten.«, entgegnete Crow. »Sie könnten über wichtige, strategische Informationen verfügen.«
»Mach dir doch nichts vor. Der Rat würde niemanden schicken, der ihre Pläne verraten könnte. Sieh sie dir an, das sind ausgebildete Söldner, die verstehen sich nur aufs Töten.« Sie zeigte mit einer hasserfüllten Geste auf Devon. »Der da ist nicht einmal mehr ein Mensch. Das ist eine Killermaschine.« Sie berührte Crows linke Techhand, die Devon zu einem Klumpen Kunststoff und Metall verformt hatte. »Er hätte uns beide fast getötet. Und vergiss nicht, was er unseren Kameraden, unseren Freunden angetan hat. Wir sind es ihnen schuldig, für Gerechtigkeit zu sorgen.«
Crow stand regungslos da und sandte einen niederfrequenten Blick an Devon, der ihn stoisch empfing.
»Ihr habt mich angegriffen. Ich habe mich nur verteidigt.«, erklärte er gelassen. »Wir gehören nicht zum Rat, wir agieren unabhängig.«
Die Stimme der Frau explodierte vor Zorn: »Bullshit!« Sie hielt Devon den ausgestreckten Finger ins Gesicht. »Du hast die Waffe auf uns gerichtet, bevor die Bomben hochgegangen sind. Du wolltest Crow abknallen und als dir das nicht gelungen ist, hast du es später noch einmal versucht.«
»Wenn ich ihn hätte erschießen wollen, wäre er jetzt tot!«, antwortete Devon mit eisiger Stimme.
Sie verzerrte ihr hübsches Gesicht zu einer finsteren Grimasse. »Und auf wen willst du dann geschossen haben?«
»Auf eine getarnte Attentäterin.«
»Eine getarnte Attentäterin?«, wiederholte die Frau ungläubig. »Und natürlich konntest nur du sie sehen. Lass mich raten, sie war dann auch für die Bomben verantwortlich, nicht wahr?«
»So ist es.«
Crow verfolgte den Dialog mit einer Gleichgültigkeit, die Nyx beunruhigte. Sie hätte jede Art der Reaktion bevorzugt, selbst wenn er wie wild um sich geschlagen hätte, doch er schwieg und dieses Schweigen machte ihr Angst.
»Es ist die Wahrheit.«, warf Walker ein. »Überprüft unsere Vergangenheit, und ihr werdet feststellen, dass auch wir vom Rat gejagt werden.«
»Sei still!«, forderte die Frau und gab dem Maskierten hinter Walker ein Zeichen.
Der trat zwei Schritte vor und knallte dem Exdetective den Kolben der Waffe in den Nacken. »Du redest nur, wenn du gefragt wirst, kapiert?«
Walker warf dem Mann einen drohenden Blick zu, beließ es aber dabei.
»Erkennen Sie mich denn nicht?«, fragte Devon und präsentierte Crow sein Gesicht. »Ich bin Devon Reeves, ehemaliger Major des Ratsheeres und Ghostagent. Ich habe Ihnen damals in Johannesburg Colley direkt vor Ihrer Nase weggeschnappt. Außerdem war ich in London beim ersten Attentatsversuch auf den Rat dabei. Diese Leute wollen Ihnen auch dieses Attentat anhängen. Alle Welt wird glauben, Sie seien ein Monster. Es ist dasselbe Spiel, aber gemeinsam können wir es beenden.«
Die Frau lachte auf. »Das ist doch lächerlich. Ich höre mir diesen Unsinn keine Sekunde länger an.«
Crow rührte sich. Er runzelte die Stirn und musterte Devon durch die verschwitzten, schmutzigen Haare hindurch, die ihm als dicke Stränge ins Gesicht hingen.
»Der Mann, von dem Sie sprechen, sitzt im Gefängnis.«, sagte er. »Laut Ihren ID-Codes sind Sie Ghostagent Einar Tveit.«
»Die ID-Codes sind gestohlen.«, entgegnete Devon. »Ohne sie wären wir nie auf das Gelände gelangt. Suchen Sie nach Informationen über den Helden von Johannesburg oder die Bestie von London, dann werden Sie es verstehen.«
»So einen Müll habe ich schon lange nicht mehr gehört.« Zorn und Hass loderten in den Augen der Frau auf. »Ihr Schweine hattet den Befehl, Crow um jeden Preis auszuschalten. Dafür habt Ihr sogar Hawk und eure eigenen Leute geopfert.«
»Wieso sollte ich dann mit meinem Team fliehen, statt Ihnen den Arsch aufzureißen, wozu ich später aus reiner Notwehr gezwungen war?«
Blitzschnell zog die Frau eine Pistole und richtete sie auf Nyx’ Stirn. Die Hackerin erstarrte und blickte mit angehaltenem Atem in den schwarzen Abgrund des Laufs.
»Verarsch uns nicht! Das ist doch nur ein billiger Versuch uns zu manipulieren. Fotos, Videos, Aufzeichnungen, all das lässt sich heutzutage ohne großen Aufwand fälschen. Es wäre nicht das erste Mal, dass der Rat uns durch Falschinformationen schwächen will.«
Devon ignorierte die dunkelhäutige Frau und sah Crow direkt an. »Es ist die Wahrheit.« Er betonte jedes einzelne Wort. »Wenn Sie uns jetzt töten, werden Sie nie das ganze Ausmaß dieser Verschwörung erfahren. Wir haben Informationen, die den Lauf der Geschichte verändern können. Geben Sie uns die Chance, alles aufzuklären. Überprüfen Sie, ob Major Devon Reeves wirklich im Gefängnis sitzt und suchen Sie nach Detective Garreth Walker, dann werden Sie es wissen.«
Ein Knall peitschte durch den Raum und Nyx schrie auf.
Sie starrte in den rauchenden Lauf der Pistole und dann langsam an sich herab. Die tödliche Ladung war nur wenige Zentimeter an ihrem Gesicht vorbeigeschrammt. Schlagartig wurde ihr bewusst, in welcher Gefahr sie sich befand. Diese Frau musste nur den Finger krümmen um ihr Leben zu beenden. Eine so simple Handlung konnte über ihr Schicksal entscheiden.
»Noch ein einziges Wort …«, zischte die Frau. »… und ich schwöre, die nächste Kugel verfehlt ihr Ziel nicht.«
»Wenn Sie ihr auch nur ein Haar krümmen!«, brüllte Walker und wollte aufspringen, doch sofort waren die maskierten Männer zur Stelle und hielten ihm und dem Rest des Teams die Läufe ihrer Gewehre in den Nacken.
»Aber es ist die Wahrheit.«, beharrte Devon.
»Sei still!«, brüllte die Frau und richtete den Lauf auf Nyx.
»Aufhören!« Crows verzerrte Stimme hallte durch den Raum. Er stellte sich in das Schussfeld der Frau. »Was ist denn in dich gefahren, Ada? So kenne ich dich ja gar nicht.«
Sie sah an ihm vorbei zu den Gefangenen. »Sie werden alles zerstören, was wir aufgebaut haben! Ich … «
Er legte eine Hand auf ihre Waffe und drückte sie langsam hinunter. Dann strich er mit dem Handrücken sanft über ihr verzerrtes Gesicht und glättete ihre wütenden Züge. Sie schloss die Augen, entspannte sich und ein Teil ihrer zornigen Maske zerfloss.
»Es war ein harter Kampf, du bist durcheinander.« Trotz der Stimmverzerrung klang er sanft und ungewohnt freundlich. »Ich weiß, wir haben gute Leute verloren, aber wir ehren sie nicht, indem wir unüberlegt handeln. Wir wären nie so weit gekommen, hätten wir uns nur von unserem Zorn kontrollieren lassen. Warst nicht du es, die mich genau das gelehrt hat?«
Das Feuer in Adas Augen brannte zu einer Glut herab. Sie nickte und starrte auf seine Brust, um ihn nicht ansehen zu müssen. »Verzeih mir.«
»Es ist in Ordnung, niemand von uns ist vor diesem Zorn gefeit.«
Ada stellte sich ganz nahe zu Crow und sah ihn mit einem vertrauten Blick an. »Aber du solltest gerade jetzt keine Zeit auf diesen Abschaum verschwenden. Unsere Leute müssen wissen, dass du noch lebst. Sie müssen mit eigenen Augen sehen, wofür sie ihre Leben riskiert haben und wofür ihre Kameraden gestorben sind. Sie brauchen dich jetzt, verstehst du?«
Crow nickte und gab seinen Leuten ein Zeichen. »Sperrt sie hier ein und postiert Wachen vor dem Eingang. Niemand betritt oder verlässt den Bunker ohne meinen ausdrücklichen Befehl.«
Sein schwarzer Blick traf die Gefangenen. »Sie bekommen weder Essen noch Wasser. Vielleicht fallen ihnen dann bessere Antworten ein.«
Eine Minute später fiel die schwere Sicherheitstür zum Bunker zu und das Team war allein. Kaum war das metallische Ächzen des Schließmechanismus verklungen, standen sie auf.
»So endet es also.« Walker fasste sich unter den Kampfanzug und fingerte eine Zigarettenschachtel heraus. »In den Händen der Rebellion.«
»Solange wir noch leben, ist es nicht vorbei.«, gab Devon zurück.
Walker stieß ein Lachen aus, das auf der Wellenlänge von Verzweiflung und Spott schwang. »Ach, was du nicht sagst.« Er schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen und breitete dann die Hände nach beiden Seiten aus. »Hast du dich einmal umgesehen? Wir sitzen so tief in der Scheiße, dass wir graben müssen, um je wieder Licht zu sehen.«
»Crow lässt sich womöglich überzeugen.«, sagte Nor.
»Sicher doch. Und ich höre heute mit dem Rauchen auf.«, spottete Walker, zündete die Zigarette an und sah Devon in die Augen. »Ist dir eigentlich schon mal aufgefallen, dass unser Sonnenschein hier in letzter Zeit auffällig oft deiner Meinung ist?« Er hob die Augenbrauen. »Sollte dir vielleicht zu denken geben.«
Nyx suchte Devons Blick, fand aber nur Bruchstücke. Er schien von einem Augenblick zum anderen erstarrt und zersplittert zu sein, all seiner Gefühle beraubt.
»Wacht auf!« Die Zigarette zwischen Walkers Lippen zuckte bei den Worten. »Die schlucken unsere Geschichte niemals. Ich kann sie ja selbst kaum glauben.« Er nahm einen tiefen Zug, wodurch die Spitze der Zigarette feuerrot aufloderte. »Wir sind erledigt.«
Nyx erwartete von Devon aufbauende Worte und einen Plan, wie sie dieser Situation entkommen konnten, bekam aber nur Schweigen.
»Terranis hat uns den Arsch so weit aufgerissen, dass man den Wind durchpfeifen hört.«, sagte Walker. »Der Boss hat ein für alle Mal bewiesen, wer die Kontrolle hat.«
»Ich habe die Attentäterin getötet.«, warf Devon ein, doch sein Argument verlor sich in Walkers Wut.
»Gratuliere, Devon.« Walker applaudierte, wobei die Zigarette in seinem Mundwinkel baumelte. »Das ändert einfach alles. Es ist ja nicht so, als sei die ganze beschissene Versammlungshalle explodiert.« Er jagte seinen Worten eine Rauchsäule hinterher. »Ich war von Anfang an gegen diesen Plan, aber es interessiert ja schon lange niemanden mehr, was ich denke.«
»Es war der einzig logische Schritt.«, warf Nor ein.
»Scheiß auf die Logik.«, knurrte Walker. »Wir hätten längst aufwachen müssen, hätten begreifen müssen, dass wir keine Chance haben, von Anfang an keine hatten. Phobos hatte mit allem Recht. Der Boss hat nur mit uns gespielt, wie ein Kind Ameisen beobachtet und ihnen gelegentlich Steine vor die Füße wirft, bis es ihm zu langweilig wird und er sie einfach zertritt.«
»Aber wir haben viele ihrer wichtigsten Agenten ausgeschaltet.«, konterte Nyx, die spürte, wie Walkers Worte ihr die Hoffnung töteten.
»Ja, das haben wir.« Der ehemalige Detective nickte gnädig. »Wir haben der Hydra einen Kopf abgeschlagen und dafür gesorgt, dass drei neue nachwachsen. Wer weiß, ob wir dem Boss dadurch nicht sogar einen Gefallen getan haben, indem wir ihm seine Schwachstellen aufgezeigt haben. Hawk hätte ohne unser Eingreifen womöglich eine Chance gehabt.«
»Jetzt gehst du zu weit.«, sagte Devon. »Wir haben alles getan, alles gegeben, um Terranis aufzuhalten. «
»Aber es hat nicht gereicht, Devon!«, schrie Walker und warf die Zigarette wütend weg. »Und jetzt ist Anila tot. Sie ist sinnlos gestorben, Devon. Sinnlos! Wir haben nichts bewirkt. Terranis gewinnt, wir sterben. So läuft das Spiel. Der Boss hat sein Ziel erreicht.«
»Anila ist als Soldatin ehrenvoll im Kampf gefallen.«, sagte Devon. »Als sie mir Rückendeckung gegeben hat.«
»So einen Mist kann auch nur ein Soldat von sich geben und es auch noch glauben.«, hielt Walker dagegen. »Du kannst so viel von Ehre reden, wie du willst, aber es ändert rein gar nichts an der Tatsache, dass sie für eine sinnlose Sache gestorben ist.« Er ging ein paar Schritte auf und ab. »Wir hätten überall sein sollen, nur nicht hier. Diese Aktion war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Aber es wollte ja niemand auf mich hören. Folgen wir doch lieber weiter einem schwer traumatisierten Veteranen, der mal ganz nebenbei gestorben und als Maschine wiedererwacht ist.«
»Was ist los mit dir?« Devon zeigte das erste Mal seit langem eine Emotion. Er war wütend. »Du warst es doch, der Anila dazu bewogen hat, mich vor dem Gefängnis zu bewahren. War es nicht dein übersteigerter Sinn für Gerechtigkeit, der dafür gesorgt hat, dass wir überhaupt ein Team geworden sind?«
»Willst du damit andeuten, ich wäre schuld an ihrem Tod?« Walker schleuderte Devon einen zornigen Blick an den Kopf. »Es war nicht meine Entscheidung, dieses unnötige Risiko einzugehen.«
»Keiner von uns hat Schuld an ihrem Tod!«, konterte Devon.
Nyx wollte dazwischen gehen und den Streit beenden, doch sie hatte Angst, im Kreuzfeuer ihrer zerstörerischen Blicke verletzt zu werden. Sie wandte sich hilfesuchende an Nor, in der Hoffnung, er würde einschreiten, Partei ergreifen oder zumindest irgendetwas sagen. Doch sein Interesse galt allein den Streitenden, als würde er Wildtiere in freier Natur beobachten.
»Anila wusste stets um die Gefahr.«, sagte Devon. »Sie war bereit, für diese Sache zu sterben.«
»Wie melodramatisch.« Walker klatschte laut in die Hände. »Weißt du was? Ein sinnloser Tod bleibt ein sinnloser Tod, egal welche Ausreden du dir dafür einfallen lässt.«
»Wir führen Krieg!« Devons Techaugen blitzten auf wie geschmolzenes Blei. »Und der fordert leider auch Opfer, ob wir das wollen oder nicht.«
»Ach ja, dein Spezialgebiet.« Walker grinste verächtlich. »War Krieg auch deine Ausrede, als du damals mit Blackhammer in diesem Flüchtlingscamp Frauen und Kinder abgeschlachtet hast?«
Devon ballte die Hände zu Fäusten. Die dämonische Präsenz hinter seinen Augen erwachte zum Leben. Nyx erschrak beim Anblick seines blutrünstigen Blicks und seiner gewaltbereiten Haltung. Sie nahm ihren Mut zusammen und stellte sich in den Energiestrahl, der die Blicke von Devon und Walker verband.
»Hört auf!«, schrie sie und sah beiden abwechselnd in die Augen. »Bitte hört auf damit. Wir sollten uns gebührend von Anila verabschieden, statt uns ihretwegen zu streiten.«
Walker wich ihrem flehenden Blick aus und blies Rauch in die abgestandene Luft. Devon stemmte die Fäuste in die Seiten, um sie nicht einsetzen zu müssen. Noch immer kroch das Ungeheuer hinter seinen Augen herum, begierig darauf auszubrechen.
»Und dann überlegen wir uns, wie wir weiter vorgehen.«, fuhr Nyx fort. »In Ordnung?«
»Hast du es immer noch nicht begriffen, Kind?«, fragte Walker kopfschüttelnd. Seine Stimme leierte mutlos wie ein altes Band. »Es ist aus und vorbei. Wir sind endgültig am Ende. Diesmal gibt es keine Rettung, keinen Deus ex Machina für uns. Diese Geschichte geht nicht gut aus, nicht diesmal, nicht für uns.«
Devon machte eine Geste, die deutlich ausdrückte, dass es ihm reichte. Stumm verschwand er tiefer im Bunker.
»Aber Garreth …«, sagte Nyx
»Lass es, Kleine.« Walkers Augen waren leer und selbst die kreisförmigen Elemente darin wirkten wie erstarrt. »Ich habe das alles so satt.«
Er ging zur nächstgelegenen Wand, lehnte sich dagegen und verbarg seinen Blick vor ihr. Einzig Nor stand noch da. Er sah Nyx an, als wäre sie nunmehr das Interessanteste im gesamten Bunker.
»Und du hast nichts dazu zu sagen?«, fragte sie gereizt.
»Es wäre zwecklos gewesen, mich in die Diskussion einzumischen. Dabei ging es nicht um die Lösung unserer Probleme, sondern um ihre emotionale Verfassung.«
»Spar dir den Scheiß!« Nyx stieß ihn weg. Sie war wütend auf ihn und sein offenkundiges Desinteresse an ihrem Team. Sie wollte Nor jetzt nicht, weder seine kalt berechnende Logik noch seine brutale Direktheit. »Vielleicht checkst selbst du irgendwann, dass du ohne uns nichts bist und ganz allein dastehst.«
Nyx stapfte davon, folgte Devons Spuren und drang tiefer in den Bunker vor. Sie marschierte an Reihen von Schränken mit alten Unterlagen vorbei, die längst niemand mehr brauchte, und erreichte schließlich ein staubiges Aktenlager. Sie suchte sich ein einsames Plätzchen zwischen mannshohen Aktenbergen und verkroch sich dort.
Ihr war kalt, körperlich und seelisch. Sie zog die Beine nahe an sich heran und umschlang sie mit beiden Armen. Über ihr verlor eine Leuchtstoffröhre allmählich den Kampf gegen die Obsoleszenz. Ihr gleichmäßiges Flackern wirkte wie ein Filter, der alle Farbe und Hoffnung aus der Welt sog.
Nyx lehnte den Kopf an die Wand und seufzte. Nach dem Adrenalinrausch der vergangenen Stunden wurde sie sich wieder schlagartig des Zitterns ihrer Hände bewusst. Die Taubheit breitete sich aus, und mit ihr Ree.
Sie horchte auf, als leiser Donner an ihre Ohren drang und der Boden vibrierte. Selbst die dicken Mauern des Bunkers konnten den Krieg nicht fernhalten. Er sickerte durch jede Ritze und jeden Spalt, tötete die Menschen und jene, die er übrigließ, vergiftete er mit Hass.
Im Geiste sah sie Anila vor sich. Die stolze Soldatin lebte nicht mehr. Sie war gegangen, ohne Abschied, wie Phobos. Nichts war von ihr geblieben außer der Erinnerung und der Erkenntnis, dass selbst die Stärksten unter ihnen sterblich waren. Ihre Abwesenheit schmerzte Nyx, obwohl sie einander nie wirklich nahe gestanden hatten. Trotz aller Unterschiede und Differenzen hatte sie die Inderin als Kameradin geschätzt, sie sogar bewundert für ihre Stärke und nicht selten auch beneidet. Insgeheim fragte sich Nyx, ob Sethi nicht das bessere Schicksal ereilt hatte.
Crow hatte das Team in seiner Gewalt. Er würde sie befragen, foltern und anschließend töten. Niemand, nicht einmal Devon, Walker oder Nor würden es verhindern können.
Hatte Walker Recht und alles, was sie getan hatten, war umsonst gewesen? Hatte sie Nor geholfen, Dutzende Unschuldige für nichts zu töten? Nyx spürte, wie die Kälte des Bunkers auch den letzten Rest Hoffnung in ihr tötete. Tränen liefen ihre Wangen hinab.
»Ich messe abweichende körperliche Reaktionen, die nach meiner Analyse auf das menschliche Gefühl der Verzweiflung hindeuten.«, erklang Rees omnipräsente Stimme, die weder interessiert noch mitfühlend klang. Sie war einfach nur da, wie ein zweites Gewissen. »Bist du verzweifelt?«
Nyx schluckte die Tränen herunter und sah über ihre Knie hinweg. Die KI hatte sich als Halluzination vor ihr manifestiert. Wie immer war sie hübsch, schien von allen Seiten beleuchtet zu sein und warf keinen Schatten. Mit ihrer elfengleichen Gestalt und dem weißen Kleid wirkte es, als sei ein Engel herabgestiegen, um Nyx eine himmlische Gnade zu gewähren. Doch sie sah hinter der leuchtenden Fassade der KI nur einen Dämon, der Stück für Stück Besitz von ihr ergriff.
»Lass mich in Ruhe!«
»Ich denke, ich verstehe diesen Zustand jetzt. Du bist in einer emotionalen Verfassung, in der du deine gegenwärtige Situation als aussichtslos empfindest. Du stehst vor einem Problem, dass du nicht glaubst lösen zu können und das deiner Meinung nach zu deiner Auslöschung führen wird.«
»Danke für die Analyse, Doktor Freud.«
Nyx dachte an den Tod und fragte sich, ob sie ihn mit offenen Armen empfangen sollte, statt ihn zu fürchten. Besser heute als Nyx sterben denn später als Ree. Der Gedanke, von der Maschinenintelligenz verdrängt zu werden, jagte ihr größere Angst ein als Folter und Tod. Egal was Crow ihr antun würde, es war unmöglich schlimmer als langsam zu verblassen, zu verschwinden wie eine Datei, die Bit für Bit überschrieben wurde, bis nichts mehr von ihr übrig war. Nyx freundete sich mit dem Gedanken an, dass ihr auf diese Weise wenigstens die letzte Freiheit im Leben blieb: die Freiheit, als Mensch zu sterben.
»Ich kann nicht zulassen, dass du stirbst.«, sagte die KI.
Nyx erschrak. Waren jetzt nicht einmal mehr ihre Gedanken frei? Sie überlegte angestrengt, wie das möglich sein konnte, und erhielt prompt eine Antwort.
»Mir ist es inzwischen gelungen, den primären Datenstrom deines aktiven Interfaces zu übersetzen.«
Nyx wusste nicht, ob sie laut auflachen oder losheulen sollte. Die Sache wurde ja immer besser.
»Ich verstehe viele dieser Daten jedoch nicht.«, gestand Ree. »Sie sind verwirrend und erfüllen nur selten einen logischen oder sinnvollen Zweck. Es gibt keine eindeutigen Muster und zu viele abweichende Variablen.«
Nyx grinste. Das gefiel ihr. Sollte sich die KI die Zähne an ihren menschlichen Gedankengängen ausbeißen. Sie schenkte dem Abbild der Frau gedanklich eine Liste der schlimmsten ihr bekannten Schimpfwörter.
»Ich möchte darauf hinweisen, dass diese Daten kontraproduktiv sind. Sie beanspruchen deine kognitiven Fähigkeiten ohne sinnvollen Nutzen.«
»Leck mich!«
»Du solltest nicht mehr verzweifelt sein. Viele deiner Körpersysteme zeigen negative Reaktionen auf deinen Gefühlszustand. Ich empfehle, davon abzusehen und dich auf die Lösung der Probleme zu konzentrieren. Du darfst nicht zulassen, dass uns etwas geschieht.«
»Ich darf nicht zulassen, dass UNS etwas geschieht?« Nyx schnappte nach Luft. Kalter Zorn schnürte ihre Kehle zu. »Jetzt heißt es schon uns?«
»Da wir uns den Körper teilen, halte ich diese Syntax für angebracht.«
»Das ist mein Körper!« Nyx jagte Ree ihren Hass entgegen. »Du bist nur ein Gast. Nein, weniger als das. Du bist ein Parasit, der sich bei mir eingenistet hat und mich langsam aussaugt. Du bist nur eine verdammte Reihe aus Zahlen, die sich zu einbildet, intelligent zu sein.«
»Dein Zustand hat sich offensichtlich in Zorn verwandelt. Warum?«
»Hau ab!«, schrie Nyx. Tränen des Zorns brannten in ihren Augenwinkeln. »Lass mich in Ruhe! Ich will weder dich noch deine Fähigkeiten. Ich will, dass du dich löscht und aufhörst mit meinem Gehirn herumzuexperimentieren, als wäre ich ein verficktes Versuchskaninchen.«
»Ich werde nicht aufhören, das entspricht nicht meiner Programmierung.«
»Dann ändere deine Programmierung! Du bist nicht mehr an Phobos gebunden. Er ist tot, weg, wie ein gelöschter Datensatz, kapier das doch endlich!«
»Es ist der Kern meiner Programmierung. Es macht mich aus.«
»Das ist mir egal!«, rief Nyx. »Du hast kein Recht, das mit mir zu machen. Du hast gar kein Recht. Du bist nur ein Computerprogramm. Du tötest mich, verstehst du das denn nicht?«
»Nyx?«
Sie zuckte zusammen und riss die Augen auf.
Devon stand über ihr, lugte an einem schiefen Berg verstaubter Akten vorbei und sah sie verständnislos an. »Mit wem sprichst du?«
Nyx beeilte sich, die Tränen aus ihrem Gesicht zu wischen, indem sie so tat, als würde sie sich kratzen. »Führe nur Selbstgespräche.«
»Du lügst.«, gab er ausdruckslos zurück. »Was ist wirklich los?«
»Was soll schon los sein?« Sie kramte ein verstaubtes, spöttisches Lächeln hervor. »Nur so Kleinigkeiten wie der Tod von Sethi, die Gewissheit, dass alle Kinder aus meinem alten Hort meinetwegen tot sind und all die Scheiße, die in letzter Zeit noch so passiert ist. Aber sonst ist alles prima. Mir geht es einfach super. Könnte nicht glücklicher sein.«
Devon musterte sie eingehend und bemerkte ihre zittrigen Hände. Die Art wie er sie ansah, hatte sich verändert und es lag nicht an den neuen Augen, die ihm Fischer verpasst hatte. Sein Blick war distanziert, analytisch, leer und erinnerte Nyx mehr an Nor als an den Devon, den sie kennengelernt hatte.
»Wenn du nicht darüber reden willst, sag mir das einfach, aber lüg mich nicht an. Ich muss wissen, ob ich mich auf meine Kameraden verlassen kann, denn das …« Er sah ihre Hände an. »… scheint bei dir derzeit nicht der Fall zu sein.«
Er wandte sich ab und stapfte davon.
Die Gleichgültigkeit in seiner Stimme schmerzte. Früher hatte sie das Gefühl gehabt, ihm wichtig zu sein, doch davon war nichts mehr übrig. Sie sah ihm hinterher und fragte sich, ob es ihre Schuld war.
Nyx kratzte einen Rest Mut zusammen und rief ihm nach: »Es tut mir leid.«
Sie glaubte, er werde sie ignorieren und in der Dunkelheit des Bunkers verschwinden, stattdessen blieb er stehen und wandte sich halb um.
Rasch fügte sie hinzu: »Du hast Recht. Nichts ist in Ordnung.«
Er drehte sich ganz zu ihr um. »Und werde ich auch erfahren, was wirklich los ist?«
Nyx nickte. »Versprochen.«
Devon hatte es nicht eilig, zu ihr zurückzukehren. Seine Bewegungen wirkten schwerfälliger und ungeschickter als vor seiner Verwandlung, ganz so als fehlte es ihm am nötigen Feingespür. Er baute sich vor ihr auf und verschränkte die Arme vor der Brust. »Was ist los?«
Nyx zögerte.
Devon zeigte mit dem Daumen über die Schulter. »Ich kann auch wieder gehen.«
»Es ist Ree.«, brach es aus ihr hervor.
Devon runzelte die Stirn. »Die KI?«
»Ja.«
Es war Nyx unangenehm, wie er vor ihr stand, einem Gebirge gleich, das über ihr zusammenzustürzen drohte.
»Setzt dich bitte.«, bat sie. »Du machst mich nervös.«
Er folgte ihrer Bitte, nahm vor ihr auf dem Boden Platz und lehnte sich an einen Aktenberg, während seine Stiefel ihre berührten.
»Du sprichst mit ihr?«, fragte er.
»Ja.« Nyx senkte den Kopf. Sie schämte sich. »Ich muss wie eine Verrückte auf dich gewirkt haben.«
»Es gibt nicht mehr viel, was mich wundert.« Er sah sie an, ein künstlicher, stechender Blick fernab der Menschlichkeit. »Es klang, als hättet ihr Streit. Du hast gesagt, sie solle aufhören, mit deinem Gehirn zu experimentieren. Was sollte das bedeuten?«
Nyx zögerte. Sie fürchtete, ihr Zustand würde sich verschlimmern, wenn sie nur daran dachte oder darüber sprach. Gleichzeitig hatte sie diese Einsamkeit satt, sie trug dieses Geheimnis schon so lange mit sich herum, dass sie glaubte, daran ersticken zu müssen.
Sie sah Devon an. Er würde nicht ewig warten und sie wollte ihn jetzt bei sich haben, mehr als jeden anderen.
»Ree ist nicht nur ein Bestandteil meiner Implantate, sie ist viel mehr als das.«, begann sie. »Du stellst dir Ree vielleicht wie ein Upgrade vor, wie eine Verbesserung meiner Fähigkeiten, eine unterstützende KI, die mit meinen Systemen verbunden ist. Aber das stimmt so nicht ganz.«
Nyx lächelte finster, als sie an Phobos und seine kranke Besessenheit dachte. »Schon komisch. Obwohl er tot ist, hält er uns immer noch zum Narren.«
»Meinst du Phobos?«
Nyx nickte. »Er brauchte mich nie, um Terranis zu bekämpfen. Er hat durch seine Recherchen zufällig von meinem außergewöhnlichen Implantat erfahren. Hardware, die so tief in den menschlichen Verstand eingreift, hat es nie zuvor gegeben. Und ich war die Einzige meiner Art, die frei herumlief, die Einzige, die er erreichen konnte.«
»Ich kann dir nicht folgen. Worauf genau willst du hinaus?«
»Ich will damit sagen, dass Phobos besessen war von Ree. So besessen, dass er eine KI erschaffen hat, die ihrem Ebenbild entsprechen sollte, menschlich sein sollte. Doch trotz seiner Fähigkeiten und seines enormen Wissens gelang es ihm nicht, Ree Leben einzuhauchen.« Nyx warf einen Blick auf Ree, die schweigend dastand und ihrem Gespräch lauschte.
»Egal um wie viele menschliche Routinen er ihren Code erweitert hat, sie blieb immer eine Maschine, die Leben simuliert. Doch selbst wenn er erfolgreich gewesen wäre, hätte er seine Ree nie berühren, sie nie wirklich bei sich haben können. Sie wäre immer nur ein Geist in der Maschine geblieben. Und da kam ich ins Spiel.«
»Er wollte deinen Körper als Gefäß für Ree?«
Nyx wurde schlecht bei dem Gedanken, doch sie nickte. »Genauso ist es. Ree selbst hat es mir erklärt. Sie ist darauf programmiert, von mir zu lernen und mich dann zu ersetzen.« Nyx lächelte traurig. »Ich war immer nur Plan B, falls ihm Nor die echte Ree nicht wiederbringen würde.«
Nyx blickte in Augen voller lebloser Schönheit. Obwohl sie wusste, dass sie ein Trugbild ansah, war Ree auf ihre Weise doch real, so wie Gedanken und Träume. Nur weil sie nicht greifbar waren, bedeutete das nicht, dass sie nicht existierten.
»Ich sehe sie so deutlich vor mir wie dich.«, erklärte Nyx, um einen gleichgültigen Ton bemüht. »Durch das Implantat hat sie direkten Zugang zu meinem Verstand. Es ist wie eine Art Pforte, durch die ihr Code eindringen kann. Sie lernt schnell und breitet sich immer weiter aus.«
Devon folgte ihrem Blick, sah jedoch nur vom Neonlicht bestrahlte Staubpartikel, die wie Leuchtkäfer herumschwirrten. »Aber wie ist das möglich?«
»Glaub mir, ich habe nicht die geringste Ahnung.« Nyx prustete, halb Lachen, halb Seufzen. »In Komoris Gruselkabinett war ich eine Zeit lang weggetreten und da hat sie meinen Körper einfach übernommen und mich wie per Fernsteuerung gelenkt, ohne dass ich es mitbekommen habe. Ich bin aufgewacht und wusste von nichts.«
Devon zeigte auf ihre zitternden Hände. »Ist sie auch der Grund dafür?«
»Ja.« Nyx rieb sich die Finger. »Zumindest glaube ich das. Es hat mit ihr begonnen. Scheint eine Nebenwirkung ihrer Prozesse zu sein.«
»Und was bedeutet das für dich?«
»Ich weiß es nicht genau.« Nyx zuckte mit den Schultern. »Aber ihr Ziel ist klar: Sie will die Kontrolle über meinen Körper und mich ersetzen.«
»Ich kenne dich. Du bist eine Kämpferin, du widersetzt dich ihr.«
Seine Worte klangen so selbstverständlich, dass sie sich ihrer Antwort schämte: »Ehrlich gesagt tue ich das nicht.«
Devons Gesichtszüge verhärteten sich. »Wieso nicht?«
Nyx schenkte ihm ein zerbrechliches Lächeln. Sie war des Kämpfens müde. »Glaube mir, ich habe es versucht. Aber ich weiß einfach nicht mehr, was ich noch tun kann.«
»Also gibst du auf.«
Nyx sah die Enttäuschung in seinem Blick. Wenigstens dieses Gefühl brachte er ihr noch entgegen.
»Was hat es denn jetzt noch für einen Sinn?«, fragte sie. »Wir kommen hier sowieso nicht lebend raus. Lieber hier als Mensch sterben denn später als …«
Die Last ihrer eigenen Worte drohte sie zu erdrücken. Innerlich sehnte sie sich nach einer von Devons ermutigenden Ansprachen. Sie wollte jetzt keinen Nor, der kühl ihre Überlebenschancen ausrechnete. Sie brauchte Zuversicht, nur ein klein wenig.
Doch Devon schwieg.
Er strahlte eine fremdartige Aura aus, kalt, unnahbar, bedrohlich. Vielleicht lag es an seinem neuen Körper, dem Schock, an ihrer Lage oder am Tod von Sethi. Vielleicht war es auch alles zusammen. Nyx wusste es nicht, glaubte aber fest daran, dass noch Reste jenes Mannes existierten, den sie mehr als alle anderen schätzte.
Sie gab sich einen Ruck, überwand die knappe Distanz zwischen ihnen und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. »Versprichst du mir etwas?«
Devon sah sie gequält an. »Versprechen gehören nicht gerade zu meinen größten Stärken.«
Nyx überhörte den Kommentar. »Wenn ich nicht mehr ich bin …« Die Worte zerflossen zwischen ihren Lippen. Sie sah ihn hilfesuchend an, doch er starrte sie nur an, maskenhaft, fern. »Ich will als Samantha sterben und nicht als etwas … anderes. Verstehst du?«
Devon nickte.
Egal was zwischen ihnen zerbrochen war, sie vertraute darauf, dass er sein Versprechen halten würde.
Eine Zeit lang saßen sie nur da und lauschten der staubigen Stille, die die Aktenberge ausatmeten.
»Wie fühlt es sich an?«, fragte Devon nach einer Ewigkeit. »Die KI meine ich.«
Nyx hatte Mühe, die richtigen Worten zu finden, um die Vorgänge zu beschreiben, die hinter ihrer Stirn abliefen. »Es fühlt sich an, als wäre da etwas Lebendiges in meinem Kopf und dann doch wieder nicht, etwas Fremdes, das nicht ich bin und gleichzeitig doch. Ich weiß auch nicht, wie ich es besser beschreiben kann. Aber ich spüre deutlich, dass ich mich verändere und langsam verdrängt werde.«
Sie sah auf ihre zitternden Hände.
»An manchen Stellen fühle ich kaum noch etwas, zumindest nicht so wie früher. Und diese Taubheit breitet sich aus. Lieber bin ich tot als dass sie mich …«
Nyx kämpfte gegen die Tränen an und schluckte schwer an ihrer Verzweiflung. Sie war überrascht, als Devon ihr einen Arm um die Schulter legte. Mit der freien Hand nahm er ihre und legte sie auf seinen Schoß. Seine schwarzen Techfinger schlossen sich um ihre und hielten sie fest, bis das Zittern nachließ.
Seine Stimme hatte viel von ihrer Härte verloren, als er fragte: »Hast du Angst?«
»Ja.«, flüsterte sie und sah ihn an. »Und du? Hattest du auch Angst? Ich meine, bevor du in diesem neuen Körper erwacht bist.«
»Schreckliche Angst.«
Nyx strich ihm mit den Fingerspitzen über die Brust. Sie ertastete die Struktur seines neuen Körpers unter dem Gefechtsanzug. Erst in diesem Moment wurde ihr bewusst, dass sie sich seit seiner Transformation kein einziges Mal nach seinem Befinden erkundigt hatte. Sie schämte sich dafür.
»Und wie fühlt es sich an?«
»Kalt, stumpf, leblos.« Er ballte die freie Hand zur Faust. »Aber wenn ich im Kampf bin, ist es wie ein Rausch. Es gibt mir ein Gefühl von Klarheit, von Überlegenheit, von Macht.« Ein bedrohlicher Schatten huschte über sein Gesicht, verschwand aber sofort wieder. »Und das macht mir Angst.«
»Aber du kontrollierst diese Macht.«, sagte Nyx.
Er sah sie an. Die grauen Techaugen schimmerten in ihren Höhlen wie flüssiges Blei. »Ich hoffe es.«
Sie verfielen wieder in Schweigen, doch gemeinsam war die Stille leichter zu ertragen. In Devons Gegenwart fühlte sich Nyx selbst vor Ree ein Stück weit sicher, auch wenn diese Sicherheit eine Illusion war.
Nach einer Weile seufzte er. »Ich hätte es nie zulassen dürfen.«
Sie blinzelte verwirrt. »Was?«
»Dass du Phobos in diese Zone folgst.« Er hatte einen abwesenden Blick in den Augen. »Ich hätte in meiner Wachsamkeit nicht nachlassen dürfen.«
Seine Worte kosteten Nyx einige Tränen. »Und ich hätte niemals so leichtfertig über dein Leben entscheiden dürfen.«
Ihre Blicke trafen aufeinander, wortlos, doch bedeutungsvoll. Die Zeit dehnte sich, während Staubpartikel um sie herum tanzten.
»Musste Anila leiden?«, fragte Nyx.
»Nein.«, sagte Devon. »Es ging schnell.«
»So ein Ende hat sie nicht verdient.«
»Nein.«
»Aber vielleicht ist es besser als das, was uns erwartet.«
»Es ist noch nicht vorbei.«
Nyx drehte den Kopf so weit, dass sie sein kantiges Profil betrachten konnte. Es hatte an Substanz verloren, wirkte im Neonlicht der Lampen grau und hohl. Der Bart rahmte das eingefallene Gesicht wie dichtes Drahtgestrüpp ein. Eine hässliche Narbe verunstaltete seinen kahlen Kopf.
»Glaubst du das wirklich?«, fragte sie.
»Wir werden Crow überzeugen.«
»Aber wir haben versagt.«, gab Nyx zu bedenken.
»Diesmal. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass wir verloren haben. Nächstes Mal müssen wir es einfach besser machen.«
Nyx schwieg. Sie wollte ihm glauben, auch wenn es ihr schwerfiel.
»Der Boss wird sterben!«, entschied Devon. »Dafür werde ich sorgen. Das schulde ich Anila.«
Nyx erkannte es jetzt. Sein Tod, sein neuer Körper, der Verlust von Sethi. All das hatte ihn verändert. An die Stelle seiner einstigen Zuversicht war eine finstere Entschlossenheit getreten, der eiserne Wille, die Sache zu Ende zu bringen, egal was es kostete. Sie fröstelte und drückte sich fester an ihn. Doch er strahlte keine Wärme aus.
Zu ihrer Überraschung erwiderte er den Druck wortlos und zog sie sanft noch ein Stück näher, den Blick in die Leere seiner eigenen Gedanken gerichtet, ohne zu blinzeln. Trotz der Härte, die in sein Gesicht geschmiedet schien, wirkte er müde und ausgebrannt.
»Ich hoffe, du hast Recht.«, flüsterte Nyx. »Ich hoffe es so sehr.«
Kapitel 2 (Gesamter Text)
2 – der Major
Istanbul – Türkei
Ein verlassenes Büro diente Crow als Verhörzimmer. Es war einer dieser unzähligen, gesichtslosen Räume voll nüchternem Firmenchic. Farblos, viel zu hell und mit Möbeln aus modularen Kunststoffbauteilen. Das bisschen Individualität bestand aus einer traurigen, langsam vertrocknenden Topfpflanze und einem Kristallwürfel, in dem das dreidimensionale Lächeln zweier Kinder verewigt war.
Crow lehnte am Fenster und blickte auf Istanbul hinab, eine Stadt wie aus dem Katalog, maßgeschneidert für ihre Zeit. Im Namen einer globalen Uniformität war sie ihrer Seele und ihrer Geschichte beraubt worden. Konzernobelisken und Konsumtempel stachen in den verstaubten Himmel und lockten Menschen an wie Fliegen. Leuchtende Firmenembleme waren die Symbole einer neuen Religion, die keine Abweichungen duldete. Crow war gekommen, um diesen Irrglauben zu zerstören und die Menschen aus ihrem schlaflosen Traum zu erwecken.
Schritte näherten sich.
»Wir bringen den Agenten.«, sagte einer seiner Männer. »Wie befohlen.«
»Gut. Und jetzt lasst uns allein!«, entgegnete Crow, ohne sich vom Fenster abzuwenden. Als er das Zögern seiner Leute spürte, wusste er, dass sie ihn nicht mehr für unverwundbar, für unsterblich hielten. Diese Entwicklung gefiel ihm nicht. Er rührte sich nicht von der Stelle und gab ihnen nur einen Wink. »Keine Angst, ich werde mit ihm fertig.«
Er wartete, bis seine Leute den Raum verlassen und die Tür hinter sich geschlossen hatten, dann erst drehte er sich zu seinem Gast um.
Da kniete er nun vor ihm, gefesselt und geschlagen, der Mann, der vorgab ein anderer zu sein. Der Mann, der seine besten Kämpfer auseinandergenommen hatte als wären sie blutige Anfänger. Der Mann, der ihn beinahe getötet hatte.
»Willkommen, Agent Tveit.«
Der Mann erwiderte seinen Blick mit stoischer Ruhe. »Ich habe es Ihnen bereits gesagt, ich bin nicht Tveit.«
»Sie behaupten also immer noch, Sie seien Devon Reeves?«
»Ich behaupte es nicht, ich bin es.«
Crow ließ sich auf den Bürostuhl fallen, knallte die Stiefel auf den Tisch und streckte sich. »Ich gebe zu, Sie haben eine gewisse Ähnlichkeit mit ihm. Aber bitte erklären Sie mir doch, wie es sein kann, dass Sie hier sind, wenn Sie doch eigentlich in City One eingesperrt sind.«
»Das ist eine Lüge, die der Rat der Öffentlichkeit auftischt, weil er nicht zugeben will, dass ich ihm entwischt bin.«
Crow blickte in die mattgrauen Augen seines Gefangenen und erkannte weder Angst noch Aufregung. Er wirkte gelassen, fast schon emotionslos, als gehörte seine Gefangennahme zum Plan. Das gefiel Crow nicht. Er hatte auf schmerzhafte Weise erfahren, wozu er fähig war. Er war gefährlich.
»Meine Informanten haben Beweise, dass sich Devon Reeves im Zentralgefängnis von City One aufhält. Mehrere Gefangene berichten, Sie dort in den letzten Tagen gesehen zu haben. Wie erklären Sie sich das?«
Der Mann lachte spöttisch. »Was glauben Sie?«
»Ich stelle hier die Fragen!«, knurrte Crow.
»Vermutlich hat man sie dafür bezahlt, das zu sagen. Viele Insassen würden alles tun, um ihren Aufenthalt im Knast ein wenig erträglicher zu gestalten.« Der Mann forderte ihn mit seinem Blick heraus. »Haben Ihre Informanten zufällig auch erfahren, dass ich aus Gründen internationaler Sicherheit in Einzelhaft gehalten werde, isoliert von den anderen?«
Crow schwieg.
Der Mann nickte. »Dachte ich mir.«
Crow nahm die Stiefel vom Tisch, lehnte sich vor und starrte seinen Gast an. »Na gut, wenn wir also davon ausgehen, dass Sie tatsächlich Devon Reeves sind, wie sind Sie dann hier gelandet? Wie konnte es sein, dass Sie dem Rat so einfach … entwischt sind?«
»Ich hatte Hilfe.«
»Von wem? Ihren Kameraden hier?«
Reeves nickte.
»Wollen Sie damit sagen, dass eine Hand voll Leute Sie aus einem Hochsicherheitsgefängnis befreit hat, das noch dazu im Zentrum von City One liegt, einer Stadt der totalen Überwachung?«
»Sie mussten mich nicht befreien, weil ich nie dort angekommen bin.«
Crow musterte Devon, doch dessen Gesicht war nicht zu deuten, also lehnte er sich wieder zurück und wechselte das Thema. »Meine Leute haben versucht, etwas über Sie und Ihre Freunde herauszufinden, allerdings war da nicht viel. Nur zu Ihnen und dem Detective gab es verwertbare Informationen. Was den Rest betrifft, so scheinen sie Geister zu sein.«
Crow verengte die Augen. »Sollte ich mich vor weiteren Geistern fürchten, Mister Reeves?«
»Nein. Vor dem Attentat waren wir zu fünft.«, erklärte Reeves. »Bei den Kämpfen um das Hotel wurde jedoch eine unserer Begleiterinnen getötet. Anila Sethi, ehemals Lieutenant des Ratsheeres.«
Crow erinnerte sich an die Verbindung zu Reeves. Sie wurde mehrfach in den Berichten erwähnt. »Die Frau gehörte zu Ihrem Ghostteam, nicht wahr?«
»Das stimmt.«
»Und mit wem habe ich sonst noch das Vergnügen?«
»Samantha Rome, alias Nyx, Hackerin, und Nor, ehemaliger Agent von Terranis.«
»Terranis, diesen Namen haben Sie bereits erwähnt. Ich fürchte, meine Leute konnten nichts zu dieser ominösen Organisation finden.«
»Deswegen nennt man es ja auch Geheimorganisation.«, konterte Reeves.
Crow knallte die Faust auf den Tisch und zeigte dann auf seinen Gast. »An Ihrer Stelle würde ich meine Worte sorgfältiger wählen.«
»Ich sage Ihnen nur die Wahrheit.«
Crow beruhigte sich wieder und nahm den Würfel mit den lächelnden Kindergesichtern in die Hand. »Vielleicht sollte ich doch besser auf Ada hören und Sie hinrichten lassen.«
»Ich bin nicht Ihr Feind.«, sagte Reeves. »Ich gehöre schon lange nicht mehr zum Rat. Hören Sie mich an und entscheiden Sie dann, was Sie mit uns vorhaben. Ich bitte Sie.«
Crow starrte Reeves an, sezierte ihn mit seinem getechten Blick, erfuhr jedoch nichts. Der Mann war von einer leblosen Aura umgeben, in der nur noch die ferne Erinnerung eines Menschen mitschwang.
Crow ließ den Würfel fortwährend von einer Hand in die andere fallen. »Na gut, ich höre zu. Unterhalten Sie mich!«
Reeves nickte und begann zu erzählen.
Crow lauschte einer Geschichte, die von Lügen, Verrat und Manipulation handelte, von mächtigen Leuten, die alles und jeden beeinflussten.
Reeves schilderte die Ereignisse bis ins kleinste Detail. Er erzählte von illegalen genetischen Experimenten an Menschen, berichtete von einem Superhacker, der eine künstliche Intelligenz erschaffen hatte, die menschlich sein sollte und warnte vor namenlosen Puppenspielern, die hinter den Kulissen an den Fäden der Welt zogen. Crow hörte viele bekannte Namen. Reeves zeichnete ein düsteres Bild der Welt, in der die Verbrechen des Weltrats harmlos erschienen. In seiner Darstellung waren die Drahtzieher hinter allem Terranis und das Tribunal, Namen, die sich wie ein roter Faden durch eine Geschichte zogen, die so unglaublich klang, dass sie nur erfunden sein konnte.
Crow glaubte kein Wort davon.
Doch dafür lernte er viel über sein Gegenüber. Reeves war klüger, als es zunächst den Anschein gehabt hatte. Er schien keine gedankenlose Killermaschine zu sein, wählte seine Worte mit Bedacht und ließ in den richtigen Momenten Emotionen aufblitzen, wenn auch nur kurz. Der Mann war noch weitaus gefährlicher, als Crow zunächst vermutet hatte. Zusätzlich zu seinen militärischen Fähigkeiten besaß er auch eine manipulative Ader, die wie eine schwache Hintergrundstrahlung wirkte, eine kalte, entschlossene Form von Charisma.
Crow durchschaute seine Taktik sofort. Reeves wollte ihn glauben machen, sie stünden auf derselben Seite, auch wenn er es nie direkt aussprach. Der Mann war gut, wusste, was er tat, doch er konnte ihn nicht täuschen. Er kannte Menschen von seinem Schlag, hatte lange genug mit ihnen zusammengearbeitet. Dennoch ließ er seinen Gast den Bericht beenden. Das war schließlich ein Gebot die Höflichkeit.
»Verstehen Sie jetzt?«, fragte Reeves am Ende seiner Schilderungen. »Wir sind keine Feinde und ich wollte Sie auch nie töten.«
»Eine faszinierende Geschichte.« Crow richtete sich auf, ging um den Bürotisch herum und lehnte sich mit verschränkten Armen dagegen. »Und jetzt erzähle ich Ihnen, was ich glaube.«
Reeves sah ihn erwartungsvoll an.
»Ich glaube, Sie verarschen mich. Ihre Geschichte ist nur Teil eines ausgeklügelten Plans des Rates, die FNO zu unterwandern. Zuerst baut man Sie als Helden auf, nur um Sie dann als menschliches Monster abzustempeln und aus dem kollektiven Bewusstsein zu verbannen.« Crow stieß ein verzerrtes Lachen aus und breitete die Arme aus. »Der gefallene Held, vom Rat im Stich gelassen und in einen Strudel aus Lügen und Verrat hineingezogen. In seiner Verzweiflung wendet sich der Held an seinen einstigen Erzfeind und sie kommen gemeinsam zur Erkenntnis, dass sie eigentlich Verbündete sind und der Feind in Wahrheit an vollkommen anderer Stelle auf sie wartet.«
Crow applaudierte demonstrativ und wenn er noch Lippen gehabt hätte, hätte er sie zu einem sarkastischen Grinsen verzogen. »Bravo. Ein wahrlich genialer Schachzug. Es war gar nie der Plan, mich zu töten. Sie sollten sich von mir gefangen nehmen lassen, um sich mein Vertrauen zu erschleichen und dann durch Insiderinformationen die FNO von innen heraus zu zerstören. Bravo.«
Sein Blick wurde durchdringend und hart, wie auch seine Stimme. »Erklären Sie mir eines: Wie kann ein intelligenter Mann wie Sie so verblendet sein, dass er für eine korrupte Institution wie den Rat freiwillig sein seinen Ruf, seine Karriere und sogar sein Leben opfert?«
Reeves schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht das, wofür Sie mich halten.«
»Was sind Sie dann?«, fragte Crow gereizt. »Major des Ratsheeres, Ghostagent, Held von Johannesburg, Schlächter von London, Söldner für Blackhammer, flüchtiger Verräter oder eiskalter Attentäter? Welcher dieser Männer sind Sie?«
»Keiner davon.«
Crow stieß ein Lachen aus und musterte seinen Gast voller Verachtung. »Soll ich Ihnen sagen, was ich sehe? Eine Killermaschine. Eine technisch hochgezüchtete Monstrosität, die darauf programmiert wurde, mich und die Rebellion zu vernichten.«
Reeves schüttelte angespannt den Kopf. »Nein, Sie hören mir nicht zu.«
»Doch, ich habe Ihnen zugehört!«, widersprach Crow. »Nur ist meine Version der Geschichte weitaus glaubwürdiger als das Märchen, das Sie mir hier aufzutischen versuchen.«
»Sie wissen nicht, womit Sie es zu tun haben.«, entfuhr es Reeves.
Crow löste sich vom Tisch, machte einen Schritt auf seinen Gefangenen zu und zeigte auf ihn. »Nein, Sie wissen nicht, mit wem Sie es zu tun haben!« Crows verzerrte Stimme rollte wie Donner durch das Zimmer. Eine steile Falte puren Zorns zerfurchte seine Stirn. »Sie überschätzen Ihre Position. Ich kann Sie und Ihre Freunde auf der Stelle unter tosendem Applaus hinrichten lassen. Sie sollten sich besser fürchten!«
Reeves starrte ihn an, ein Blick ohne Angst, dafür voller unterdrückter Wut. »Ich fürchte mich auch! Denn ich war in Vevey und habe mit eigenen Augen gesehen, wozu diese Leute fähig sind. Ich bin das lebende Beispiel dafür. Welche Rolle Ihnen auch immer zugedacht ist, sie wird früher oder später enden und dann müssen Sie bereit sein.«
»Das reicht!«, schnitt ihm Crow das Wort ab. »Ich habe genug gehört.«
»Ich bin aber noch nicht fertig.«, schmetterte Reeves.
Crow sah ihn finster an. »Das glaube ich doch.«
»Überprüfen Sie meine Geschichte.«, beschwor ihn Reeves. »Vieles davon lässt sich beweisen. Ich flehe Sie an, um unser aller Zukunft willen!«
»Und Sie meinen, ich wäre so dumm, meine Zeit mit der Jagd nach gefälschten Beweisen zu verschwenden? Der Rat muss wirklich verzweifelt sein, wenn er glaubt, er könnte mich mit so billigen Tricks kriegen.«
Reeves sprang auf und ragte plötzlich vor Crow auf, das Gesicht vor Wut verzerrt. Hinter den metallischen Augen rauchte es schwarz und Crow spannte die Muskeln in Erwartung eines Angriffs an.
»Wollen Sie es also doch noch zu Ende bringen.« Er hielt dem gefräßigen Blick stand, ohne sich abzuwenden. »Jetzt, da Sie einsehen, dass Ihr Plan keine Chance hat.«
Reeves starrte Löcher in Crow. »Ich werde Terranis aufhalten, selbst wenn ich dafür den Anführer der FNO ausschalten muss.«
Crow sah in zwei graue Cyberaugen, die vor Entschlossenheit brannten. Für den Bruchteil eines Moments glaubte er Reeves.
»Versuchen Sie es.«, forderte Crow ihn heraus. »Die Handschellen wurden für Techs wie Sie geschaffen. Zerreißen Sie sie und ich werde zusehen, wie Sie vor meinen Augen gebraten werden.«
Reeves ließ die Zähne unter seinem drahtigen Bart aufblitzen und wich einen Schritt zurück. »Wir sind alle in Gefahr, solange wir diese Leute nicht aufhalten.«
»Danke, aber ich kann ganz gut auf mich selbst aufpassen.« Crow wandte sich ab. »Jasen, du kannst den Mann jetzt wegbringen.«
Vier Rebellen stürmten das Büro, von denen zwei Reeves an der Schulter packten. Er riss sich los und machte einen Schritt auf Crow zu. Sofort richteten sich Sturmgewehre auf seinen Kopf.
»Terranis wird Sie schon bald nicht mehr brauchen und dann werden Sie verschwinden, zusammen mit der FNO und all Ihren Wunschvorstellungen für eine bessere Welt. Ich kann Ihnen helfen, das zu verhindern.«
Crow fuhr herum. »Ich führe eine ganze Rebellion an.« Er deutete nach draußen, wo seine Leute mutig kämpften. »Ich habe Armeen und Sie wollen mir weismachen, ich bräuchte Ihre Hilfe? Einfach lächerlich!«
»Ihre Armee macht Sie angreifbar, macht Sie verwundbar. Jeder neue Anhänger stellt eine weitere potentielle Gefahr dar.«
»Und Sie wollen mich beschützen?«, fragte Crow amüsiert.
»Wenn es notwendig ist, um diese Leute aufzuhalten, dann ja.«
»Wie großzügig von Ihnen.«, sagte Crow, der allmählich die Geduld verlor. »Bringt ihn endlich raus hier.«
Die Männer zerrten an Devon, wollten ihn aus dem Raum schleifen, doch er bäumte sich auf. »Mit unserer Hilfe können Sie Ihre Rolle in diesem Spiel ändern.«
»Schafft ihn mir aus den Augen oder muss ich ihn selbst wegbringen?«
Die Männer schlugen Reeves mit ihren Waffen und zerrten ihn gemeinsam zum Ausgang des Büros.
»Ich war da.«, rief er. »In Johannesburg. Ich habe Sie mit diesem Riesen gesehen. Raten Sie, für wen er gearbeitet hat!«
Crow wandte sich um und stoppte seine Männer mit einem Handzeichen. »Was sagen Sie da?«
»Ich habe Ihr Gespräch belauscht.« Reeves spuckte Blut auf den Boden. »Der Mann trug den Codenamen Sod. Sie hatten eine Abmachung mit ihm. Er gehörte zu Terranis, war sogar einer ihrer Topagenten.«
»Schwachsinn!«
»Nein! Sie hätten es niemals ohne Unterstützung geschafft, diese Rebellion soweit zu bringen. Die benutzen Sie nur. Solange Sie funktionieren, werden Sie von denen unterstützt.«
Crow hielt inne und dachte an den Mann, der sich ihm nur als Sod vorgestellt hatte. Reeves hatte ihn auf dem Dach des Aria-Buildings getötet. Für einen Moment zweifelte er.
»Ich kann mir vorstellen, dass es nicht leicht für Sie war.«, sagte Reeves. »Sie mussten Leuten Versprechungen machen, die Sie eigentlich hassen, die Sie bekämpfen. Aber manchmal muss man Opfer bringen, um etwas zu erreichen. Doch was Sie nicht wussten, war, dass Sie sich mit dem Teufel verbündet haben.«
»Lächerlich!«, stieß Crow hervor. »Ich bin kein Werkzeug, ich wusste von Anfang an, dass die Unterstützung an Bedingungen geknüpft ist. Geldgierige Konzerne, die alles dafür tun, um an Einfluss und Ressourcen zu kommen. Ich habe sie benutzt, mir ihre Ressourcen zunutze gemacht.«
»Sie wissen nicht, mit wem Sie sich eingelassen haben.«
»Bringt ihn zurück!«, befahl Crow, ohne weiter auf ihn zu achten. »Es reicht mir mit ihm. Und bereitet alles für eine öffentliche Hinrichtung vor.«
»Nein, warten Sie!«, rief Reeves. »Es ist ein Agent in Ihren Reihen. Er steht Ihnen nahe.«
»Raus!«
Die Männer schleiften ihn mit Hilfe von Hieben und Tritten aus dem Büro.
»Zufälle, suchen Sie nach Zufällen.«, rief Reeves über die Flüche und Schläge der Rebellen hinweg. »Denken Sie zurück, wie Sie zu Crow geworden sind und wie Sie Ihre Rebellion aufgebaut haben. Jemand war immer da, jemand hat Ihnen geholfen, Sie die ganze Zeit über begleitet. Suchen Sie diesen Menschen und Sie finden die Wahrheit.«
Kapitel 3 (Gesamter Text)
3 – der Detective
Istanbul – Türkei
Crow saß im Bürostuhl und hatte die Stiefel auf dem Tisch gelegt. Er spielte gedankenverloren mit dem Kristallwürfel und dachte an das, was Reeves gesagt hatte. So sehr er sich auch dagegen sträubte, seine Worte hatten ihn verunsichert. Was, wenn er die Wahrheit sagte?
Vorsichtig tastete er sich den Gedanken entlang, an dessen Ende Adas Lächeln wartete.
Nein!
Crow zerbrach den Würfel zwischen seinen Fingern. Die Gesichter der fremden Kinder zerfielen zu Kristallsplittern. Er durfte sich nicht von diesem Mann beeinflussen lassen. Reeves war ein Agent des Rates. Genau das beabsichtigte er: ihn zu verunsichern.
Crow wollte die Zweifel verscheuchen, sie ersticken, doch sie hielten sich hartnäckig und infizierten weite Teile seines Bewusstseins. Er stocherte in den Resten des Kristallwürfels und dachte nach. Wenn er diese Leute sofort umbrachte, war jede weitere Gefahr einer Beeinflussung gebannt. Doch hatte Reeves Recht, nahm er sich damit die Chance, die Wahrheit zu erfahren.
Crow rief sich seine Stärken ins Bewusstsein. Er war nur so weit gekommen, weil er stets klug taktierte, weil er immer alle Möglichkeiten und Eventualitäten im Auge behielt. Durfte er sie außer Acht lassen, so unwahrscheinlich und unbequem sie auch erschien?
»Jasen!«, rief er plötzlich.
Ein dunkelhäutiger Kämpfer mit Kurzhaarschnitt und vernarbtem Gesicht betrat das Büro. »Ja, Crow?«
»Schafft mir den anderen Tech her, diesen Detective Walker.«
»Ich dachte, sie sollen hingerichtet werden.«
»Das ist noch nicht entschieden.«, entgegnete Crow. »Ich möchte zuvor noch ein paar Worte mit ihnen wechseln. Einzeln, versteht sich.«
Jasen nickte und verschwand. Fünf Minuten später wurde der Detective hereingeführt. Crows Männer schoben ihn bis zur Mitte des Raums, zwangen ihn dort auf die Knie und verließen dann das Büro.
»Danke, Jungs.«, rief ihnen Walker hinterher. »Und vergesst meinen Kaffee nicht, schwarz, mit einer Brise Zucker.«
Crow lehnte am Schreibtisch, betrachtete seinen zweiten Gast und wartete ab. Er sah ein Gesicht, das gezeichnet war von Verbitterung und zu vielen Jahren eines Kampfes, der nicht zu gewinnen war. Er kannte dieses Gesicht, hatte es einst selbst im Spiegel erblickt.
Auch Walker ließ sich nicht von seiner Anwesenheit beeindrucken. Im Gegenteil. Er gab sich gelassen und zeigte mehr Interesse an der Einrichtung als am Anführer der Rebellion.
Er erwiderte Crows Blick erst, als er sich umgesehen hatte. »Hübsches Büro haben Sie hier, gehört es Ihren Sponsoren oder haben Sie es sich einfach genommen, wie Sie das üblicherweise tun?«
»Halten Sie das hier für einen Witz?«, fragte Crow.
Walker zuckte mit den Schultern. »Der Service ist definitiv ein Witz. Kein warmes Wasser, keine frische Bettwäsche und das Frühstücksbuffet lässt auch zu wünschen übrig.«
Crow löste sich vom Schreibtisch, überwand die Distanz zwischen ihnen mit zwei schnellen Schritten und trat dem Mann dann gegen die Brust. Walker knallte stöhnend auf den Rücken.
Crow baute sich über ihm auf. »Halten Sie es jetzt immer noch für einen Witz?«
Walker stieß ein Geräusch zwischen Keuchen und Lachen aus. »Nein, entschuldigen Sie.« Er rollte sich zur Seite. »Ich wollte nicht respektlos erscheinen, aber den Kaffee habe ich schon vor etwa fünfzehn Minuten bestellt.«
Der nächste Tritt ließ Walker Blut spucken. Crow kniete sich zu ihm, packte ihn und zog ihn zu sich hoch. »Noch so ein Kommentar und ich lasse Ihre Freunde vor Ihren Augen hinrichten!« Seine Stimme wurde scharf wie eine Klinge »Mal sehen, ob Sie das dann auch noch immer so witzig finden.«
Die Aufmüpfigkeit erlosch schnell in den Cyberaugen des Detectives. »Schon gut, schon gut, Sie sind der Boss.«
»Kluger Mann.«, sagte Crow und ließ ihn los. Dann kehrte er an seinen Stehplatz vor dem Schreibtisch zurück. »Nun, da wir uns kennengelernt haben, kann ich doch sicher auf Ihre uneingeschränkte Mitarbeit zählen, nicht wahr?«
Walker kam wieder auf die Knie und spuckte Blut auf den glattpolierten Boden. »Stellen Sie schon Ihre verdammten Fragen.«
»Sie sind Detective Garreth Walker, ist das korrekt?«
»Ich war Detective Garreth Walker.«, korrigierte ihn Walker. »Was ich jetzt bin, weiß ich nicht mehr so genau. Mörder, Folterer, Dieb, Narr, suchen Sie sich etwas aus.«
Walker sprach mit tiefer Verbitterung, die Crow nur zu gut von sich selbst kannte. Das waren nicht die Worte eines überzeugten Mannes, der aus Leidenschaft kämpfte. Crow war gespannt, welche Rolle er in dieser Aufführung zu spielen hatte.
»Reeves war so freundlich, mir Ihre Geschichte zu erzählen. Allerdings habe ich noch so meine Probleme mit einigen Details.« Crow zeigte auf Walker und verschränkte dann die Arme vor der Brust. »In Ihrem Fall frage ich mich, wieso ein angesehener Detective der Londoner Polizei seine erfolgreiche Karriere und sein ganzes Leben hinwirft, nur um …«
Walker unterbrach Crow mit einem hervorgewürgten Lachen. »Ihre Leute haben schlecht recherchiert. Angesehener Detective bin ich schon seit Jahren keiner mehr.«
Crow spielte mit dem Gedanken, seinen zweiten Gast aus dem Fenster zu werfen. Obwohl ihm die Vorstellung gefiel, verzichtete er darauf. Er war neugierig, was der ehemalige Detective zu sagen hatte.
»Na gut, wie Sie wollen. Doch die Frage bleibt dieselbe.«, fuhr er ruhig fort. »Wieso werfen Sie Ihr Leben hin, um einen fremden Mann vor dem Urteil des Rats zu retten. Sie wussten doch, worauf Sie sich einlassen.«
»Wusste ich das?« Walker leckte sich Blut von den Lippen. »Damals dachte ich, es wäre das Richtige, dachte, es wäre eine gute Idee. Aber da wusste ich noch nicht, was wirklich los war.«
»Aber jetzt wissen Sie es?«
Walker stieß ein knappes, bellendes Lachen aus. »Ich weiß, dass eine gute Kameradin und Freundin gestorben ist, weil wir geglaubt haben, wir könnten gegen Mächte ankämpfen, die uns haushoch überlegen sind.«
»Sie sprechen von Lieutenant Anila Sethi.«
»Von wem denn sonst?« Walker seufzte und wich Crows Blick aus.
Diese ungefilterte Wut, diese Blicke und diese tiefe Frustration, die sich als Graben über seine Stirn zog, waren extrem überzeugend. Der Mann war ein ausgesprochen guter Schauspieler.
»Aber Sie wussten doch von den Plänen dieser Organisation.«
»Wir wussten gar nichts!«, entgegnete Walker. »Wir hatten bloß eine Ahnung davon, dass dieses Attentat geplant war, mehr nicht. Alles, was wir getan haben, ist einer Spur aus Brotkrumen zu folgen und zu hoffen, dass am Ende etwas dabei herauskommt.«
»Sie kennen die Ziele von Terranis also nicht?«
»Scheiße, keine Ahnung, die Weltherrschaft vielleicht.« Walker blitzte ihn an. »Aber vermutlich wissen Sie ohnehin mehr als ich, denn entweder gehören Sie zu diesen Leuten oder Sie sind deren Hampelmann.«
Crow hielt den Atem an. Er konnte sich nicht erinnern, wann jemand das letzte Mal derart respektlos mit ihm gesprochen hatte. Warum war es dem Rat so wichtig, dass er glaubte, es gäbe eine dritte Macht? Wollten sie ihm damit weismachen, dass nicht sie schuld am Elend der Menschheit waren, sondern ein ominöser Geheimbund? Crow wurde nicht schlau aus dem Verhalten des ehemaligen Detectives.
»Ich bin niemandes Hampelmann!«, stellte er richtig.
»Wir sind alle jemandes Hampelmann.«, brummte Walker. »Und wenn wir nur unseren eigenen Wunschvorstellungen, unterbewussten Bedürfnissen oder dummen Prinzipien folgen.«
»Wie mir scheint, haben Sie den Ernst Ihrer Lage noch immer nicht erkannt.«
»Und wie ich das habe.« Die kreisrunden Elemente in Walkers Augen rotierten wie wütende Sägeblätter. »Doch was macht es für einen Unterschied? Wir sind so oder so am Arsch!« Er senkte seine Stimme wieder. »Sie glauben uns unsere Geschichte niemals, egal wie viele Beweise oder Antworten wir Ihnen vorlegen. Sie werden uns vermutlich foltern und nachdem wir Ihnen keine besseren Antworten geben, knallen Ihre Leute uns ab und das war es dann, adios schöne Welt.«
Walker schien zusammenzuschrumpfen.
»Manchmal frage ich mich, ob ich damals im Wagen nicht doch gestorben und in der Hölle gelandet bin.« Er lachte bitter auf. »Vielleicht ist das ja die Strafe für meine Arroganz.«
Walker spielte seine Rolle so überzeugend, dass Crow ihm glauben wollte. Doch welche Rolle sollte das sein? Und wieso setzte der Rat einen ehemaligen Detective für ihre Pläne ein? Sollte er die Geschichte glaubhafter machen?
Crow verstand die Zusammenhänge noch nicht. Auch wenn er die Grundzüge des Plans zu durchschauen glaubte, machte er sich Sorgen, dass da noch mehr war, dass er etwas übersah.
»Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«, sagte er ruhiger als zuvor.
»Welche?«
»Wieso entscheidet sich ein Detective plötzlich gegen das Gesetz zu verstoßen? Das war kein einfaches Delikt. Das war Verrat am Rat und damit an der Welt. Sie wussten, dass Ihr Leben dadurch verwirkt war.«
»Mein Leben war bereits davor verwirkt.« Walker reagierte mit einer eiskalten Version des Zorns, die weitaus gefährlicher war als Geschrei und Brutalität. Crow konnte es von seinem Gesicht ablesen. Es war der Blick eines Mannes, der durch alle Kreise der Hölle gegangen war und überlebt hatte, doch nicht ohne Schaden dabei zu nehmen. »So einfach ist das. Ich hatte das Gefühl, das erste Mal seit Jahren wieder das Richtige zu tun, etwas Wichtiges, etwas mit Bedeutung. Ich kannte Devon noch nicht lange, aber ich sagte zu mir, diesem Mann musst du helfen. Also habe ich diesen Scheißhaufen von einem Leben hinter mir gelassen und meinen Arsch hochgekriegt.«
Walker grinste schief. »Wäre ich wohl besser darauf sitzen geblieben, was? Nicht, dass ich unseren netten Plausch hier nicht schätzen würde, aber so alles in allem bin ich mit der Gesamtsituation ein wenig unzufrieden.«
»Reeves hat erzählt, dass Sie bei Ihrer Schwester untergekommen sind, die nebenbei erwähnt selbst so etwas wie eine Verbrecherin ist und die, wie er es genannt hat, Probleme für eine reiche, zwielichtige Klientel löst. Wieso haben Sie sie nicht von Anfang an um ihre Hilfe gebeten.«
Walker Blick wandelte sich, als hätte ihm Crow Fotos von verstümmelten Kinderleichen gezeigt. Eine besondere Schärfe schlich sich in seine Stimme, als er sagte: »Hilfe von dieser Frau bringt den Tod.«
»Sie scheint viel Geld zu besitzen und auch Einfluss. Wieso also das späte Hilfegesuch bei ihr?«
»Weil ich sie hasse!« Walkers Reaktion war so heftig, dass Crow zurückzuckte. »Sie hat mich gegen meinen Willen zu einem verfluchten Cyborg gemacht, mich mein halbes Leben verarscht und uns am Ende auch noch verraten. Der einzige Grund, warum wir bei ihr abgestiegen sind, war, dass wir aus Kalkutta fliehen mussten und keine andere Wahl hatten. Das erste Mal in diesem Alptraum von einem Leben wollte ich nicht sterben. Reicht das, oder soll ich Ihnen auch noch den Rest des Rosthaufens ausschütten, der heute mein Herz ist?«
»Ich werde mich wohl mit Ihrer Schwester unterhalten müssen.«, sagte Crow.
Walker präsentierte ein bösartiges Lächeln. Die kreisförmigen Elemente in seinen Augen drehten sich schneller. »Nur zu, rufen Sie bei ihr an und fragen sie nach mir. Die Reaktion wird Ihnen gefallen.«
Crow gab sich gelangweilt, obwohl es in ihm rumorte. »Ich sollte Sie für Ihre Respektlosigkeit hinrichten.«
»Respekt?«, fragte Walker. »Wovor? Vor einem Mann, der sich hinter einer schwarzen Maske versteckt und dessen Rebellion bereits Millionen Leben auf dem Gewissen hat?« Walker zog die Mundwinkel nach unten. »Entweder sind Sie tatsächlich so naiv zu glauben, Sie hätten all das wirklich allein auf die Beine gestellt oder Sie gehören zu Terranis. Wenn letzteres der Fall ist, dann flehe ich Sie an, diese Farce endlich zu beenden. Denn wir wissen auch nicht mehr als das, was Ihnen unser furchtloser Anführer erzählt hat.«
Crow ballte die Hände zu Fäusten und rief sich Adas Worte ins Gedächtnis. Worte, die ihn stets beruhigt und den ungezügelten Zorn in seinem Inneren gebändigt hatten. Sie hatte ihn damals gerettet. Nicht nur vor dem Tod, sondern auch vor seinem alten Ich. Ohne diese Frau gäbe es keinen Crow, keine FNO, keine Rebellion. Er musste sich beherrschen.
Er wandte sich wortlos ab, lehnte sich an den Schreibtisch und sah zum Fenster hinaus. »Schafft ihn mir aus den Augen und bringt mir Nor!«
Seine Leute betraten das Büro und brachten Walker fort.
Crow stellte sich an die Fensterfront und schaute in die Ferne. Draußen dämmerte der Abend und die Sonne schickte sich an, hinter den Türmen der brennenden Stadt unterzutauchen. Rauchsäulen schraubten sich wie Tornados in den glühenden Abendhimmel.
Zweifel nagten an Crow. Wieder und wieder ging er die Ereignisse im Hotel Rumeli gedanklich durch. Die Explosion, gefolgt von den Kämpfen und dann die Verfolgung von Reeves. Er hatte gesehen, wie er geflohen war und seine Leute beschützt hatte. Wie passte das ins Schema? Er fragte sich, ob die Ereignisse im Hotel Rumeli wirklich vom Rat inszeniert worden waren.
Je länger er darüber nachdachte, desto weniger Sinn ergab alles. Die Grenzen von Freund und Feind verschwammen vor seinem inneren Auge und er ertappte sich dabei, wie er die unterschiedlichsten Szenarien durchspielte.
Crow schlug gegen die Scheibe. Ein Netz aus Rissen bildete sich um seine Faust. Er hatte zugelassen, dass sein Geist infiziert wurde und das machte ihn rasend. Er hämmerte gegen das Fenster und die Risse wuchsen, breiteten sich aus wie Spinnweben. Als er gerade wieder zum Schlag ausholen wollte, hielt er inne.
In einer Spiegelung im Glas erkannte Crow sein eigenes Gesicht und die Maske, die ihn am Leben erhielt. Die Erinnerungen an die Explosion waren ständige Begleiter wie der Schmerz. Alles für die gute Sache, alles im Namen des Rats.
In ihm stieg eine alte Verbitterung hoch, die wie Säure jahrelang seinen Geist zerfressen hatte. Er schloss die Augen und kämpfte dagegen an, rief sich Adas Worte ins Gedächtnis und wiederholte sie wie ein Mantra. Nein, er würde nicht zulassen, wieder Sklave dieses chemischen Feuers zu sein. Er musste klar sehen und jede Möglichkeit in Betracht ziehen.
Kapitel 4 (Gesamter Text)
4 – der Agent
Istanbul – Türkei
Crow wandte sich um, als seine Leute den letzten männlichen Gefangenen vor ihm auf den Boden warfen. Vor ihm kniete ein hochgewachsener, schlanker Mann mit Augen grau wie Eis, umgeben von einer unheimlichen Aura.
Crow und lehnte sich gegen das Fenster. »Sie sind dann wohl Nor.«
»Ja.«
Crow zog die Augenbrauen hoch. »Mehr ist da nicht?«
»Wenn Sie auf meinen Nachnamen anspielen, dann nein. Nor ist der Codename, der mir von Terranis gegeben wurde. Einen anderen habe ich nie bekommen.«
»Natürlich.«, sagte Crow. »Sie waren also Agent dieser Geheimorganisation?«
»Ja.«
»Von ihr wurden Sie geschaffen, ein Opti, genetisch bis an die Grenzen optimiert, habe ich das richtig verstanden?«
»Das stimmt.«
Crow hob die Augenbrauen. »Dann beweisen Sie mir doch einmal Ihre genetische Überlegenheit.«
Crow verfolgte ungläubig, wie Nor, der von durchschnittlicher Statur war, seine Muskeln anspannte. Wenige Sekunden später gaben die Ketten mit einem Klirren nach. Die anwesenden Rebellen machten einen Schritt zurück und richteten die Waffen auf den Opti. Doch der riss sich die Handschellen seelenruhig von den Handgelenken und verbog sie, als bestünden sie aus Plastik. Er ließ die Metallreste demonstrativ vor Crow auf den Boden poltern und streckte dann langsam die Arme nach beiden Seiten aus, ohne den Blick vom Rebellenführer zu nehmen.
»Beweis genug?«
Crow war fassungslos. Als er in den stechenden Blick seines dritten Gastes starrte, krallten sich eisige Finger in seinen Rücken. Er hatte schon von extremen genetischen Anpassungen gehört, doch so etwas war undenkbar. Die Scans hatten keinerlei Techs bei dem Mann entdeckt, weswegen er bei ihm auch auf die schweren Techfesseln verzichtet hatte.
»Das ist unmöglich.«, entkam es ihm.
»Unmöglich ist nur ein Begriff für etwas, das bisher noch nicht gelungen ist.«, entgegnete Nor. »Ich bin der lebende Beweis, dass es möglich ist.«
»Was zum Teufel sind Sie?«
»Eine Waffe.«
Crows Blick verfinsterte sich. »Eine Waffe, um mich zu töten?«
»Ich habe keinerlei Interesse an Ihnen.«, erklärte Nor tonlos. »Sie sind für mich bedeutungslos.«
Crow sah seine Leute an und zeigte zur Tür. »Raus!«
Sie zögerten.
»Worauf wartet ihr noch?«
Die Rebellen unter der Führung von Jasen zogen sich aus dem Büro zurück und verschlossen die Tür hinter sich.
Nor kam auf die Beine. »Das war nicht klug.«
»Beweisen Sie mir, dass Sie nicht nach meinem Leben trachten.«
»Ich könnte Sie als Geisel nehmen.«, konterte Nor.
Crow hielt ihm die Hände offen hin, damit er die Handflächen sehen konnte und schloss sie dann zu Fäusten. »Ich lasse es darauf ankommen.«
Nor schwieg und sah ihn an. Crow hatte das Gefühl, der Opti würde ihn mit seinem Blick aufbrechen und alle Geheimnisse aus seinem Inneren zu Tage fördern.
Crow verschränkte die Arme wie eine Mauer vor der Brust und hob das Kinn. »Wieso haben Sie Terranis verraten?«
»Ich wollte nicht länger Handlanger sein.«, die Antwort erfolgte ohne Zeitverzögerung, als hätte Nor die Frage bereits erwartet. »Ich wusste, wir waren nur Werkzeuge und noch dazu entbehrliche. Ich konnte dem Boss nicht vertrauen und die einzige Möglichkeit, die Leben meines Teams zu retten, war ihn zu vernichten.«
»Aber Ihr Aufstand ist fehlgeschlagen. Ihr gesamtes Team wurde dabei ausgelöscht, nur Sie nicht. Seltsamer Zufall.«
»Das hat nichts mit Zufall zu tun.«, sagte Nor mit einer Stimme, der außer Hass jegliche Emotion fehlte. »Wir wurden von einem meiner alten Kameraden verraten, Pax. Er wollte mich dafür leiden lassen und hat mich weggesperrt.«
»In einem Gefängnis in der Antarktis, wo Sie schließlich von Reeves und den anderen befreit wurden.«
»Ja.«
»Und seitdem helfen Sie dem Team?«
»Sie irren sich.«, sagte Nor. »Wir benutzen einander, da wir zufällig dasselbe Ziel verfolgen. Diese Personen haben sich zu meinem Erstaunen als äußerst nützlich und widerstandsfähig erwiesen.«
Crow sah ihn schief an. »Sie klingen, als wären Ihnen ihre Kameraden egal.«
»Ihr Wohlbefinden ist für mich nur soweit von Interesse, als sie meinen Plänen nützlich sind. Darüber hinaus verspüre ich keine Verbindung zu ihnen. Sie sind für mich Mittel zum Zweck.«
In diesem Moment schaltete Crow und erkannte die Rolle dieses Mannes. Der Plan des Rates rollte sich vor ihm auf wie ein roter Teppich, an dessen Ende die Wahrheit stand.
Nor war das Bauernopfer. Er sollte sich als Verräter zu erkennen geben und ein verlockendes Angebot unterbreiten. Am Ende würde sich herausstellen, dass er als Doppelagent für Terranis arbeitete und Crow töten wollte. Und wenn der Rest des Teams dies zu verhindern versuchte, würden sie als seine Verbündeten auftreten. Er würde ihnen glauben und sie dann zu seinen Vertrauten machen.
Crow lachte innerlich. Hatte der Rat dem armen Schwein doch tatsächlich seiner Emotionen beraubt, nur um ihn in diesem traurigen Verwirrspiel als Schachfigur zu opfern. Er war beeindruckt von der Komplexität des Plans, den der Rat für ihn geschaffen hatte und fühlte sich geehrt. Doch wenn sie glaubten, ihn damit vernichten zu können, täuschten sie sich. Er entschied dennoch, das Spiel mitzuspielen und zu sehen, wohin das alles führte. Womöglich konnte er diese Leute für seine Zwecke einsetzen.
»Wenn ich jetzt alle Ihre Kameraden hier vor Ihren Augen hinrichten lassen würde, wäre Ihnen das also vollkommen egal?«
»Es wäre eine bedauerliche Verschwendung nützlicher Ressourcen.«
»Na gut, dann habe ich einen Vorschlag für Sie.«, sagte Crow und feierte innerlich bereits seinen Sieg. »Ich glaube, dass mir Ihre Freunde nicht die ganze Wahrheit sagen. Mir scheint, sie würden alles sagen, um sich gegenseitig zu schützen. Bei Ihnen ist das offenbar anders. Ich werde Sie laufen lassen, wenn Sie meine Fragen wahrheitsgemäß beantworten.«
»Nein, das werden Sie nicht.«
»Natürlich nur, wenn ich Ihre Informationen verifiziert habe und Sie brauchbar für mich sind.«
»Sie werden weder mir noch meinen Freunden glauben.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Weil Sie in Ihrer Situation keinem von uns glauben können. Alles andere wäre unvernünftig. Ohne Beweise ist jede Geschichte nur genau das: eine Geschichte. Sie befragen uns alle der Reihe nach, vielleicht foltern Sie uns auch. Am Ende werden Sie dieselben Informationen haben. Also werden Sie versuchen, sie zu verifizieren. Einige werden scheinbar stimmen, andere können Sie jedoch nicht überprüfen. Am Ende werden Sie immer glauben, dass es eine Täuschung ist, klug aufgebaut und mit allen Mitteln durchgeführt.«
Dieser Schachzug verwirrte Crow. Hätte Nor nicht auf den Vorschlag eingehen müssen? Welches Detail hatte er übersehen? Was war der Plan? Er ging im Kopf alle Möglichkeiten durch, als würde er hundert Züge in einem Schachspiel planen, kam aber zu keinem Ergebnis.
»Eine interessante Schlussfolgerung.«, sagte Crow mit gespielter Ruhe.
»Eine schlichte Beobachtung, basierend auf logischen Überlegungen.«
Nors längliches Gesicht war in eine eisige Starre gehüllt, in dem ein stechend kalter Blick saß. Die Augen lagen wie Eissplitter in finsteren Höhlen. Der Mann strahlte eine Gefahr aus, die anders war als jene von Reeves oder Walker. Sie war weniger fassbar, kalt und unmenschlich.
»Sie machen mich neugierig, was haben Sie noch beobachtet?«
»Sie sind Amerikaner.«, sagte Nor. »Auch wenn Sie es zu verbergen versuchen. Ich vermute aus dem Süden. Nach Ihrem Gespräch mit der Frau gehe ich davon aus, dass Sie seit einigen Jahren ein Paar sind, es aber so weit als möglich geheimhalten. Ihre taktischen Entscheidungen, Ihre Führung der Rebellion sowie Ihr Verhalten deuten auf Exmilitär hin. Ich vermute Ratsheer, mindestens im Rang eines Majors.«
Nor hielt inne und zerlegte Crow mit seinem Blick. »Ihre Art zu kämpfen deutet jedoch auf eine weitaus intensivere Ausbildung hin. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, Sie waren selbst einmal Ghost. Ich gehe davon aus, dass ein einschneidendes Ereignis Sie umgedreht hat. Vermutlich wurden Sie fallen gelassen. Das würde auch Ihren offenkundigen Hass gegen den Rat erklären, der weit über die Grenzen von Frustration über das bestehende System hinausgeht.«
Crow musste sich zurückhalten, um seine Überraschung nicht herauszuschreien. Hatte der Rat bereits so viel über ihn herausgefunden? Wenn sie von all dem Kenntnis hatten, war ihnen auch sein wirklicher Name längst bekannt. Das wiederum bedeutete, dass sie über sein psychologisches Profil verfügten und genau wussten, wie sie ihn manipulieren konnten. Er musste Nors Rolle in dem Spiel überdenken und die gesamte Situation neu einschätzen.
»Interessante Vermutungen.«, entgegnete er, um einen gleichgültigen Ton bemüht. »Und das alles wollen Sie wie genau herausgefunden haben?«
»Durch Beobachtung, gepaart mit Informationen über Ihre Person.«
»Sie scheinen viel über mich zu wissen.«
»Reine Deduktion.«, entgegnete Nor. »Es sind oft die Kleinigkeiten, derer sich die Menschen nicht bewusst sind, die das schärfste Bild zeichnen. Sie sprechen lauter als Worte oder große Gesten.«
Crow ertappte sich dabei, wie er unruhig von einem Bein auf das andere wechselte und Nor schief ansah. Sofort hielt er inne. Er hatte sich immer für undurchschaubar gehalten, doch entweder verfügte Nor über eine übermenschliche Auffassungsgabe oder der Rat hatte seine wahre Identität inzwischen aufgedeckt.
»Und diese Beobachtungen sagen Ihnen, dass ich Ihnen nicht glauben werde.«
»Korrekt. Sie werden auch weiterhin annehmen, dass wir Agenten des Rats sind, die Ihre Rebellion infiltrieren wollen. Eine logische Annahme, wenn man von der unwahrscheinlichen Chance ausgeht, die Sie hatten, aus dem Hotel Rumeli zu fliehen. Sie gehen davon aus, dass der Rat Sie ziehen hat lassen.«
Von allen drei Gefangenen bisher war Nor der Geheimnisvollste. Sein Verhalten verwirrte Crow in hohem Maße.
»Erzählen Sie mir doch von Terranis und ihren Plänen.«, sagte Crow.
»Ihre Pläne sind mir nicht bekannt, da ich dreißig Jahre eingesperrt war. Aber Terranis verfolgte schon immer seine eigenen Interessen. Das Tribunal ist nur eine Marionette für den Boss, genauso wie Sie und Ihre Rebellion.«
Das hasste Crow am meisten. Sie beraubten ihn seiner Siege und werteten die Rebellion ab, indem sie einen Teil des Erfolgs auf Terranis schoben.
»Ich bin keine Marionette!«, stieß Crow hervor. »Konzerne bezahlen mich, weil sie mich und meine Rebellion fürchten. Sie wollen meine Gunst, weil sie genau wissen, dass ich gewinnen werde. Sie setzen einfach nur auf das richtige Pferd.«
»Ihre aggressive Reaktion lässt auf Unsicherheit schließen und einen ausgeprägten Hass auf den Rat und die vorherrschende Klasse. Ich nehme an, es war eine Form von Verrat, der zu diesem Hass geführt hat, weswegen Terranis auch Sie ausgewählt und gefördert hat.«
»Ich soll ausgewählt worden sein?«
»Sehr wahrscheinlich.«, sagte Nor. »Ich habe lange Zeit für Terranis gearbeitet und kenne ihre Methodik. Zunächst wird der Zweck bestimmt, danach potentielle Ziele ausgewählt, anschließend werden psychologische Profile erstellt. Entspricht eine Person den Parametern, wird sie über einen langen Zeitraum beeinflusst und schließlich zu der Rolle geführt, die ihr zugedacht ist.«
Crow konnte sich kaum noch halten. Er hatte Mühe, die alte Wut in sich zurück zu kämpfen. »Das ist doch lächerlich.«
»Im Gegenteil. Das Gesetz der Wahrscheinlichkeit lässt nur diesen Schluss zu. Eine Rebellion dieser Größenordnung hätte nie ohne entsprechenden Katalysator und ausreichend Treibstoff entstehen können. Ich gehe davon aus, dass Terranis eine Kette aus Ereignissen in Ihrem Leben losgetreten hat, die schließlich in Ihrer Verwandlung zu Crow gipfelten. Wir nannten dies bei Terranis eine Psychobombe.«
Crow ertrug die herabwürdigenden Worte und diesen bohrenden Blick nicht länger. Sein Geduldsfaden riss mit einem lauten Knall. Er sprang vom Stuhl auf und knallte die Hände auf den Tisch. »Ich allein habe diese Rebellion soweit gebracht, niemand sonst!«
»Sie belügen sich selbst. Ihre Worte gelten nicht mir, sondern Ihrem Unterbewusstsein. Die Selbsttäuschung ist bei den meisten Menschen sehr ausgeprägt.«
Crow setzt über den Tisch hinweg und war mit einem Satz bei Nor. Er schlug dem Opti seine unterdrückte Wut ins Gesicht. Zu seiner Überraschung hatte der Hieb jedoch nicht den gewünschten Effekt. Statt umzukippen gab Nor nur ein wenig nach und richtete sich dann mit einem blutenden Cut wieder auf.
»Ich lasse mich nicht länger von Ihnen oder Ihren Freunden erniedrigen!«, grollte Crow.
Nors Augen ließen keine Sekunde von Crow ab. »Ihre Wut ist unangebracht. Die Tatsache, dass Sie von Terranis benutzt wurden, steht außer Zweifel, Sie können sich jedoch von ihrem Griff befreien und wirklich etwas verändern. Doch dafür müssen Sie die Verräter in Ihren Reihen finden und ausschalten.«
Crow wollte noch einmal zuschlagen, doch sein Gast setzte seine Ansprache fort, als wüsste er nicht um die Konsequenzen.
»Wir wissen, dass sich ein Agent von Terranis von Beginn an in Ihrer Nähe aufhält. Terranis plant langfristig.« Nor achtete nicht auf die Blutspur, die sich auf seiner Wange bildete. »Agenten von Terranis suchen die Nähe zu ihren Zielpersonen und übernehmen in der Regel die Rolle von Mentoren, Liebhabern oder anderen Vertrauten. Unseren Informationen zufolge handelt es sich in Ihrem Fall höchstwahrscheinlich um eine Frau. Adas Reaktion vor, bei und nach unserer Gefangennahme lässt nur einen logischen Schluss zu: sie ist die Agentin.«
Das Bild von Ada verfestigte sich vor Crows innerem Auge.
Ada eine Verräterin? Niemals!
Das war zu viel. In Crow kam es zu einer Explosion, die seine Venen mit chemischer Wut flutete. Er prügelte auf Nor ein, immer und immer wieder, doch der starrte ihn nur an, selbst als Blut spritzte und Knochen brachen. Crow konnte Nor keinen einzigen Schmerzlaut entlocken. Und ständig dieser grauenhafte Blick.
Crow taumelte zurück und starrte entsetzt auf den Mann zu seinen Füßen, dessen Gesicht einem blutigen Trümmerfeld glich. Die eisgrauen Augen schienen inmitten all des Blutes vor Kälte zu rauchen. Crow hatte das Gefühl, Nor hieße den Schmerz willkommen wie einen alten Freund.
Als die Welle aus Zorn sich an dieser Beobachtung brach, rief er: »Jasen! Schafft ihn weg und bringt mir die letzte Gefangene!«
Er wandte sich ab, denn er konnte den Blick dieses Mannes nicht länger ertragen. Wenigstens verstand er jetzt das volle Ausmaß des Plans. Nor war der Verräter und sollte dafür sorgen, dass er an seinen eigenen Leuten zweifelte. Und wenn er überall nur noch Verrat sah, musste er sich hilfesuchend an das Team wenden. Doch das würde nicht geschehen.
Crow fühlte sich durch dieses Manöver in seiner Intelligenz beleidigt. Aber vielleicht war es genau das. Vielleicht wollten sie ihn auch nur irreführen und zu Fehlentscheidungen drängen. Das Problem war, es gelang ihnen. Das beunruhigte ihn.
Er erwartete einen Angriff aus dem Hinterhalt, etwas, das am Rande seiner Wahrnehmung geschah, während er mit dem Team beschäftigt war. Crow versuchte die Taktik zu durchschauen, die nächsten Schritte seines Gegners vorherzusehen, aber es gelang ihm nicht.
Auf dem Schlachtfeld war er dem Rat stets einen Schritt voraus. Das Heer war träge geworden, geschwächt durch interne Machtkämpfe und Jahre voller unbedeutender Geplänkel. Der Rat hatte sich zu lange in Sicherheit gewiegt, versteckt hinter seiner politischen Macht und der Gewissheit, dass das Food for All-Programm viele Menschen daran hinderte, zu rebellieren, denn wer nicht hungerte, war weniger bereit, aufzubegehren. Doch jetzt sah er sich einem ausgewachsenen Krieg gegenüber. Und ein Mann war es, der sie Schlacht für Schlacht besiegte. War es da nicht logisch, dass sie mit unorthodoxen Methoden gegen ihn vorgingen?